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Menschengerechte Strukturen in Werkstätten angemahnt

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WINSEN A.D. ALLER (KOBINET) "Menschenwürde in den Werkstätten braucht menschengerechte Strukturen", so titeln Prof. Dr. Heinrich Greving, Bernhard Sackarendt und Ulrich Scheibner von der virtuellen Denkwerkstatt einen Brief, den sie als Reaktion auf die Enthüllungen des Team Wallraff in RTL über die Zustände in Werkstätten für behinderter Menschen u.a. an die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Gabriele Lösekrug-Möller, gerichtet haben. Die kobinet-nachrichten dokumentieren den ihr vorliegenden Brief im folgenden:

Menschenwürde in den Werkstätten brauchen menschengerechte Strukturen

hier: Transparenz statt Undercover

in den letzten Tagen haben sich auch etliche Werkstattträger und einige Trägerorganisationen öffentlich über die menschenverachtenden Ereignisse geäußert, die das „Team Wallraff“ in der RTL-Sendung am 20.02.17 über Werk- und Wohnstätten ans Licht gebracht hatte. Der Schock über diese Seite der Werkstattrealität, die in der Öffentlichkeit völlig unbekannt ist, und die Empörung über die Mißachtung der Menschenwürde im Werkstattalltag sitzen noch tief, nicht zuletzt bei den Werkstattträgern selbst.

Mit etlichen Werkstattleitungen stehen wir im Gespräch über diese Realität. Doch Sensationsmeldungen haben die Angewohnheit, schnell hinter neuen Sensationen zu verschwinden, wenn sich die erste Aufregung gelegt hat. Eine nur sensationsgestützte Aufmerksamkeit haben weder die mißhandelten Menschen verdient, noch die über 300.000 Werkstattbeschäftigten. Es ist eine verpflichtende Aufgabe der Politik, die Ursachen für eine solche Unmenschlichkeit aufzudecken und zu beheben, die einzelne Angestellte begehen, und es nicht bei der Individualisierung von Schuld zu belassen.

Hinter solchen extremen Mißhandlungen von Menschen, die letztlich als Leistungsberechtigte die materielle Existenz selbst ihrer Peiniger sichern, steht das bundesweite, sehr intransparente und in sich abgeschlossenes System von Sondereinrichtungen. Dazu gehört das Werkstättennetz mit seinen konkreten Strukturen. Hier verbringen nach regierungsoffiziellen Angaben 99,8 Prozent der Beschäftigten ihr gesamtes Arbeitsleben. Dafür sind die von der Bundesregierung und den Länderregierungen geschaffenen Werkstattstrukturen verantwortlich, in denen sich die Werkstattträger eingerichtet haben. Zu den Problemen, die durch diese Verhältnisse reproduziert werden, gehört ein verbreitetes Desinteresse an den menschenrechtlichen Normen, insbesondere im „Gesetz zum UNO-Übereinkommen über die Rechte behinderter Menschen“ – GÜRbM. Einige wenige Beispiele, die eine wissenschaftliche Gesamtschau geradezu herausfordern, sollen das verdeutlichen:

– Zu den dringend reformbedürftigen Strukturen gehört, daß es im werkstattrelevanten Sozialrecht keine Bestimmung zugunsten der leistungsberechtigten Werkstattbeschäftigten gibt: Ob SGB IX, SGB XII oder die Werkstättenverordnung – sie alle zielen nur auf die Rechte der Organisationen und ihre Ausgestaltung, nicht aber auf die individuellen Rechte der Werkstattbeschäftigten und ihre Leistungsansprüche.

– Die gesetzliche Vorschrift über die „Freiheit von […] grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ (Artikel 15 GÜRbM) wird im Werkstatt- und Wohnalltag viel öfter übersehen, als das der Öffentlichkeit bekannt wird. Doch es sind nicht die sensationsträchtigen Übergriffe, die eine strukturbedingte Inhumanität charakterisieren. Es ist der unprofessionelle, scheinpädagogische und selbst Strafen einschließende Umgang mit den beeinträchtigten Menschen. Immer noch sind die Lebensbedingungen in zahlreichen Wohneinrichtungen und die werkstatttypischen Arbeitsbedingungen vom allgemein üblichen Standard weit entfernt. Wir sind gern bereit, Ihnen dafür Beispiele zu nennen.

– Die nach Artikel 3 GG, nach Artikel 2 und 5 des Gesetzes zum UNO-Übereinkommen verlangte Gleichberechtigung, Gleichbehandlung und gleiche Vorteilsnahme werden z. B. bezüglich der Rechtsstellung der Werkstattbeschäftigten weder von der Bundesregierung noch von den Werkstattträgern erfüllt (vgl. § 138 Abs. 1 SGB IX). Immer noch wird – vor allem aus fiskalischen Gründen – einem Großteil der Beschäftigten im Arbeitsbereich der Arbeitnehmerstatus verweigert. Fachleute schätzen den Personenkreis auf mindestens 60.000 Menschen.

