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Reifeprüfung für Inklusion durch Corona

Christian Judith
Christian Judith
Foto: privat

Hamburg (kobinet) "Inklusion erlebt ihre Reifeprüfung durch Corona - und es sieht gerade so aus, als würde sie durchfallen.“ Diese Befürchtung hat der langjährige Aktivist der Behindertenbewegung Christian Judith angesichts der aktuellen Entwicklungen. In einem Interview mit den kobinet-nachrichten geht er auf viele Fragen ein, die behinderte Menschen momentan beschäftigen.

Christian Judith ist Diplom Sozialpädagoge und Diplom Sozialarbeiter. Er lebt in Schleswig-Holstein und arbeitet seit über 20 Jahren in der Behindertenbewegung, ist im bioethischen Arbeitskreis der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) und hat 2004 die Firma K Produktion mit den Geschäftsfeldern „inklusiv tanzen“, „behindertenpolitisch fortbilden“, „barrierefrei veranstalten“ und „übersetzen in Leichte Sprache“ gegründet. Er ist Unterstützer verschiedener Werkstatträte und Wohnbeiräte. Als Nachlese zum 5. Mai, dem Protesttag für Menschen mit Behinderungen, äußert sich Christian Judith im Interview zu Veränderungen in der Inklusionsdebatte durch die Corona Pandemie.

kobinet-nachrichten: In der Diskussion in Zeiten von Corona über „wie verändert sich Gesellschaft“ kommen Menschen mit Behinderung eher am Rande vor und wenn sie vorkommen, dann doch eher als betreuungswerte Wesen ohne viel Selbstbestimmung. Ist die UN-Behindertenrechtskonvention nur etwas für gute Zeiten?

Christian Judith: Wir erleben gerade, dass das was wir an Fortschritten erlebt haben durch die UN-Behindertenrechtskonvention, das Bundesgleichstellungsgesetz und weitere Gesetze, sich wieder auflöst, und das vor dem Hintergrund, dass Personen wieder als „schützenswert“ definiert werden. Wir sehen dies in der Diskussion über Einrichtungen, in der viele Menschen mit Behinderung leben, die dort natürlich aufgrund der Verhältnisse sich schnell infizieren können – und somit tatsächlich schützenswert sind. Aber das greift viel zu kurz. Die Wahrheit ist ja, dass die Wohnverhältnisse an sich unnormal sind, häufig viele Menschen auf kleinem Raum leben. Wir hätten diese Diskussion nicht, wenn inklusives Wohnen als Thema schon weiter vorangetrieben worden wäre. Die jetzigen Verhältnisse zwingen uns also dazu, dem Schutz wieder Vorrang einzuräumen. Inklusive Wohnformen hätten auch eine Individualisierung des Risikos zur Folge, wie bei allen, die keine Behinderung haben. Eine freie Entscheidung, ob ich jemanden einladen und in meine Wohnung lassen möchte. Die Wohnverhältnisse in Gruppen führen aber automatisch zu einer Form von „Sippenhaft“.

Es waren übrigens nicht die Menschen mit Behinderung, die nach Ischgl geflogen sind, dort Skiurlaub gemacht haben und das Virus eingeschleppt haben, sondern die nicht behinderten Menschen. Die Opfer sind also nicht diejenigen, die die Pandemie ausgelöst haben.

kobinet-nachrichten: Nehmen Sie Stimmen von Menschen mit Behinderung, die sonst als Aktivist*innen bekannt sind, in der jetzigen Zeit wahr? Schafft es das Thema „Behinderung und Corona“ in die Mainstream-Medien?

Christian Judith: Wenn Behinderung als Thema vorkommt, dann geht es eher um die „Heldinnen und Helden“, die zu diesen Zeiten in der Assistenz arbeiten. Wir hätten jetzt normalerweise am 5. Mai den Protesttag der Menschen mit Behinderung erlebt. Klar gibt es Online-Foren und Webinare, in denen Austausch stattfindet. Ich muss allerdings feststellen, dass der gesamte Diskurs über Behinderung im Moment nur unter dem Begriff „Risikogruppe“ stattfindet und es kaum partnerschaftliches Begegnen auf der vielbeschworenen Augenhöhe gibt.

Wir reden jetzt über die Lockerung des Shutdowns. Wo fangen wir also an zu lockern? Ich denke aus Reden folgt tatsächlich auch Handeln. Das Thema der Risikogruppe ist ein gutes Beispiel dafür: Ist erst einmal eine Risikogruppe verbal definiert, wird diese jetzt auch am wenigsten bei Lockerungen berücksichtigt.

kobinet-nachrichten: Die Pandemie hat gezeigt, dass wir in Krisenzeiten sehr schnell wieder mit den alten Wörtern hantieren: da wird auf einmal wieder betreut, wo vorher assistiert wurde. Da leiden Menschen wieder unter ihren Behinderungen anstatt als behinderte Menschen selbstbestimmt zu leben. Woher kommt dieser Reflex?

