
Foto: Franziska Vu ISL
Bremen (kobinet) Für Horst Frehe vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen sind Diskriminierungen, wie zum Beispiel durch längere Kontakteinschränkungen in der Corona-Krise oder durch die Exklusion in besondere Wohnformen und Nothospitäler verfassungswidrige Menschenrechtsverletzungen. Dies brachte der Behindertenrechtler am Ende eines Interviews von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul zur aktuellen Situation klar und deutlich zum Ausdruck.
kobinet-nachrichten: Wie geht es Ihnen in Corona-Zeiten als jemand, der sonst sehr viel unterwegs war und immer sehr umtriebig ist?
Horst Frehe: Die Kommunikation ist ja nicht weniger geworden, findet aber ausschließlich elektronisch statt. Das finde ich sehr anstrengend und häufig sehr umständlich. Ich sitze nun täglich einen ¾ Tag am Computer. Fahrradtouren mit dem Rolli-Bike sind der einzige Ausgleich. Es ist wirklich etwas Anderes, wenn man die Menschen direkt treffen und mit ihnen diskutieren kann.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie nun sehr viel zu Hause sind, gibt es bestimmt einiges, was Sie umtreibt. Was beschäftigt Sie momentan besonders?
Horst Frehe: Neben den Schwierigkeiten in der Assistenzgenossenschaft Bremen, die sich aus der Corona-Krise ergeben – da sitze ich im Aufsichtsrat –, ärgert mich die Art der Berichte in den öffentlich-rechtlichen Medien, insbesondere die Kriegsrhetorik. Es wird ein Krieg gegen den unsichtbaren Feind geführt. Die Arbeitnehmer*innen, die ihren Job weiter verrichten werden als „Helden“ gefeiert. Helden braucht man, wenn man „Opfer“ erwartet. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn nicht genügend Schutzausrüstung da ist, und das medizinische Personal trotzdem seine Arbeit machen soll. Aus der mangelhaften Ausstattung wird nun das heldenhafte Handeln der Akteure.
Im 2. Weltkrieg wurden die „Helden“ an der Ostfront dekoriert, um sie besser verheizen zu können. In den 50er-Jahren hat man in der DDR die „Helden der Arbeit“ erfunden, um die Leistungsnormen bei gleicher Bezahlung hochsetzen zu können. Neuerdings werden Menschen mit Lernschwierigkeiten zu „Helden“ gemacht, um ihnen die Werkstatt schmackhaft zu machen oder um die fehlende Anerkennung ihrer Leistung bei den „Special-Olympics“ zu kompensieren. Wenn man Pflegekräfte als „Helden“ feiert, dann werden diejenigen, mit denen sie arbeiten, zu Objekten der Bearbeitung an der „Heimatfront“.
kobinet-nachrichten: Corona-Zeiten machen es möglich, dass es nun plötzlich eine Prämie für Pflegekräfte gibt, was halten Sie davon?
Horst Frehe: Ich bin mit Frau Buntenbach, ehemaliges Mitglied des DGB-Bundesvorstandes, darüber einig, dass eine einmalige Prämie nicht richtig ist. Entweder ist man der Meinung, dass die Arbeit zu schlecht bezahlt wird, dann muss man das in Tarifverhandlungen lösen. Oder man betrachtet die Prämie als „Ehrensold“ für die aufopfernde, heldenartige Tätigkeit, dann verfällt man in Klischees, die Pflegekräfte in ihrer Tätigkeit seit jeher überhöhen, weil man mit den Menschen, die ihre Unterstützung in Anspruch nehmen will, nichts zu tun haben will und sie in Einrichtungen außerhalb der Gesellschaft konzentriert, aber gleichzeitig die Arbeit in diesem Bereich schlecht bezahlt.
kobinet-nachrichten: Behinderte und ältere Menschen, die in Einrichtungen leben, werden derzeit meist vergessen – und wenn berichtet wird, sind es Katastrophenmeldungen von Infizierten und Toten in Behinderteneinrichtungen und Pflegeheimen. Wie empfinden Sie die derzeitige Situation?
Horst Frehe: Heime sind lebensgefährlich! Das wussten wir immer schon! Und das gilt nicht nur im historischen Rückblick, wenn man weiß, dass sie Euthanasie im Dritten Reich fast ausschließlich aus Anstalten und Heimen erfolgte. Das gilt auch für die gesundheitliche Gefährdung zum Beispiel durch Viren und multiresistenten Keimen oder die klassische Unterversorgung und fehlende Teilhabe, die den vorzeitigen Tod der Bewohner*innen begünstigt. Heime sind Wartesäle des Todes! In Corona-Zeiten gilt das besonders. In Bremen sind mehr als 50 Prozent der Verstorbenen Corona-Opfer Bewohner*innen von Einrichtungen: Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Altenheimen.
kobinet-nachrichten: Welche Konzepte gibt es dazu in Bremen?
