Berlin (kobinet) "Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!" Mit diesem Appell hat sich ein breites Bündnis an verschiedene Akteure zur Unterstützung gewandt, um sich in die aktuelle Diskussion für eine inklusive Lösung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung einzumischen. Am Dienstag wird das Anliegen in den Räumen der Bundespressekonferenz vorgestellt.
„Deutschland unterscheidet auch im Jahr 2019 trotz UN‐Behindertenrechtskonvention und Grundrecht auf Gleichbehandlung immer noch künstlich zwischen ‚Jugendhilfe’‐Kindern und ‚Eingliederungshilfe’‐Kindern. Junge Menschen ohne Beeinträchtigungen oder mit einer seelischen Behinderung unterfallen dem Hilfesystem des SGB VIII und damit der Zuständigkeit des Jugendamts, junge Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen hingegen in das Hilfesystem des SGB XII und damit der Zuständigkeit der Eingliederungshilfe. Aufgrund der hierdurch entstehenden Zuständigkeitsstreitigkeiten werden viele Kinder, Jugendliche und Familien nicht nur zwischen den Behörden hin und her geschoben, erhalten keine, verspätet oder nur unzureichend Hilfen. Die rechtlich gezogenen Trennlinien sind zudem mit einer ganzheitlichen Wahrnehmung von Menschen nicht vereinbar. So ist bspw. in jeder Hinsicht inakzeptabel, dass das Sozialrecht den jeweiligen IQ‐Wert von Kindern und Jugendlichen zum prägenden Merkmal erhebt, weil sich danach die behördliche Zuständigkeit entscheidet. Bei einem Wert von 69 und darunter ist die Eingliederungshilfe, bei einem Wert von 70 und darüber die Kinder‐ und Jugendhilfe zuständig“, so werden die Probleme im Appell beschrieben.
Was dies konkret für die Betroffenen bedeutet, wird in dem Appell u.a. am Beispiel von Jonas verdeutlicht: „JONAS ist schwerst mehrfach behindert zur Welt gekommen. Seitdem kümmern sich seine Eltern abwechselnd um seine Versorgung und Betreuung und werden dabei von einem ambulanten Pflegedienst unterstützt. Als Ben – Jonas drei Jahre älterer Bruder – zunehmend aggressiver wird, spüren die Eltern, dass sie als Eltern dringend familienentlastender Unterstützung bedürfen, insb. auch um sich um Bens Bedürfnissen wieder stärker widmen zu können. Der von ihnen um Hilfe ersuchte Träger der Eingliederungshilfe weist jedoch dieses Begehren mit der Begründung zurück, er sei ausschließlich für die aus der Behinderung von Jonas resultierenden Bedarfe zuständig. Für alles andere müssten sie sich an das Jugendamt wenden.“
„LINA ist mit einem fetalen Alkoholsyndrom (FASD) geboren, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat. Das Jugendamt hat sie in einer Pflegefamilie untergebracht. Lina war von Anfang an entwicklungsverzögert, inzwischen zeigen sich jedoch deutliche Lernschwierigkeiten. Eine IQ‐Testung im Alter von 5 Jahren ergab einen Wert von 73. Als sich bei einer erneuten Testung mit 7 Jahren ein IQ‐Wert von 68 ergibt, gibt das Jugendamt die Zuständigkeit an den Träger der Eingliederungshilfe ab. Dieser reduziert nicht nur die finanziellen Unterstützungen für Linas Pflegeeltern, sondern verweigert auch die Weiterleistung des bis dahin die Pflegefamilie begleitenden Fachdienstes. Linas Pflegeeltern sind verzweifelt und wissen nicht weiter“, heißt es in einem weiteren Beispiel.
Die Ungleichbehandlung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sei nach 10 Jahren UN-BRK ein nicht mehr zu rechtfertigender Zustand. Deshalb haben Politik und Fachwelt die Reforminitiative der letzten Legislaturperiode genutzt, sich innerhalb sowie zwischen den beiden Hilfesystemen von Jugend‐ und Behindertenhilfe in grundsätzlichen Fragen zu verständigen. „Der im Koalitionsvertrag angelegte und vom BMFSFJ aktuell umgesetzte Weg eines breit angelegten Beteiligungsprozesses knüpft hieran an. Nach diesem Diskussionsprozess ‚Mitreden – Mitgestalten‘ sind der Bund und die Länder gefordert, die Inklusive Lösung umzusetzen, durch die alle Kinder und Jugendlichen – mit und ohne Behinderungen bzw. unabhängig von der Art ihrer Behinderung – eine einheitliche gesetzliche Grundlage im Kinder‐ und Jugendhilferecht (SGB VIII) finden. Es ist an der Zeit, dass sich alle einen Ruck geben! Der fachliche Diskurs ist so weit, dass die offenen Fragen gesetzgeberisch beantwortet werden können. Die organisatorischen Herausforderungen sind nicht banal und benötigen Aufmerksamkeit, sind aber gestaltbar. Die finanziellen Auswirkungen der Umsetzung eines inklusiven SGB VIII für die Länder und Kommunen verdienen Beachtung und entsprechender Unterstützung durch den Bund. Für uns, die Unterzeichnenden, ist die Gestaltung eines inklusiven Kinder‐ und Jugendhilferechts für alle Kinder und Jugendliche das zentrale Anliegen“, heißt es im Appell.
Die Zeit lasse sich nicht mehr zurückdrehen. Die Politik stehe jenseits von Parteien und föderalen Ebenen in der Pflicht, die UN‐Behindertenrechtskonvention umzusetzen und den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien eine gleichberechtigte Teilhabe an den Leistungen der Kinder‐ und Jugendhilfe zu ermöglichen. Eine Reform des Kinder‐ und Jugendhilferechts könne nur dann als gelungen bezeichnet werden, wenn die Exklusion von jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen beendet und die Kinder‐ und Jugendhilfe für alle jungen Menschen gesetzlich gestaltet wird, so die Forderung der verschiedenen Akteure, die am kommenden Dienstag um 11.00 Uhr im Haus der Bundespressekonferenz ausführlich dargestellt werden.