– Immer noch wird den Werkstattbeschäftigten ein existenzsicherndes Einkommen vorenthalten und stattdessen ein bundesdurchschnittliches Arbeitsentgelt von nur 180 Euro monatlich gezahlt, für das selbst die Bezeichnung Taschengeld euphemistisch ist: rd. 1,30 Euro pro Stunde. Daran ändert das gesetzliche Arbeitsförderungsgeld aus öffentlichen Mitteln seit dem 1. Januar 2017 von 52 Euro monatlich nichts. Das Ziel, das sich die Bundesregierung schon 1974 in den „Grundsätzen zur Konzeption der Werkstatt für Behinderte“ gegeben hatte, ist nach 43 Jahren immer noch nicht eingelöst: „Die Anwendung der Normen des allgemeinen Arbeitsrechts auf die Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnisse ist schrittweise anzustreben“ (BT-Drs. 7/3999, 1975, S. 7).

– Für eine zeitgemäße Qualifikation der Fachkräfte im Gruppendienst der Werkstätten (§ 9 WVO) gibt es seit 2001 eine Fortbildungsprüfungsverordnung, Ende 2016 aktualisiert (BGBl 2016 Teil I Nr. 61, 21.12.16, S. 2909 ff.). Doch eine Verpflichtung der Werkstattträger, diesen Qualifikationsstandard als Anerkennungsbedingung und fachliche Anforderung nachzuweisen, gibt es nicht. Die Werkstättenverordnung und die Prüfungsverordnung sind nicht miteinander verknüpft. So bleibt es bei der unzureichenden Halbbildung nach § 9 Abs. 3 WVO. Und aufgrund der seit 1996 praktizierten Finanzierungsrestriktion steht der Absatz 1 von § 9 WVO nur auf dem Papier:
(1) Die Werkstatt muß über die Fachkräfte verfügen, die erforderlich sind, um ihre Aufgaben entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen der behinderten Menschen, insbesondere unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer individuellen Förderung von behinderten Menschen, erfüllen zu können.

– Das Internet offenbart auch Nicht-Fachleuten die Misere, wenn man bereit ist, die Werkstattrealität zu akzeptieren: Hunderte Fotos aller möglichen Werkstattträger zeigen Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufe, die man in den Anstalten des 19. Jh. vermutete. Solche bildungsfernen, repetitiven und mechanischen Arbeiten laufen den Ansprüchen an eine „sinnvolle Arbeit“, eine bildungsorientierte Arbeit, zuwider. Sie sind pädagogisch unbedacht und stehen im Widerspruch zu den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen und pädagogischen Anforderungen.

Die folgenden acht Beispiele von unzähligen anderen verdeutlichen das falsche Verständnis von Werkstattarbeit. Wir helfen gern bei der Bildauswertung. Hier sind die Internetadressen: (Strg+Mausklick links oder die Internetadressen in die Browserleiste eingeben, nicht ins Google-Suchfeld!):
https://goo.gl/8jdgTg
https://goo.gl/zAAA2x
https://goo.gl/ibp4mv
https://goo.gl/144b9r
https://goo.gl/MrXmt0
https://goo.gl/WR7b9U
https://goo.gl/8cAkzk
https://goo.gl/B2hl1r

– Der Werkstättenszene mangelt es auch an Transparenz und wirksamer Kontrolle. Obwohl sie bis zu 95 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, hat die Öffentlichkeit keinen Einblick. Nur ausnahmsweise publizieren Werkstätten in der GmbH-Rechtsform aussagefähige Daten im Bundesanzeiger; nur wenige weisen z. B. die Höhe ihrer Arbeitsentgelte aus, die sie an die Werkstattbeschäftigten als „Werkstattlöhne“ zahlen. Zudem umfaßt die Offenlegungspflicht nach dem Handelsrecht (§§ 325 ff. HGB) nicht die SGB IX-Vorschrift darzustellen, ob die aus öffentlichen Mitteln gezahlten Kostensätze tatsächlich kostendeckend sind (§ 41 Abs. 4 SGB IX). Viele Geschäftsberichte der Werkstätten sind uninformativ. So werden z. B. die aus dem Betriebsergebnis zu zahlenden Arbeitsentgelte der Beschäftigten („Werkstattlöhne“) oft mit den öffentlich refinanzierten Lohnkosten der Angestellten summiert und auf diese Weise beide betriebswirtschaftlich wichtigen Fakten verschleiert.

– Der Eindruck drängt sich auf, daß weder die Politik noch die amtlichen Kostenträger an echter Transparenz im Werkstättenbereich interessiert sind. Nicht einmal dem Bundestag wird regelmäßig jährlich ein Lagebericht über die Entwicklung der Werkstätten vorgelegt, obwohl sie mit fast 3.000 Betriebsstätten und über 300.000 Beschäftigten das weitaus größte Sondergebiet sind, in dem beeinträchtigten Menschen Arbeit angeboten wird. Im jüngsten Teilhabebericht der Bundesregierung (BT-Drs. 18/10940, 2017, S. 191 ff.) beschränkt sich das Kapitel „3.4.3 Werkstätten für behinderte Menschen“ auf nur zwei Seiten. Wir machen immer wieder darauf aufmerksam, daß Transparenz nach innen und außen Teil einer Unternehmensethik ist, die Einbeziehung und Teilhabe ebenso ernst nimmt wie die Rechenschaftspflicht. Sie ist auch für die Personalführung die Basis für Verläßlichkeit und Überprüfbarkeit. (siehe Greving, Heinrich | Scheibner, Ulrich (Hrsg.): Die Werkstattkonzeption: Jetzt umdenken und umgestalten. BHP-Verlag, Berlin 2014, S. 84 ff.)