Horst Frehe: Nicht nur als völlig verfehlt, sondern auch lebensgefährlich finde ich die Idee, dass Behinderte mit hohem Unterstützungsbedarf in eine Jugendbildungsstätte verlegt werden sollen, wenn die häusliche Pflege nicht mehr sichergestellt ist. Wenn man sie aus ihrer eigenen Wohnung verlegt, in eine Einrichtung mit anderem Pflegepersonal, das vom gefährdeten Bewohner zur gefährdeten Bewohnerin zieht, braucht nur ein Mitglied des Personals mit dem Corona-Virus infiziert sein, um die Mortalität aller Bewohner*innen in die Höhe schnellen zu lassen. Gerade Behinderte, die mit Beatmung zu Hause leben, nehmen nicht nur durch die neuen Bestimmungen zur Intensiv-Pflege im IPREG, sondern auch diese Regelungen zur Corona-Pandemie als lebensgefährdend wahr.
kobinet-nachrichten: Sie haben die Assistenzgenossenschaft in Bremen mitgegründet und entscheidend geprägt. Welche Baustellen sehen Sie dort zur Zeit?
Horst Frehe: Die Idee der Assistenzgenossenschaft war, Macht von der Geschäftsführung der Pflegedienste und den Pflegekräften umzuverteilen und die Assistenznehmer*innen in die Lage zu versetzen, alle wesentlichen Prozesse der Assistenzleistung steuern und über die Genossenschaft bestimmen zu können. Einerseits lässt das Engagement der Mehrheit der Assistenznehmer*innen deutlich nach, weil viele einfach nur eine gute Leistung wollen und sich nicht mehr an der Genossenschaft praktisch beteiligen. Manche können es auf Grund ihrer Beeinträchtigung auch nicht mehr. Andererseits gibt es den Kostendruck von außen, ein möglichst effizientes Versorgungssystem zu betreiben. Schwerer wiegt, dass die Entscheidungspositionen mit Nichtbehinderten ohne eigene Assistenzerfahrung besetzt werden mussten, da wir keine geeigneten Bewerber*innen, die die Formalqualifikation besitzen, finden konnten.
Ein weiteres Element ist es, dass wir einen sehr gewerkschaftlich ausgerichteten Betriebsrat haben, der vor allem die Arbeitnehmer*innen-Interessen vertritt, ohne das neue Machtgleichgewicht zu berücksichtigen, dass wir mit der Persönlichen Assistenz erreichen wollen. Früher kamen die Assistent*innen aus dem Bereich ehemaliger Zivildienstleistenden oder Student*innen, heute sind es Arbeitslose, denen es häufig nur noch um einen sicheren Job geht. Der politische und gesellschaftliche Zusammenhang, bei dem es bei der Gründung der Assistenzgenossenschaft ging, spielt eine immer geringere Rolle. Um diesen Prozess aufzuhalten und wenn möglich umzukehren, brauchen wir Assistenznehmer*innen, die eine entsprechende Qualifikation erwerben (z.B. betriebswirtschaftliches Management, pflegewissenschaftliche Ausbildung, Finanz-Controlling) und bereit sind, nicht nur auf Stellen im öffentlichen Dienst zu schielen, sondern in unseren Organisationen sich zu engagieren. Wir suchen händeringend entsprechende Vorstandsmitglieder, die ja auch nicht schlecht bezahlt werden.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie derzeit zwei Dinge verändern könnten, welche wären das?
Horst Frehe: Ich würde mir noch mehr Menschen in Führungs- und Entscheidungsfunktionen wünschen, die diskriminierende Erfahrungen als Behinderte in politisches Handeln umsetzen. Wir brauchen einen Generationswechsel in der Behindertenpolitik, der so alte Knacker wie mich ablöst, die Erfahrungen vom Straßenkampf über Parteiarbeit, parlamentarische Vertretung, administrative Erfahrung und rechtliche Kompetenzen einbringen können. Bei der Stellungnahme des Forums behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) zu den Empfehlungen des Ethikrates zur Triage hat das ja mit dem Engagement von Nancy Poser und Wolf-Arne Frankenstein hervorragend geklappt! Dank ihrer herausragenden verfassungsrechtlichen Stellungnahme konnten wir als FbJJ dagegenhalten. Und wenn Wolf-Arne Frankenstein seine Arbeit als Bremer Landesbehindertenbeauftragter aufnimmt, haben wir eine Top-Besetzung für das Amt hinbekommen. Aber es sind zu Wenige für die vielen wichtigen Stellen, die wir aus unserem Kreis besetzen müssen. Ich wünschte, ich könnte mir welche backen!
Zum zweiten wünsche ich mir, dass die gegenwärtige Corona-Krise nicht dazu genutzt wird, das Fürsorgedenken und die Entmündigung behinderter Menschen wieder voranzutreiben. Vielmehr müssen wir sie nutzen, einen Diskussionsprozess zu initiieren, der Inklusion zum verpflichtenden Prinzip erhebt und verankert und Diskriminierung zum Beispiel durch längere Kontakteinschränkung in der Corona-Krise oder Exklusion in besondere Wohnformen und Nothospitäler als das qualifiziert, was sie sind: verfassungswidrige Menschenrechtsverletzungen.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.
„Neuerdings werden Menschen mit Lernschwierigkeiten zu ‚Helden‘ gemacht,
um ihnen die Werkstatt schmackhaft zu machen oder um die fehlende
Anerkennung ihrer Leistung bei den ‚Special-Olympics‘ zu kompensieren.“
Zum Niederknieen, hätte ich gerne in Din A2 für meine Bürotür – in den 90ern nannte man sowas unter Soziologen offiziell „Tittytainment“ (aber das war ja noch vor PC)…