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Vergangenheit mit Gegenwart für bessere Zukunft verbinden

Katrin Grüber
Katrin Grüber
Foto: solveig schiebel - kontrast foto

Berlin (kobinet) Das Institut Mensch Ethik und Wissenschaft (IMEW) hat Ende 2023 nach 22 Jahren seine Tätigkeit eingestellt. Dr. Katrin Grüber hat dieses Institut 22 Jahren begleitet und geleitet. Nun ist sie in den Ruhestand gewechselt. Oder doch nicht? kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit Dr. Katrin Grüber ein Interview über ihr Wirken, was mit dem Insitut erreicht und welche heiße Eisen angepackt wurden und vor allem, was die engagierte Frau nun im Unruhestand macht. Für Dr. Katrin Grüber ist auf jeden Fall wichtig, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden als Grundlage für eine bessere Zukunft.



kobinet-nachrichten: Das Institut Mensch Ethik und Wissenschaft (IMEW) hat nach 22 Jahren seine Tätigkeit eingestellt. Wir möchten nun mir Ihnen auf die Zeit zurückblicken und wissen, was Ihre Pläne sind. Aber zuerst einmal: Was hat Sie vor 22 Jahren veranlasst, den Sprung zum Institut Mensch Ethik und Wissenschaft zu wagen? Vorher waren Sie u.a. in der Politik Abgeordnete und einige Jahre lang sogar Vizepräsidentin des Landtags von Nordrhein-Westfalen.

Dr. Katrin Grüber: Ganz so direkt war der Sprung zum Institut nicht. Als ich den Landtag im Jahr 2000 verlassen habe – ich wollte nach zehn Jahren wieder wissenschaftlich arbeiten – war nicht abzusehen, ob die Gründung des Instituts gelingen würde. Nach einem langen und mühevollen Prozess haben sich die unterschiedlichen Akteur*innen geeinigt und die Aktion Mensch konnte überzeugt werden, das Institut in den ersten Jahren großzügig zu unterstützen. Ich bekam dann im Jahr 2001 die ausgeschriebene Leitungsstelle und hatte so die Möglichkeit, meinen unterschiedlichen Interessen: Forschung, Kommunikation und Organisation nachzugehen.

Ich baue gerne Brücken zwischen Menschen und zwischen Theorie und Praxis. Insbesondere hat mich die damalige Debatte um die fremdnützige Forschung, an Menschen, die dazu ihre Einwilligung nicht geben können, berührt und motiviert, zu handeln. So habe ich schon vor der Gründung des IMEW gemeinsam mit anderen den Iserlohner Aufruf für eine zukunftsfähige Ethik verfasst.

kobinet-nachrichten: Was waren für Sie die wichtigsten Themen bzw. Initiativen, die Sie im Rahmen Ihres über 20jährigen Wirkens beim IMEW bearbeitet haben?

Dr. Katrin Grüber: Es war konsequent, dass der Fokus wegen der Gründungsgeschichte des IMEW auf medizinethischen oder bioethischen Fragestellungen lag. Wir haben diese konsequent mit der Perspektive Behinderung verbunden: in der Pränataldiagnostik, am Ende des Lebens, aber auch im Gesundheitswesen und der Forschung. Das Buch Ethik und Behinderung hat vielen Medizinstudierenden das Thema nähergebracht.

Das nächste große Thema war Disability Mainstreaming. Als ich den Begriff vom damaligen Behindertenbeauftragten Karl Hermann Haack gehört habe, war ich begeistert. Können Sie sich noch erinnern? Ich habe bei einer gemeinsamen Taxifahrt so enthusiastisch davon erzählt, dass der Fahrer am Ende nach dem Flyer fragte. Das IMEW hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass der Begriff verbreitet wurde – wobei er leider wieder in Vergessenheit geraten ist.

Für alle, die den Begriff nicht kennen: er meint, die Belange von Menschen mit Behinderung von Anfang an zu berücksichtigen. Sie müssen einerseits mehr beteiligt werden. Andererseits meint Disability Mainstreaming auch, dass ihre Anforderungen und Perspektiven berücksichtigt werden, ohne dass sie anwesend sind. Schließlich ist es weder ihre Aufgabe noch ihre Verantwortung, dass Standards eingehalten werden und beispielweise Gebäude barrierefrei gebaut werden.

Dann wurden wir gefragt, ob wir die DGUV, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung bei der Erstellung eines Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) begleiten können. Auch das war wieder Pionierarbeit, denn es war das erste Mal, dass eine nichtstaatliche Organisation einen Aktionsplan erstellte. Es folgten dann Unternehmen, Kommunen und Organisationen der Eingliederungshilfe. Wir haben den Entstehungsprozess und die Implementierung begleitet und einige auch evaluiert. Diese Aktionspläne haben in den Organisationen konkrete Veränderungen angestoßen – wenngleich unterschiedlich nachhaltig.