– Werkstätten bilden eine Sonderwelt, auf die weite Teile der Definition zutreffen, die dem Bundestag seit 1997 vorliegt (BT-Drs. 13/8170, 1997, S. 71 ff.). Danach führen separierenden Bedingungen „zur Ausbildung einer nach außen möglichst isolierten, nach innen möglichst kompletten, ‚totalen‘ Sonderwelt, einer Insel“ (ebd.). Seit ebenso langer Zeit ist die Bezeichnung „Subkultur“ für die Werkstättenszene geläufig. Dieser Terminus wurde selbstkritisch und mahnend von führenden Werkstattrepräsentanten verwandt. Die Bundesregierung hat solche kritischen Stimmen, die tiefgreifende Reformen einfordern, bis heute unbeachtet gelassen, wie das Bundesteilhabegesetz zeigt.

– Zudem ignorieren Bundesregierung und Länderregierungen die Ratschläge aus dem Kreis der UNO-Fachleute und die Auffassung einer wachsenden Anzahl von Werkstattexperten, diesen Einrichtungstypus schrittweise aufzulösen. Das muß nach unserer Meinung nicht nach dem Muster von Großbritannien und der Abschaffung der dortigen Remploy-Werkstätten geschehen. Ein inklusionsgerechter Umbau der Werkstätten in Deutschland ist durch eine couragierte Reformpolitik möglich, die neue Werkstattstrukturen i. S. des Gesetzes zum UNO-Übereinkommen schafft. Dafür liegen bereits Vorschläge vor, die wir gern um wirksame Rechte für die Beschäftigten ergänzen.

– Die in der Wallraff-RTL-Reportage dargestellte Menschenverachtung ist in dieser extrem rohen Ausprägung gewiß eine Ausnahme. Aber Menschenverachtung äußert sich in anderen, weniger offensichtlichen Formen im Alltagsleben und Arbeitsalltag – auch in den Werkstätten. Sie bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Selbst Gäste aus der Politik, die die Werkstätten besuchten, haben nie Anstoß an solchen Arbeitsbedingungen genommen, die einer menschengerechten Arbeitsgestaltung widersprachen. Auch das ist auf Fotos im Internet nachvollziehbar, z. B. hier oder hier. Es fehlt oft der Blick dafür, wohl weil geglaubt wird, lächelnde Werkstattbeschäftigte wären eine Bestätigung der Werkstättenwerbung: „Wir bieten sinnvolle Arbeit.“
Tatsächlich sinnvolle Arbeit ist ohne Bildung, ohne bewußte Persönlichkeitsentwicklung, ohne pädagogische Arbeitsvorbereitung und Arbeitsbegleitung nicht möglich. Daran fehlt es dem Werkstättensystem – auch deshalb, weil es dazu keine rechtlich bindenden Verpflichtungen gibt: Der notwendige Qualifikationsstandard der Fachkräfte gem. der Fortbildungsverordnung ist nicht mit der Werkstättenverordnung verknüpft. Und es mangelt an der erforderlichen Finanzierung.

Noch etwas ist bemerkenswert: Obwohl sich besonders die Selbsthilfeorganisationen seit langem gegen die Bezeichnung „Behinderte_r“ wegen seines diskriminierenden Charakters wehren, firmieren etliche Werkstätten immer noch als „Behindertenwerk“, „Behindertenwerkstätte“ oder „Werkstatt für Behinderte“. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Menschenbild, das Bewußtsein und Handeln der Angestellten. Auch das gehört zur langen Liste wenig menschengerechter Strukturen.

Und das eine liegt auf der Hand: Wenn Gesetzgeber und Regierungen die Werkstattbeschäftigten nicht mit wirksamen Rechten ausstatten, sie nicht in ihrer Rolle als Dienstleistungsberechtigte rechtlich und finanziell unterstützen, kann man von ungenügend qualifizierten, oft unzureichend bezahlten Angestellten keine pädagogisch sinnvollen, am Gesetz zum UNO-Übereinkommen ausgerichteten Dienstleistungen erwarten. Wir hoffen auf Ihre Hilfe.

Mit besten Grüßen
Prof. Dr. Heinrich Greving
Bernhard Sackarendt
Ulrich Scheibner

PS. Wir haben uns mit unserem Anliegen auch an die Bundesbeauftragte für die Belange beeinträchtigter Menschen, Verena Bentele, und an Abgeordnete im zuständigen Ausschuß gewandt.