Christian Judith: Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass wir zwar gelernt haben, uns politisch korrekt auszudrücken, viel davon aber tatsächlich Fassade ist. Begrifflichkeiten wurden neu definiert, aber wenn wir in eine Krise kommen, rutschen wir in eine Terminologie zurück, die zeigt, dass sich unsere Geisteshaltung nicht geändert hat. Es entscheiden die, die immer entschieden haben.

kobinet-nachrichten: Behinderung wird durch die Empfehlungen der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) vermeidlich zur berechenbaren Größe, zu einem Grad der Gebrechlichkeit. Chronische Erkrankungen führen per se zu schlechten Karten, wenn es darum geht, zu entscheiden, wer Intensivmedizinische Behandlung bekommt. Körperliche Funktionalität wird zum Gradmesser des Lebenswertes. Das führt zu einer strukturellen Benachteiligung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen und alten Menschen. Allein, weil ich Assistenz benötige, habe ich eine schlechtere Chance, Intensivbehandlung zu bekommen. Diese Maßstäbe führen zu einer strukturellen Benachteiligung, ohne diese zu benennen, oder?

Christian Judith: Besonders deutlich und tragisch in ihren Auswirkungen werden die Wirkmächtigkeit der alten Strukturen und Denkweisen bei den Empfehlungen der DIVI. Die Organisation hat eine Empfehlung herausgegeben für die sogenannte Triage. Diese Empfehlungen sollen Ärztinnen und Ärzte dabei unterstützen, zu entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht, wenn beispielsweise nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen, um alle gleichzeitig zu behandeln, die eines benötigen. In den Empfehlungen werden Menschen beschrieben, die angeblich eine geringere Lebenserwartung haben und in der Folge „aussortiert“ werden. Menschen mit Assistenzbedarf erhalten daher von vorneherein eine schlechtere „Bewertung“. Es sollen Leute bevorzugt behandelt werden, die eine bessere Genesungsrate haben. Das ist katastrophal, es rüttelt an den Lebensberechtigungen von Menschen mit Behinderungen. Freunde von mir, die aufgrund ihrer Behinderung jetzt schon eine Beatmung bekommen, fragen sich zu Recht voller Angst, was denn passiert, wenn sie Corona bekommen. Behinderung und chronische Erkrankungen werden in dieser Empfehlung zu Kategorien, die das Leben von Menschen bewerten – und es im Extremfall opfern.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie auf Ihre Lebensgeschichte schauen. Ich kenne Sie als sehr facettenreichen Menschen, der nun wieder droht auf seine Behinderung reduziert zu werden. Was macht das Ihnen?

Christian Judith: Meine Behinderung ist quasi der Schlüssel meines Seins. Ich finde sie toll! Sie hat mich zum Tänzer gemacht, zum Vortragsreisenden, zum Geschäftsmann und Inklusionsaktivisten. Die Kategorie Behinderung ist für mich also nicht das Schlimme. Das Schlimme ist, dass hinter der Kategorie Behinderung jetzt wieder etwas Negatives steht. Die damit verbundene Abwertung des Lebenswertes und dass dies gesellschaftlich jetzt sozusagen wieder gedacht und formuliert wird. Jetzt bin ich auf einmal nicht mehr Christian Judith, wenn ich über die Straße rolle, der Tänzer, Ehemann, Aktivist und vieles mehr, sondern die Risikogruppe. Durch diese Bewertung passiert etwas bei meinem Gegenüber in der nonverbalen Interaktion. Dadurch, dass Menschen kategorisch als Risikogruppe abgestempelt werden, kommen ganz automatisch Gedanken auf, wie: „Die müssten doch eigentlich im Heim sein”, „man muss auf sie aufpassen“, „warum bewegen die sich eigentlich frei herum, die sind doch so zerbrechlich“, „die sind doch auf Hilfe angewiesen, das kostet doch auch alles Geld“. Das schlägt dir im Moment alles entgegen. Du wirst wieder anders angeschaut. Und dieses anders angeschaut werden hat zwei Dimensionen: Wenn ich denke, die Leute schauen mich an, dann gucke ich sie anders an und ein Kreislauf entsteht. Der sieht wie folgt für mich aus: Mein Leben wird öffentlich als weniger Wert beschrieben, ich denke, der Mensch, der mich gerade anschaut, denkt das oder könnte das denken und schon sind wir in einer unguten Interaktion. Mir fallen die Gesichtszüge nach unten, das lässt dem anderen die Gesichtszüge nach unten fallen. Wir sind wieder dort, wo wir vor 50 Jahren waren.

kobinet-nachrichten: Wenn wir einmal damit anfangen, Leben unterschiedlichen Wert beizumessen, wird damit die Büchse der Pandora geöffnet?

