Berlin (kobinet) Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland (ABiD) hat enge Beziehungen zum Partnerverband in Belarus. Über die Lage in diesem Land, wo nach den Wahlen die Polizei gegen Proteste der Bevölkerung vorgeht, äußert sich heute besorgt ABiD-Ehrenpräsident Dr. Ilja Seifert im kobinet-Interview.
kobinet: Du hast in den vergangenen Jahren viele Kontakte nach Belarus knüpfen können. Wie beurteilst du die Situation nach den Wahlen in diesem Land?
Seifert: Herr Lukaschenko ist offenbar der Ansicht, dass das Land ohne ihn unterginge. Dieser Irrtum beruht vermutlich auf einem Staatsverständnis, das auf einer starken, dynastischen Herrschaft basiert. Meine Kenntnis vor Ort liegt schon einige Zeit zurück. Aber ich weiß, dass viele Menschen in Belarus sich weniger Gängelei wünschen. Inzwischen schlug sie ja sogar in offene Unterdrückung jedweder nicht-konformen Bewegung um. Das kann nicht (mehr) lange funktionieren.
kobinet: Hast du aktuelle Einschätzungen von behinderten Menschen in Belarus?
Seifert: Zwei Tage vor der Wahl konferierte ich per Video u.a. mit dem Vorsitzenden des Belarussischen Behindertenverbandes. Er bestätigte, dass unter Menschen mit Behinderungen die Angst vor Ansteckung grassiert. Da in Belarus die Pandemie-Gefahr vom Präsidenten kleingeredet bzw. ignoriert wurde, hielten sich viele Betroffene besonders streng an selbstauferlegte Quarantäne-Regeln. So verschwanden sie noch mehr aus der öffentlichen Wahrnehmung. Es gibt auch – wie in Deutschland – kein speziell auf Menschen mit Behinderungen zugeschnittenes Förderprogramm.
kobinet: Wie positioniert sich die Behindertenbewegung in Belarus, zu der ABiD enge Beziehungen enwickelt hat?
Seifert: Unsere Freunde und ABiD-Partner sind weitgehend gelähmt. Der Verband verharrt überwiegend im Home-Office. Nur wenige Einzelne versuchen nach wie vor, öffentliche Aufmerksamkeit auf die speziellen Teilhabe-Bedürfnisse zu lenken. Sie haben leider – auch hier sehe ich durchaus Parallelen zu Situation in Deutschland – nur mäßigen Erfolg. Alles andere – insbesondere die Wirtschaft – scheint wesentlich wichtiger zu sein. Unabhängig davon vereinbarten wir aber, unseren Erfahrungsaustausch – wenn nicht anders möglich, eben per Video-Konferenzen – regelmäßig fortzusetzen.