
Foto: Bettina Wöllner-Reutershahn
UNBEKANNT (KOBINET) Barrieren schließen aus oder sperren ein, sie schaffen Gefängnisse und Festungen. Wer braucht eigentlich Barrieren in Mietwohnungen? Die antiquarischen Bedenken von unverhältnismäßigen Mehrkosten für barrierefreies Bauen befinden sich inzwischen längst in der Klamottenkiste auf dem Sperrmüll anachronistischer Bedenkenträgerberechnungen, weil sie schon früher nicht gestimmt haben.
Im deutschen Bewertungsgesetz (BewG) § 181 wird im Abs. 9 eine Wohnung im juristischen Sinn beschrieben: „Eine Wohnung ist die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen, die in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein müssen, dass die Führung eines selbständigen Haushalts möglich ist. Die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen muss eine von anderen Wohnungen oder Räumen, insbesondere Wohnräumen, baulich getrennte, in sich abgeschlossene Wohneinheit bilden und einen selbständigen Zugang haben.„
Das Recht auf Wohnen ist „fest verankert in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in dem von Deutschland ratifizierten UN-Sozialpakt von 1966 (seit 1976 in Kraft). Ausdrücklich findet es sich auch in anderen globalen und regionalen Menschenrechtsabkommen. Inhaltlich konkretisiert wurde es nicht zuletzt durch die Allgemeinen Kommentare des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und die Berichte der UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Wohnen. Das Menschenrecht auf Wohnen fordert die hinreichende Verfügbarkeit und den Schutz angemessenen Wohnraums, einen offenen, diskriminierungsfreien und bezahlbaren Zugang zu Wohnraum sowie eine menschenwürdige Wohnqualität und Wohnlage. Ebenso wie andere soziale Menschenrechte stellt es keine Maximalforderungen auf, sondern formuliert Mindestgarantien für ein menschenwürdiges Leben, welche die Staaten zu achten, zu schützen und zu gewährleisten haben. Dabei ist eine sichere, angemessene und dauerhaft finanzierbare Wohnung eine unabdingbare Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben …“ (Nürnberger Menschenrechtszentrum (NMRZ)
2014 hatten 335.000 Menschen in Deutschland (davon etwa 29.000 Kinder) keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Weitere 130.000 Menschen waren oder sind von Wohnungslosigkeit bedroht, von Mietpreissteigerungen, die sie nicht finanzieren können. Mindestens 24.000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Der deutsche Mieterbund ermittelte für dieses Jahr einen Fehlbestand von 825.000 Mietwohnungen.
Besonders drastisch ist die Wohnsituation für behinderte Menschen in Deutschland. Barrierefreie Wohnungen, in denen behinderte Menschen ungehindert leben können, sind wahre Raritäten. Nach einer Studie der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen e.V. gibt es bis 2030 einen Fehlbedarf von minimal 2,9 Millionen barrierefreien Wohnungen. Allein für Rollstuhlfahrer fehlen 517.000 barrierefreie Wohnungen, so dass für die Hälfte der Rollstuhlfahrer kein geeigneter Wohnraum zur Verfügung steht. Gemessen an der demographischen Entwicklung fehlen in Deutschland bis 2020 mindestens weitere 800.000 barrierefreie Mietwohneinheiten, so ermittelten Gerhard Loeschcke und Daniela Pourat als maßgeblich im DIN-Ausschuss Barrierefreies Bauen engagierte Experten. Die Autoren der Studie „Wohnen im Alter“ prognostizieren: „Wenn (…) nur für die älteren Menschen mit Bewegungseinschränkungen entsprechende Wohnungsangebote zur Verfügung gestellt werden sollten, muss (…) das Angebot um das Vier- bis Fünffache ausgeweitet werden. Dies entspricht kurzfristig einem zusätzlichen Bedarf von ca. 2,5 Mio. barrierefreien Wohnungsangeboten. Bis 2020 wird erwartet, dass der Bedarf auf ca. 3 Mio. ansteigen wird„. Angesichts dessen überschreitet es jede Grenze der politischen Ignoranz, dass in der Muster-Liste der Technischen Baubestimmungen (MLTB) die DIN 18040-2 nicht in vollem Umfang eingeführt wird.