Christian Judith: Ja klar, es wird ganz lange dauern, dass Menschenrechtsbewusstsein der UN-Behindertenrechtskonvention wieder zu verankern beziehungsweise es wieder neu zum Leben zu erwecken. Ich glaube, dass die Diskussion von der DIVI, der von der deutschen Ethikkommission auch nicht wirklich widersprochen wurde, zu so einer negativen Abkehr maßgeblich beiträgt. Mein Glaube an die Grundfesten, an denen nicht mehr gerüttelt wurde, ist erschüttert. Das hat Folgen, wenn es in Zukunft darum geht, zum Beispiel zu sagen, dass ich einen Assistenten brauche oder zwei oder drei – im Gegenwert eines Kleinwagens pro Monat. Hier wird sich die Gesellschaft wieder fragen, ob wir uns das wirklich leisten wollen. Im Moment wird massiv Geld ausgegeben, die Frage wird aber sein: Wo fangen wir dies wieder ein? Jetzt können wir Geld ausgeben, vor der Pandemie haben wir es aber nicht einmal geschafft, einen winzigen Bruchteil dieses Geldes für Teilhabe aller zur Verfügung zu stellen.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie sich die Empfehlung der DIVI anschauen, die gegen das Grundgesetz verstoßen, gegen den gleichen Wert jedes Lebens. Wie kommt so etwas trotzdem zu Stande?

Christian Judith: Der erste große Kritikpunkt ist, dass es gar nicht die Politik ist, die dort definiert, sondern ein Privatverein. Die Legislative zieht sich aus ihrer Verantwortung zurück. Und wer sitzt in dem Verein? Menschen, die aus einer privilegierten Position heraus formulieren und denken. Sie holen ihr Gedankengut aus einer nicht behinderten, elitär geprägten, Welt. Das hat nichts mit gesellschaftlichem Konsens zu tun. Die Empfehlung bildet kein Spektrum ab. Es sitzen dort keine behinderten Menschen oder Angehörige, keine Pädagoginnen und Pädagogen, sondern Ärzte und Ärztinnen sowie Ethikerinnen und Ethiker. Diese Menschen leben nicht in einem Heim, dass abgesperrt wird und aus dem jetzt keiner mehr raus kann.

kobinet-nachrichten: Haben Sie Ideen, wie Ärztinnen und Ärzte und Pflegende unterstützt werden können, wenn sie wirklich vor solchen Entscheidungen stehen? Wie sieht eine Empfehlung aus, die nicht Kategorien festlegt?

Christian Judith: Es ist natürlich ganz schwierig, das jetzt in so einer Notsituation zu machen. Sobald ich anfange Kriterien festzulegen habe ich diskriminierende Faktoren, das geht gar nicht anders. Eine alternative Möglichkeit ist tatsächlich: Wer war zuerst da? Wer zuerst da war, muss ohne Ansehen der Person Behandlung erhalten. Ein Losentscheid kann eine zweite Antwort sein.

kobinet-nachrichten: Sie sagen, in einer Demokratie dürfen wir über alles reden, dass ist Ihr Grundprinzip. Gibt es trotzdem Dinge, über die Sie einfach nicht mehr reden möchten? Wo sollten wir aufhören zu diskutieren?

Christian Judith: Nicht alles, was man denken kann, sollte man sagen. Wir dürfen nichts am Grundgesetz vorbei schieben. Ich möchte feste, verlässliche Anker in meinem Leben haben, an denen ich nicht diskutieren will. Nicht über das in Frage stellen des universellen Werts menschlichen Lebens, ich möchte nicht darüber reden, ob die Würde des Menschen an Kriterien gebunden ist.

kobinet-nachrichten: Sie sehen eine Gefahr, dass dieser Grundkonsens verloren geht? Sie nennen Boris Palmer als Beispiel.

Christian Judith: Boris Palmer hat etwas formuliert, was Menschen zu Ressourcen macht. Ich berechne, wo ich begrenzt zur Verfügung stehende Ressourcen besser einsetzen kann als woanders. Das ist der Hintergrund seines Textes. Er fragt ganz harmlos, was wir mit dem Geld alternativ machen könnten. Wenn wir in die Rezession rutschen, werden Kinder sterben. Und warum rutschen wir in die Rezession? Weil wir Leute schützen, die eh bald sterben. Also ist die Lösung: Wir schützen sie nicht und retten die Kinder! So pflanzt man Ideen von verhandelbarem Lebenswert in Köpfe. Wenn das Schule macht, dann habe ich Angst davor, dass diese Ressourcenlogik um sich greift und wir Leben wieder unterschiedlichen Wert beimessen. Das entsolidarisiert. Dann haben wir nicht mehr alle den gleichen Wert, die gleichen Rechte und die gleichen Chancen.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

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svendrebes
27.05.2020 20:53

Danke, Christian Judith!
Zwei Punkte sehe ich aber anders.
Erstens ist nicht die Inklusion durchgefallen. Wenn, dann sind wir in Inklusion durchgefallen.
Zweitens würden dem Triage-Kriterium „Wer zuerst kommt…“ wahrscheinlich mehr behinderte Menschen zum Opfer fallen als der Anwendung der schlechten DIVI-Empfehlung.