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Triage – Behinderung darf kein Kriterium bei Priorisierungs-Entscheidungen sein

drei rote Ausrufezeichen
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Foto: ht

Berlin (kobinet) Dr. Sigird Arnade und Hans-Günter Heiden haben sich für den Verein für Gleichstellung und Menschenrechte Behinderter- NETZWERK ARTIKEL 3 (NW3) und die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) mit einem Kommentar zu Wort gemeldet und zum Thema Triagege klargestellt: "Behinderung darf kein Kriterium bei Priorisierungs-Entscheidungen sein!" Damit reagieren sie auf die klinisch-ethischen Empfehlungen "Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen…“ der Fachgesellschaften vom 25. März 2020.

Triage – Behinderung darf kein Kriterium bei Priorisierungs-Entscheidungen sein!

Kommentar zu den klinisch-ethischen Empfehlungen „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen…“ der Fachgesellschaften vom 25. März 2020 von Dr. Sigrid Arnade und Hans-Günter Heiden

Vor dem Hintergrund der COVID-19 Pandemie und Überlegungen und Berichten über die Anwendung der sogenannten „Triage“ (1) haben sechs medizinische Fachgesellschaften und die Akademie für Ethik in der Medizin am 25. März 2020 die Empfehlungen „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ erstellt und unter https://www.divi.de/empfehlungen/publikati-onen/covid-19/1540-covid-19-ethik-empfehlung-v2/file veröffentlicht. „Eine Kommentierung der Empfehlungen ist ausdrücklich erwünscht“, schreiben die Autor*innen in ihrer Vorbemerkung. In Form des nachstehenden Kommentars nehmen die Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen NW3 und ISL Stellung zu diesem Dokument. Sie sind sich der Vorläufigkeit und Unvollständigkeit dieses Dokumentes bewusst und rufen daher zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion auf.

Eine „medizinische Triage“, also eine Vorrangentscheidung auf dem Hintergrund fehlender Ressourcen, kann in einer akuten Krisensituation notwendig sein, etwa bei der Bergung und Behandlung von Verletzten nach einem Flugzeugabsturz, nach einer plötzlichen Naturkatastrophe, etc. Die Frage ist jedoch, ob dies auch bei der COVID-19-Pandemie so sein muss, da eine „Triage“ auf den historisch geschaffenen und aktuell vorhandenen medizinischen Ressourcen beruht. In einer Gesellschaft, die beispielsweise umfangreich in Intensivmedizin investiert hat, wird dies anders aussehen als in anderen Gesellschaften.

Die Überlegungen zu einer „Triage“ sind insofern vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren verschärften Ökonomisierung des Gesundheitswesens in Deutschland und dem bekannten „Pflegenotstand“ zu betrachten.

Empfehlungen und Kriterien zur Verteilung von Ressourcen für den Notfall können sinnvoll sein. Jegliche Empfehlungen müssen sich dabei an den Menschenrechten, insbesondere an Artikel 11 der UN-Behindertenrechtskonvention, und an der Verfassung (Artikel 3) orientieren, wie auch der Deutsche Ethikrat und das Deutsche Institut für Menschenrechte fordern.

Es stellt sich jedoch die Frage, wer berechtigt ist, entsprechende Empfehlungen und Kriterien aufzustellen. Die Legitimität der „Fachgesellschaften“ erscheint uns dabei mehr als fraglich. Deren Empfehlungen können als ein „Aufschlag“ Teil des Diskurses sein, mehr aber auch nicht. Die Politik kann und darf sich nicht aus dieser Verantwortung zurückziehen. Sie darf die Abwägung ethisch hoch brisanter Fragen nicht den Fachgesellschaften überlassen (2). Vielmehr ist eine breite Diskussion und eine Einbindung der Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen unbedingt erforderlich.

Existierende Empfehlungen zur Entscheidungsfindung im Lichte der COVID-19-Pandemie sind zu berücksichtigen, etwa das Statement des National Bioethics Committee of San Marino Republic (3), in dem unter anderem formuliert wird: “The only parameter of choice, therefore, is the correct application of triage, respecting every human life, based on the criteria of clinical appropriateness and proportionality of the treatments. Any other selection criteria, such as age, gender, social or ethnic affiliation, disability, is ethically unacceptable, as it would implement a ranking of lives only apparently more or less worthy of being lived, constituting a unacceptable violation of human rights.”

