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BERLIN (KOBINET) In Berlin werden heute voraussichtlich die Weichen für die Behindertenpolitik der nächsten vier Jahre gestellt. Wenn die Koalitionsarbeitsgruppe Arbeit und Soziales heute zusammen kommt und über das Bundesteilhabegesetz spricht, geht es dabei nicht nur um das behindertenpolitische Topthema der nächsten vier Jahre, sondern auch ganz entscheidend um die Lebensqualität behinderter Menschen.
Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul
Wird es zukünftig ein Bundesteilhabegeld geben? Werden auch blinde, sehbehinderte, taubblinde und gehörlose Menschen in die Regelungen zu einem Teilhabegeld einbezogen oder droht ihnen weiterhin der Kampf gegen die Streichung von Leistungen in den einzelnen Bundesländern? Werden die Leistungen für behinderte Menschen zukünftig endlich einkommens- und vermögensunabhängig gestaltet? Werden die Leistungen bedarfsgerecht gestaltet und diese personenzentriert erbracht? Werden die Regelungen für eine gleichberechtigte Mobilität behinderter Menschen verbessert? Werden die Türen für behinderte Menschen aus den Sonderwelten wie den sogenannten Heimen, Sonderschulen, den Werkstätten für behinderte Menschen und den Tagesförderstätten endlich weiter geöffnet und durch passgenaue Hilfen für ein inklusives Leben mittendrin unterstützt und flexibel im Sinne der behinderten Menschen gestaltet? Wird das geforderte Recht auf Leichte Sprache gesetzlich verankert, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten endlich besser verstehen können, was ihre Rechte sind? Und: werden behinderte Menschen selbst am Gesetzgebungsprozess beteiligt oder verharrt die wahrscheinliche schwarz-rote-Koalition in eine Zeit der Nicht- oder Scheinbeteiligung behinderter Menschen?
Diese und viele andere Fragen beschäftigen behinderte Menschen schon lange. Der Gesetzentwurf des Forums behinderter Juristinnen und Juristen hat aufgezeigt, dass viele dieser Fragen gesetzlich gut geregelt werden können. Auch wenn dieser ehrenamtlich erarbeitete Entwurf längst noch nicht perfekt ist und alle Fragen umfasst, zeigt er auf, dass vieles geht, wenn es gewollt wird. Und genau darum geht es heute in Berlin bei den Koalitionsverhandlungen.
Diese Fragen stehen leider dem gegenüber, das vonseiten der Politik hauptsächlich diskutiert wird. Denn die meisten Parteien und PolitikerInnen haben andere Fragen, die für sie im Mittelpunkt stehen. „Wie können die Kommunen und Länder entlastet werden? Welche Kosten der Eingliederungshilfe übernimmt der Bund? Wie können die Leistungen zukünftig verwaltet werden? Sicherlich spielen für den einen oder die andere Vertreterin des Bundes oder der Länder auch inhaltliche Themen über die Ausgestaltung eines Bundesteilhabegesetzes eine wichtige Rolle, doch in der öffentlichen Diskussion kommt dieses kaum an. Spielte die Behindertenpolitik im Bundestagswahlkampf schon so gut wie keine Rolle und hatten die Parteien es nicht für nötig erachtet, behinderte Menschen auf aussichtsreiche Listenplätze zu wählen, so sieht man auch in den jetzigen Berichten über die Koalitionsverhandlungen, dass behinderte Menschen immer noch unsichtbare Bürgerinnen und Bürger sind, wie dies auf EU-Ebene schon vor vielen Jahren festgestellt wurde. Denn selbst bei Themen, die uns betreffen, geht es nur am Rande um uns, sondern vorrangig um die Entlastung der Kommunen. Die Worte, die verwendet werden, sprechen meist ja schon Bände über das Denken dahinter. So ist es auch kein Wunder, dass vonseiten der Politik derzeit noch hauptsächlich von einem Bundesleistungsgesetz gesprochen wird, während in den Verbänden viel lieber von einem Bundesteilhabegesetz gesprochen wird, denn in einem guten Gesetz geht es vorrangig um die Teilhabe behinderter Menschen, die im Mittelpunkt stehen muss.
Damit verbunden ist auch die Frage, ob behinderte Expertinen und Experten in das anstehende Gesetzgebungsverfahren einbezogen werden. Von dem was mit der Schaffung des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes vor über zehn Jahren von der rot-grünen Bundesregierung praktiziert wurde, sind wir beim Bundesteilhabegesetz noch weit entfernt. Damals wurden zwei Vertreterinnen und Vertreter des Forums behinderter Juristinnen und Juristen in die Entwicklung und Beratung des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes mit einbezogen. Horst Frehe und Dr. Andreas Jürgens saßen damals sogar mit dabei bei den Ministeriumsvertretern im Deutschen Bundestag als das Gesetz beschlossen wurde. Davon sind wir noch weit entfernt und selbst die Behindertenbeauftragten der Länder und des Bundes sitzen meist lediglich am Katzentisch.
Heute ist also ein wichtiger Tag! Doch die Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes kommt einem Marathonlauf gleich. Machen wir uns also fit für große Anstrengungen und einen langen Weg, an dessen Ende wir hoffentlich gut ankommen und etwas zum Jubeln haben.