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Foto: Kathina Schubert
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UNBEKANNT (KOBINET) Nach dem Baubeginn am Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde bringt kobinet heute einen Kommentar von Matthias Vernaldi. Der Berliner hat am Runden Tisch für ein Mahnmal in der Tiergartenstraße 4 teilgenommen und hat am Rande bei der Vorbereitung der Pride Parade am Samstag in Berlin mitgewirkt.
Berlin (kobinet) Am 8. Juli wurde vor der Berliner Philharmonie in der Tiergartenstraße um 14:00 Uhr der Baubeginn für einen „Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde“ feierlich begangen. Auch wenn ich nicht gerade scharf darauf bin, mir Sonntagsreden anzuhören, war ich dabei.
Ich bin wegen einer Erbkrankheit ziemlich schwer behindert. Wäre ich 20 oder 30 Jahre eher geboren, hätten sie mich tot gemacht. 5 Jahrzehnte nach meiner Geburt, wäre ich dank pränataler Diagnostik gar nicht erst zur Welt gekommen. Und in der Schweiz oder Holland habe ich gute Chancen, dass man mir die „Gnaden“pille oder -spritze gibt oder dass hierzulande ein Intensivmediziner, falls ich ihn benötige, meint, er täte mir einen Gefallen, wenn er mir lebenserhaltende Maßnahmen verweigert. Irgendwie bin ich sensibel, was dieses Thema angeht. So wurde ich 2009 Mitglied des Runden Tisches, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Errichtung eines diesbezüglichen Gedenkortes voranzubringen.
Das Denkmal, das 2015 fertig sein soll, ist ein Ergebnis davon. Damit wird in Deutschland endlich auch der Gruppe behinderter und psychisch kranker Opfer an zentraler Stelle gedacht – lange nach Juden, Homosexuellen und Sinti und Roma. Dabei waren sie die ersten Opfer. Gleich nach Machtantritt der Nazis wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen, welches Zwangssterilisierungen legitimierte. Die Tötung „lebensunwerten Lebens“ wurde sehr bald offen propagiert. Dabei spielten zwei Argumente eine Rolle: Zum einen die „Schwachsinnigen, Krüppel und Geisteskranken“ als Kostenfaktoren (ihre Existenz kostet der „Volksgemeinschaft“ Geld, welches anderweitig nicht zur Verfügung steht), zum anderen die Gnade, die es darstellt, ein solches Leiden zu beenden. Beides stieß in der Bevölkerung auf breite Zustimmung. Das war nichts genuin Deutsches oder Faschistisches. Auch in anderen Ländern Europas wurde so geredet. Doch die Umsetzung solcher Gedanken in staatliches Handeln bis hin zum Massenmord hat es nur hier gegeben.
Die Tatsache, dass die Würdigung der Opfer erst so spät (und immer noch recht zögerlich) erfolgt, hat garantiert damit zu tun, dass dieses Gedankengut bis heute weit verbreitet ist und medizinisch sowie politisch weiter entwickelt wurde – weniger totalitär und martialisch, jedoch immer mit den beiden Ansätzen der Erlösung von einem unwerten Leben und des Blicks auf die Kosten.
Die Berliner Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen Dilek Kolat und der Kulturstaatsminister Bernd Neumann hielten ihre Reden und bekundeten den guten Willen der Politik. Doch von der kam der Anstoß zu diesem Gedenk- und Informationsort nicht, sondern von der dritten Rednerin, Sigrid Falkenstein, einer Lehrerin. Sie entdeckte auf einer Namensliste von Euthanasieopfern im Internet zufällig den Namen ihrer Tante Anna Lehnkering. Dass sie ermordet wurde, war in der Familie bisher verschwiegen worden.
Von nun an suchte Sigrid Falkenstein einen Ort der Bewusstmachung und des Gedenkens. Der Platz vor der Philharmonie, an der vor dem Krieg die Villa des Grundstücks Tiergartenstraße 4 stand, die Stelle, von der aus die umfassendste Euthanasieaktion der Nazis – nach der Adresse „T4“ genannt – geplant und gelenkt wurde, schien ihr dafür geeignet, zumal schon in den 80er Jahren durch bürgerschaftliches Engagement dort eine kleine Gedenktafel und eine Skulptur entstanden. Sie schaffte es, Institutionen wie die Topographie des Terrors und das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas für die Idee zu gewinnen. Seit 2007 gibt es einen Runden Tisch, der es geschafft hat, die Politik für den Gedenkort zu gewinnen.
Das Vorhandensein einer solchen Stätte macht es zumindest ein bisschen unwahrscheinlicher, dass sich so etwas wie dieses Verbrechen in ähnlicher Form wiederholt. Es zeigt das breite Vorhandensein von Werten in der Gesellschaft an, die Erlösungsfantasien und Kostenrechnungen entgegenstehen.
Eine erweiterte Rednerliste um einen Menschen mit einer Behinderung hätte der Feierlichkeit übrigens gut angestanden. Unsereins muss wahrgenommen werden, nicht erst, wenn er zum Opfer geworden ist.