Die Fachgesellschaften formulieren zwar auch: „Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes…nicht zulässig allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien.“ Bei ihren Kriterien für Priorisierungs-Entscheidungen stützen sich die Autor*innen aber unter anderem auf den „Allgemeinen Gesundheitsstatus“ und die „Erhöhte Gebrechlichkeit“ etwa in Form des „Clinical Frailty Scale“ (CFS). Bei dem CFS handelt es sich um eine neunstufige „Gebrechlichlichkeitsskala“, die auf einem fragwürdigen und veralteten Verständnis von Menschen mit Beeinträchtigungen beruht.

Das Konzept des Ableismus, also der vorgefertigten schubladenartigen Vorstellungen von Behinderung und behinderten Menschen, war offensichtlich beim Verfassen der vorgeschlagenen Empfehlungen im Hintergrund wirksam und wird es auch bei deren Umsetzung werden. Im Ernstfall, der schnelle ethische Entscheidungen in einer Dilemma-Situation erfordert, werden vermutlich durchaus Entscheidungen getroffen, die auf einer vermeintlichen „Lebenswert“ – „Nicht Lebenswert“-Alternative beruhen. So ist eine De-Priorisierung aufgrund von Behinderung zu befürchten, wodurch behinderte Menschen gravierend benachteiligt werden.

Das von den Fachgesellschaften vorgeschlagene Verfahren der Entscheidungsfindung fordert zwar ein „Mehraugenprinzip“, dabei wird jedoch nur an die „Fachleute“ gedacht. Die Betroffenen selber oder ihre Angehörigen spielen keine Rolle. Die Entscheidungen sollen lediglich „transparent…kommuniziert und sachgerecht dokumentiert werden“. Dies ist nicht hinnehmbar!

Die Selbstvertretungsorganisationen NW3 und ISL fordern:

• Behinderung darf kein Kriterium bei Priorisierungs-Entscheidungen sein

• Rasche Intensivierung der Kapazitäten in der Notfallmedizin, um möglichst keine Priorisierungs-Situationen entstehen zu lassen

• Keine Verwendung veralteter und diskriminierender Instrumente bei Entscheidungsfindungen

• Menschenrechtliche Basierung von medizinisch-ethischen Empfehlungen

• Berücksichtigung und Diskussion internationaler Empfehlungen zu COVID-19, etwa der International Disability Alliance (IDA), des Europäischen Behindertenforums (EDF)

• Breite gesellschaftliche Diskussion und Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Organisationen bei allen Maßnahmen und Empfehlungen zu COVID-19

• Erarbeitung von Empfehlungen, die durch demokratisch legitimierte Mandatsträger*innen verantwortet werden

Unser Vorschlag zum weiteren Vorgehen angesichts knapper Zeitressourcen lautet deshalb: Baldige Einberufung digitaler runder Tische in Verantwortung von Gremien des Deutschen Bundestages mit den relevanten Akteur*innen (u.a. Deutsches Institut für Menschenrechte; Forum Menschenrechte; Deutscher Behindertenrat; LIGA Selbstvertretung; Forum behinderter Jurist*innen; AbilityWatch; Disability Studies; behindertenpolitische Sprecher*innen der Bundestagsfraktionen; Behindertenbeauftragte/r Bund + Länder; BAG Freie Wohlfahrtspflege; Deutscher Ethikrat; BAGSO; Migrantenorganisationen; Medizinische Fachgesellschaften).

(1) Der Begriff „Triage“ leitet sich ab vom französischen Verb „trier“, was „sortieren, aussuchen, auslesen“ bedeutet (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Triage)

(2) Im Gegensatz dazu sieht der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ die Verantwortung des Staates bereits als erfüllt an, wenn von diesem lediglich grobe ethische Vorgaben erstellt werden (S. 4, 3. Absatz). (Vgl. http://www.edf-feph.org/newsroom/news/covid-19-resource-page)

Link zum im Internet eingestellten Kommentar von Dr. Sigrid Arnade und Hans-Günter Heiden