Ein großes Thema war für uns die Partizipation von Menschen mit Behinderung. Unsere Erfahrungen bei der Begleitung und Umsetzung von Aktionsplänen haben gezeigt, dass Partizipation verändert und dass sich Partizipation ändert. Die Beteiligten lernen voneinander und die Themen, über die geredet wird, werden immer relevanter. Dazu ein Beispiel: bei einer Organisation ging es am Anfang um die Aufstellung von Getränkeautomaten. Nach einer Weile saß die Vertretung bei den Bewerbungsgesprächen gleichberechtigt mit am Tisch. Die Leitung hat dann die Erfahrung gemacht, wie sinnvoll es ist, auf das Urteil der Menschen mit Behinderung zu hören.

Wir als IMEW hatten das Glück, dass zwei Verbände, die das IMEW getragen haben, der BeB und die Bundesvereinigung Lebenshilfe, mit uns partizipative Projekte durchgeführt haben. Mit den Produkten aus diesen Projekten können Menschen auch in den nächsten Jahren arbeiten.

Last but not least: wir haben gemeinsam mit anderen den Gründungsprozess des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung vorangetrieben. Es funktioniert seit einiger Zeit sehr gut ohne uns – ein gutes Gefühl. Denn auch wenn vieles ein Umsetzungsproblem ist, es gibt noch viel zu erforschen.

Andere können sicher besser als wir beurteilen, was wir bewirkt haben. Ich denke, die Bilanz ist positiv, auch für mich persönlich. Ich habe in den vergangenen 22 Jahren viele wunderbare engagierte Menschen mit und ohne Behinderung kennengelernt. Dafür bin ich dankbar.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie auf die ethischen Diskussionen im Zusammenhang mit dem Thema Behinderung zurückblicken, wie haben sich diese im Laufe der Zeit verändert?

Dr. Katrin Grüber: Was wirklich positiv ist und was so nicht zu erwarten war: durch die UN-BRK haben immer mehr Menschen ohne Behinderung einen positiveren Blick auf Menschen mit Behinderung, auch auf Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Vor 22 Jahren stand vor allem ihre Vulnerabilität im Fokus – und es wurde unterstellt, sie hätten keine Entwicklungsmöglichkeiten. Immer mehr Menschen begreifen, dass sie die gleichen Rechte auf Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipation und Bedürfnisse haben wie andere Menschen auch – dass sie dazu aber mehr Unterstützung benötigen.

Parallel dazu hat sich in der Debatte um medizinethische Themen immer mehr ein Konzept von Autonomie durchgesetzt, das ich die Robinson Crusoe Autonomie nenne. Viele Menschen meinen, jede*r lebt allein auf einer Insel und entscheidet ohne Einflüsse von außen. Wir alle sind aber in unterschiedlichem Maße von anderen abhängig und das ist nicht nur negativ. Und so wichtig es ist, das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu verwirklichen, sie sind unter Umständen auch vulnerabel. Dies gilt insbesondere für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.

Oft wird Selbstbestimmung so sehr betont, dass andere Perspektiven nicht mehr gesehen werden. Deutlich wurde dies bei der Diskussion um die Zulassung von Nicht-Invasiven Pränataltests (NIPT) als Kassenleistung. Die Perspektiven von Menschen mit Behinderungen kamen vor, fielen aber gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen kaum ins Gewicht.

kobinet-nachrichten: Was steht nun nach Ihrem Abschied vom IMEW an? Welche Pläne haben Sie?

Katrin Grüber: Ich mache als Beraterin mit den Themen weiter, die mir wichtig sind: Partizipation, Teilhabe und Selbstbestimmung. Dafür steht auch die Abkürzung meines Institutes: PaTeSe. Bei Interesse begleite ich Organisationen, die sich in einem partizipativen und inklusiven Prozess auf den Weg machen wollen. Außerdem möchte ich Menschen mit Behinderung, insbesondere Menschen, die in Wohnstätten oder Wohngruppen leben, stärken – selbstverständlich gemeinsam mit Peers als Lehrende. Außerdem interessiert mich der Umsetzungsprozess des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), insbesondere aus der Perspektive von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Wie bisher werde ich Artikel schreiben, Vorträge halten und Workshops oder Veranstaltungen moderieren. Außerdem gebe ich Fortbildungen und habe einen kleinen Lehrauftrag an einer Hochschule. Sie sehen, so viel ändert sich nicht – außer dass ich keine Verantwortung mehr für andere habe und mehr Zeit für Aktivitäten, die mir einfach Freude machen. Nicht zuletzt habe ich nun mehr Möglichkeiten, mich für den Förderverein der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen zu engagieren, dessen Vorsitzende ich bin. Es ist so wichtig, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden als Grundlage für eine bessere Zukunft.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, welche wären dies?

Dr. Katrin Grüber: Oh, das ist schwer. Ich habe wegen des Veränderungsbedarfs so viele. Also gut: erstens wünsche ich mir, dass Menschen mit Behinderung, die gemeinschaftlich mit anderen leben, so viel Selbstbestimmung im Alltag erleben, dass sie selbstbestimmt entscheiden können, wo und wie sie leben. Zweitens wünsche ich mir, dass alle Menschen, die die Unterstützte Kommunikation benötigen, sie auch bekommen und drittens wünsche ich mir, dass das Konzept Disability Mainstreaming als Instrument (wieder)entdeckt und angewandt wird.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.