In Anbetracht der völkerrechtlich verbindlichen Verpflichtung zur Umsetzung der Menschenrechte muss der Staat auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene effektive Maßnahmen ergreifen, um diese prekäre und diskriminierende Wohnungsnot zu beseitigen. In Deutschland jedoch bilden die Lobbyisten der milliardenschweren Privatinvestoren (Geldsäcke) und die von ihnen alimentierten Regierungsparteien längst eine Parallelgesellschaft. Sie sorgen dafür, dass die Wohnungen nicht nach den Bedürfnissen der Bevölkerung, sondern nach den Profiterwartungen der Investmentgesellschaften auf dem Kapitalmarkt geplant und gebaut werden. Wie eine neue Studie von miettest e.V. zeigt, zahlen die Wohnungsmieter in Deutschland gemessen an der gesetzlichen „Mietpreisbremse“ jedes Jahr 310 Millionen Euro zu viel Miete. Demnach liegt die Verletzungsquote bundesweit bei sage und schreibe 44 Prozent = im Klartext: Fast jede zweite Wohnungsmiete ist ein Gesetzesverstoß. Das Gesetz der „Mietpreisbremse“ wurde erfunden und beschlossen in der großen Koalition von CDU/CSU und SPD. Seit diesem mehr als zweifelhaften Gesetz sind die Mieten schneller gestiegen als je zuvor.
Falls behinderte Menschen vielleicht glücklicherweise tatsächlich eine barrierefreie Wohnung haben sollten, heißt das in aller Regel, dass sie wegen des erhöhten Platzbedarfs sogar noch drastischer beschissen werden mit überhöhten Mietzahlungen.
Und was uns droht, wenn nach der Bundestagswahl die überflüssige FDP wieder Teilhaber einer Regierungskoalition würde, das kann man sich mit einem Blick auf das Gruselkabinett in Düsseldorf anschaulich machen. Die neue CDU-FDP Koalition in Nordrhein-Westfalen hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Quote für rollstuhlgerechte Wohnungen in der Landesbauordnung durch ein Moratorium zu kippen, denn die FDP will bekanntlich erklärtermaßen die Inklusion „auf Eis legen„. Der NRW-Landesverband des Sozialverbands Deutschland (SOVD) stellte hierzu fest, dass selbst die von SPD und Grünen in Nordrhein-Westfalen beschlossene Rollstuhlquote für Neubauten schon nicht ausgereicht hätte, „um dem Mangel an barrierefreiem, rollstuhltauglichem Wohnraum in absehbaren Zeiträumen abzuhelfen und ein auswahlfähiges Angebot an solchen Wohnungen zu schaffen„. Deshalb fordert der SOVD inzwischen, dass sämtliche Neubauwohnungen künftig barrierefrei gebaut werden sollen.
Warum auch nicht? Barrieren schließen aus oder sperren ein, sie schaffen Gefängnisse und Festungen. Wer braucht eigentlich Barrieren in Mietwohnungen?
Überdies könnten auch in einem Zeitraum von 30 Jahren alle Bestandswohnungen barrierefrei modernisiert werden. Denn nach einer Erhebung des Instituts Wohnen und Umwelt (IWU) in Darmstadt sind bis 2050 alle Bestandsgebäude in Hessen voll oder bauteilspezifisch sanierungsbedürftig. In den anderen Bundesländern dürfte das kaum anders sein. Das wären Investitionen, die sich lohnen, weil sie nicht nur zeitgemäß sind, sondern auch noch die völkerrechtlich verpflichtenden Menschenrechte endlich umsetzen würden. Die antiquarischen Bedenken wegen angeblich unverhältnismäßigen Mehrkosten für barrierefreies Bauen befinden sich ohnehin inzwischen längst in der Klamottenkiste auf dem Sperrmüll anachronistischer Bedenkenträgerberechnungen, weil sie auf das Ganze berechnet schon früher nicht gestimmt haben. Inzwischen weiß man längst, dass breitere Türen, niedriger angebrachte Lichtschalter und Armaturen, moderne Toiletten, Duschen und Bäder, zweckmäßige Küchen, sinnvolle Raumaufteilungen und die vertikale Gebäudeerschließung keine Mehrkosten im allgemeinen Wohnungsbau mehr verursachen. Im Gegenteil. Nichts ist so kostspielig wie die Errichtung von Barrieren und die dauerhafte Aussonderung in exklusiven Sonderwohnformen.
Seit 48 Jahren bin ich Rollstuhlfahrer. Nichtbehinderte Menschen brauchen sich nicht zu wundern, wenn ich sie noch niemals besucht habe, weil sie eingemauert sind hinter Barrieren, die kein Mensch braucht, und die wir alle bezahlen müssen.