Kassel (kobinet) Die documenta fifteen, die am 18. Juni begonnen hat und noch bis zum 25. September in Kassel stattfindet, kommt aus den negativen Schlagzeilen nicht heraus. Nach massiven Antisemitismusvorwürfen gegen die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst musste nicht nur ein Kunstwerk entfernt werden, nun musste auch deren Generaldirektorin ihren Hut nehmen. Aber auch aus Sicht behinderter Menschen wird nun Kritik an der documenta laut. Nach einem Bericht über die documenta-Taschen in der in Kassel erscheinenden Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (HNA), die in einer Werkstatt für behinderte Menschen gefertigt werden, fragt Prof. Dr. Gisela Hermes beispielsweise ob bei der documenta un(fair) gehandelte Taschen vertrieben werden.
„1000 Taschen mit dem offiziellen Logo der documenta fifteen sind in der Schneiderei der Baunataler Werkstätten von Menschen mit Behinderung genäht worden. Zuvor hat die Einrichtung 500 gebrauchte Jeans an verschiedenen Abgabepunkten in der Region gesammelt. Für 39 Euro können Besucher aus der ganzen Welt die Taschen jetzt im Ruruhaus in der Kasseler Innenstadt erwerben“, heißt es im Bericht der HNA vom 16.7.2022. „Die sind total praktisch“, wird die Sprecherin der Baunataler Diakonie Kassel (BDKS) Claudia Lieberknecht im Bericht zitiert. Man könne die Taschen, die in der Schneiderei der Werkstatt genäht wurden, einfach umhängen oder eben als Bauchtasche nehmen. Die ist sehr angenehm, erfährt man weiter in dem Artikel.
Was man aus dem Artikel allerdings nicht entnehmen kann, ist zu welchen Arbeitsbedingungen und vor allem zu welchen Löhnen die Taschen erarbeitet wurden. Und genau das wirft angesichts des Anspruchs der diesjährigen documenta einige Fragen auf. Denn ganz oben auf der Internetseite der documenta fifteen heißt es zum Anspruch der Ausstellungsmacher*innen: „ruangrupa kuratiert die fünfzehnte Ausgabe der documenta. Das Künstler*innenkollektiv aus Jakarta hat ihrer documenta fifteen die Werte und Ideen von lumbung (indonesischer Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune) zugrunde gelegt. Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt lumbung auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption.“
Link zum HNA-Artikel vom 16. Juli 2022
Wie die kobinet-nachrichten erfahren haben, hat der Artikel in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen mit dem Titel „Taschen gehen um die ganze Welt“ einige Reaktionen ausgelöst. Daher veröffentlichen wir im folgenden zwei Leserinnenbriefe, die in bezug auf den Artikel den kobinet-nachrichten zugeleitet wurden.
Prof. Dr. Gisela Hermes aus Kassel schrieb beispielsweise an die HNA:
Leserbrief zum Artikel „Taschen gehen um die ganz Welt“, HNA vom 16.07.22
(Un)fair gehandelte Taschen bei Documenta?
Zwei Mitarbeiterinnen der Baunataler Diakonie Werkstätten freuen sich in der HNA, Teil der Documenta 15 zu sein (HNA vom 16.07.22): Die Frauen fertigen Taschen aus alten Jeans, die durch den Verkauf um die Welt gehen sollen. Durch die Jeans-Taschen erhalten die Näherinnen soziale Anerkennung für ihre Arbeit. Das ist schön. Aber was können sie sich dafür im realen Leben kaufen? Für eine Wohnung, den täglichen Lebensunterhalt oder gar eine Reise in die Welt reicht das kärgliche Entgelt der Werkstatt nicht aus: Dort werden die Beschäftigten für ihre Arbeit mit einem „Taschengeld“ abgespeist (im Bundesdurchschnitt erhalten Beschäftigte der WfbM ca. 1 Euro pro Stunde).
Arbeitnehmerrechte? Nicht für behinderte Beschäftigte! Mindestlohn? Nicht für behinderte Beschäftigte! Aufgabe der Werkstatt ist es u.a., behinderte Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten und zu vermitteln, damit sie in versicherungspflichtigen Arbeitsstellen zumindest einen Mindestlohn erhalten. Hierfür gibt es äußerst spannende Programme wie das Budget für Arbeit. Die einzelne Werkstatt muss jedoch laut Gesetz wirtschaftlich arbeiten und würde sich selbst abschaffen, wenn sie wirklich „inklusiv“ arbeiten würde. Welches Interesse haben die Werkstätten also daran, ihre eigenen billigen und fleißigen Arbeitskräfte anderweitig unterzubringen? Im Jahr 2020 vermittelte die Baunataler Diakonie Werkstatt eine Person (von insgesamt 1.221 Beschäftigten) und im Jahr 2021 zwei Personen in versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Immerhin: eine Steigerung von 100 %.
All das zeigt: Die Strukturen der Behindertenhilfe müssen grundlegend verändert werden. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind in ihrer jetzigen Form nicht mit der UN-Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen vereinbar. Sie führen nicht zu wirtschaftlicher und sozialer Inklusion. Das EU-Parlament hat deshalb beschlossen, sie auf Dauer abzuschaffen. Stattdessen sollen behinderte Menschen in den ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Sie sollen dort die benötigte Unterstützung bekommen. Und einen fairen Lohn erhalten. Die Bundesregierung verteidigt das System der Werkstätten jedoch weiterhin. Aber Lob für die Herstellung von recycelten Taschen allein reicht nicht aus, um ein menschenwürdiges, weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Documenta 15, die die Recycling-Taschen für 39 Euro pro Stück verkauft, schreibt sich auf ihre Fahnen, gegen Ausbeutung und Diskriminierung anzutreten. Gelten diese Prinzipien auch für die Arbeitsbedingungen behinderter Menschen?
Prof. Dr. Gisela Hermes
Ildiko Szasz schrieb in ihrem den kobinet-nachrichten zugeleiteten Leserbrief:
Ja so eine Tasche, die kommt rum. Leider müssen die NäherInnen daheim (genauer da im Heim) bleiben, für interessante Reisen reicht der jämmerliche Lohn nicht. Es grüßt herzlich mit der Bitte um Veröffentlichung und der Hoffnung, dass jemand aus Ihrer Redaktion mal diese Hintergründe beleuchten möchte Ildiko Szasz“
DAs man sich zu so einem Artikel hinreißen lässt, ist schon traurig. Zwar ist die Bezahlung in den WfbM echt schlecht und da muss was geändert werden. Bei genauer Betrachtung des politischen Horizonts wird aber deutlich das da bereits etwas in Vorbereitung ist.
Schon letztes Jahr hat die Bundesregierung darauf hingewiesen, dass man auf ein Gutachten wartet (2023) und dann auch das Thema „Werkstatt“ überarbeiten wird.
Bevor solche Inhalte publiziert werden, sind gute Recherchen angebracht um dann auch inhaltlich vollständig aufzuklären.