
Foto: Greta Thunberg
Plymouth, Großbritannien (kobinet) Die 16jährige Schwedin Greta Thunberg, die mit ihrem letztes Jahr gestarteten Schulstreik vor dem schwedischen Parlament gegen die drohende Klimakatastrophe vieles in Bewegung gebracht hat, sorgt in diesen Tagen wieder für Schlagzeilen. Heute startet ihre klimaneutrale Atlantiküberquerung mit einer Segeljacht von Südengland nach New York, wo sie am 23. September am Klimagipfel der Vereinten Nationen teilnehmen wird. Neben dem politischen Gegenwind im Internet und in so manchen Medien, der der jungen Klimaaktivistin immer wieder entgegenweht, ist sie wie viele andere behinderte Menschen auch, immer wieder mit Ableismus konfrontiert.
Kommentar von Ottmar Miles-Paul
„Ableismus (gleichbedeutend wird auch im englischsprachigen Raum von Ableism gesprochen) ist die alltägliche Reduktion eines Menschen auf seine Beeinträchtigung. Damit einher geht eine Abwertung (wegen seiner Beeinträchtigung) oder aber eine Aufwertung (trotz seiner Beeinträchtigung). Damit erleben behinderte Menschen durch den Ableismus das, was Menschen mit Migrationshintergrund durch den Rassismus widerfährt oder Frauen durch Sexismus erleben. In jedem Fall werden die Betroffenen nicht als gleichberechtigte Gegenüber wahrgenommen, sondern etikettiert und auf- oder abgewertet“, so beschreibt Dr. Sigrid Arnade die Herausforderungen des Ableismus in einer Broschüre der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) zu diesem Thema.
Das in der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommene bzw. thematisierte Phänomen des Ableismus hat es am 12. August nun in die Schlagzeilen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschafft. „Ableistische Hassrede: Greta Thunberg als seelenloser Cyborg“ heißt es dort in der Überschrift zu einem Gastbeitrag von Novina Göhlsdorf. Die Autorin geht dabei kritisch auf die Ausführungen des französischen Philosophen Michel Onfray ein. Nachdem Greta Thunberg am 23. Juli eine Ansprache vor dem Parlament in Paris gehalten hat, habe er in einem „ausschweifenden Essay auf seiner Webseite bekannt: Thunberg sei weder Mensch noch Mädchen. Sie sei ein Maschinenwesen, mit ‚Gesicht, Alter, Geschlecht und Körper eines Cyborg‘. berichtet die Autorin.
Link zum Gastbeitrag vom 12. August in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Greta Thunberg bezeichnet übrigens das Asperger-Syndrom, das bei ihr diagnostiziert wurde, als einen großen Vorteil. Sie sei davon überzeugt, dass sie die Dinge deshalb klarer sehe. „Für mich ist fast alles schwarz oder weiß. Ich denke oft, dass für Autisten die normalen Menschen und die anderen Leute ziemlich komisch sind. Sie bleiben dabei, dass die Klimaveränderung eine existierende Bedrohung und das größte aller Probleme ist. Trotzdem machen sie weiter wie bisher“, wird Greta Thunberg in einem Beitrag der Bild zitiert.
Während diese Hasstirade eines sogenannten Philosophen den Anfeindungen, denen Greta Thunberg in den sozialen Medien zum Teil vor allem auch wegen ihres Autismus ausgeliefert ist, einen Tiefpunkt darstellt, ist in so manchen Diskussionen immer wieder dieser latente Ableismus zu spüren, der in unserer Gesellschaft tief verankert ist. So führt Dr. Sigrid Arnade in der ISL-Broschüre zum Ableismus ein alltägliches Beispiel an, an dem sich Ableismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zeigt: „Frau A. fährt nach der Arbeit mit dem Bus nach Hause. Der Busfahrer ist angesichts der Rollstuhlfahrerin, die in der Rush hour mitgenommen werden möchte, deutlich genervt und fragt: ‚Muss das denn sein, dass Sie um diese Zeit fahren?‘ Frau A. antwortet, es handele sich keineswegs um eine Kaffeefahrt, sondern der Bus solle sie von ihrer Arbeit nach Hause bringen. Daraufhin schlägt die Ablehnung des Busfahrers in übertriebene Bewunderung um: ‚Oh, das ist gut, dass Sie Arbeit haben und arbeiten können!'“
Zwischen diesen Polen der Diskriminierung bzw. Abwertung und der Überhöhung aufgrund einer Behinderung müssen sich viele behinderte Menschen in Deutschland immer noch bewegen und machen dabei noch viel zu oft gute Miene zum bösen Spiel. Wenn Greta Thunberg sich so offensiv als Klimaaktivistin und als Mensch mit Autismus in die Öffentlichkeit einbringt und ihren Weg konsequent voran geht, dann geht sie diesen Weg auch für viele von uns. Wenn in den kommenden Wochen also eine rauhe See und so manche Unbequemlichkeiten auf einem beengten Segelschiff ohne Toilette und schlechten Schlafplätzen vor Greta Thunberg liegen, dann verändert sie damit wieder ein Stück des Bewusstseins – nicht nur in Sachen Klimawandel.
Literaturtipp:
Die mit Unterstützung des AOK Bundesverbandes entwickelte Broschüre der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) mit dem Titel „Ableismus erkennen und begegnen: Strategien zur Stärkung von Selbsthilfepotenzialen“, kann per E-Mail unter Angabe der Rechnungs- und Lieferadresse an [email protected] bestellt werden. Für ein Exemplar wird eine Verwaltungskostenpauschale von 1,50 Euro plus Versandkosten erhoben. Mehr Infos zur Broschüre gibt’s auch unter: Ableismus Broschüre der ISL, wo diese auch heruntergeladen werden kann.