
Foto: Verlag Matthes & Seitz Berlin
Hamburg (kobinet) Für ihren Roman "Leichte Sprache“ erhalten die spanische Autorin Cristina Morales und ihre deutsche Übersetzerin Friederike von Criegern den Internationalen Literaturpreis 2022. In der Preisbegründung schreibt die Jury: "Dieser Roman ist kein Inklusionsmärchen, er ist ein Forderungskatalog. Er besteht auf der Benennung von Unterschieden, auf Klarheit, er besteht auf der Notwendigkeit zu hassen, auf Lebendigkeit, Überraschung und Revolte“, schreibt Christian Mürner in einer Kurzrezension, die er für die kobinet-nachrichten verfasst hat.
Kurzrezension von Christian Mürner aus Hamburg
Der Roman „Leichte Sprache“ von Cristina Morales handelt von vier miteinander verwandten Hauptdarstellerinnen. Sie sprechen für sich selbst, auch wenn die Autorin sozusagen als Protokollantin die Stimmführung aller vier Figuren übernimmt. Es entsteht keine geradlinige Geschichte der vier Cousinen von Anfang bis Schluss, sondern der Roman ist eine raffinierte poetische Montage. Die Ideen, Auseinandersetzungen, Erfahrungen und Erlebnisse der Einzelnen oder ihrer Kooperation werden in den jeweiligen Kontexten mit Vor- und Rückblenden verbunden.
Die Hauptdarstellerinnen sehen nach eigenen Angaben aus wie vier „verrückte alte Damen“ und werden zum Teil wie folgt vorgestellt:
– Doña Natividad Lama Huertes, genannt Nati, sie sagt: „Ich habe Schiebetüren an den Schläfen.“ Sie besucht einen integrativen Tanzkurs.
– Doña Margarita Guirao Guirao, genannt Marga, sie nimmt die meisten Pillen, hat aber „glasklar begriffen, dass sie zurückgeblieben ist und dass die drei Frauen, mit denen sie zusammenlebt, es ebenfalls sind“, sie kann nicht schreiben und liest nicht.
– Doña Patricia Lama Guirao, genannt Patri, sie ist kurzsichtig mit Sklerose und kennt sich aus „in der Welt der Behinderungen“, „dafür bin ich ja Erfahrungsexpertin und Selbstvertreterin“.
– Doña María de los Àngeles Guirao Huertas, genannt Àngels, sie bezieht, nach ihren Worten, eine „Schwachsinnlichenrente“, sie gilt als „die am wenigsten Behinderte“, sie stottert und wiegt 120 Kilo, sie ist die Bestimmerin und Schatzmeisterin der vier.
Diese Figurencharakterisierung gleich zu Beginn spielt im Folgenden kaum eine Rolle, denn Thema sind die sozialen Schauplätze der verschiedenen Kapitel des Romans, der in Barcelona spielt: Die Diskussionen um die Wohnsituation in Einrichtungen, einer betreuten Wohngemeinschaft oder einer besetzten Wohnung, die Treffen im „Ateneo“, dem Autonomen Zentrum Sents und der Okupa-Gruppe, die Tanzstunden, Gerichtstermine und Erinnerungen an das Heimatdorf. Die Schauplätze werden jeweils unterschiedlich von den genannten Frauenfiguren umschrieben und gestaltet.
Cristina Morales’ Roman mit dem Titel „Leichte Sprache“ ist keine leichte Lektüre. Er ist mit gut vierhundert Seiten zu lang, die Schrift ist zu klein und die Konstellation der Geschichte zu komplex, um leicht lesbar zu sein. Dies vom Roman oder der Autorin zu fordern, wäre ein Missverständnis der literarischen Erzählweise. Literatur bevorzugt das Paradox. Die künstlerische Fantasie richtet sich nicht nach vorgegebenen Regeln, sie führt ihre eigene subversive Regie. Doch gibt es ein Roman im Roman, den Àngels auf WhatsApp schreibt. Dieser Text sieht aus, als ob er in Leichter Sprache geschrieben sei, in Flattersatz, wie ein Gedicht, und fast jedes „schwere Wort“ wird erklärt. Es handelt sich dabei aber eher um eine literarische Imitation der Leichten Sprache, die dem Paradoxon entspricht. Das wird im Roman selbst erklärt: „Parodoxon bedeutet: Etwas ist verkehrtrum. / Was weiß sein müsste ist schwarz.“
Befangenheiten der Lesenden sind dabei nicht vorhersehbar.
– Nati provoziert die Lesenden in ihrem Sprachduktus, in einer Art Punk-Essay. Von ihr ist kein „heiliger Sicherheitsabstand der Langeweile“ zu erwarten, keine rücksichtsvolle Ausdrucksweise, ein „Festmahl der Kraftausdrücke“.
– Marga hat eigene sexuelle Bedürfnisse, die bisher nicht öffentlich artikuliert wurden.
– Patri versucht die Situation seriös und aufklärend zu schildern. Probleme würden von außen anders aussehen, als von innen, „du findest alles ‚scheiße’ und meinst, alle greifen dich an“. Doch sie betont, dass ihre Viererwohngruppe als einzige solidarisch sei, während die anderen, die Betreuerinnen, nur pro forma zusammenarbeiten würden.
– Àngels notiert: „Perspektive bedeutet: Du liest den Text. / Und du siehst Dinge. / Die Dinge hast du vorher nicht gesehen.“
Cristina Morales: „Leichte Sprache“, Matthes&Seitz Berlin 2022. Aus dem Spanischen übersetzt von Friederike von Criegern, 409 Seiten | 25 Euro