
Foto: H.-Günter Heiden
Berlin (kobinet) Mit dem Koalitionsvertrag unter der Überschrift "Mehr Fortschritt wagen“ ist es nach Ansicht der Sprecherin der LIGA Selbstvertretung Dr. Sigrid Arnade zwar gelungen, mehr Barrierefreiheit zu wagen, es steht aber noch der Auftrag aus, mehr UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu wagen, den diese findet im Koalitionsvertrag keinerlei Erwähnung. Dr. Sigrid Arnade hat sich den Koalitionsvertrag in Sachen Behindertenpolitik angeschaut und stellt in ihrem Kommentar Licht und Schatten dar.
Koalitionsvertrag: Mehr UN-BRK wagen!
Ein erster Kommentar aus behindertenpolitischer Sicht von Dr. Sigrid Arnade, Sprecherin der LIGA Selbstvertretung
Die Erwartungen waren groß – demgegenüber ist das Ergebnis enttäuschend. Zugegeben: Verglichen mit dem letzten Koalitionsvertrag der großen Koalition ist schon fast ein Quantensprung gelungen: Deutschland soll barrierefrei werden, heißt es da; es soll ein Bundesprogramm Barrierefreiheit geben; das Behindertengleichstellungsgesetz, das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sollen überarbeitet werden; private Anbieter von Waren und Dienstleistungen sollen zur Barrierefreiheit und angemessenen Vorkehrungen verpflichtet werden; die Digitalisierung soll barrierefrei erfolgen; der ÖPNV soll ausnahmslos barrierefrei werden; die Ausgleichsabgabe soll erhöht werden; der Partizipationsfonds soll erhöht und verstetigt werden.
Es stecken zwar noch mehr begrüßenswerte Absichtserklärungen in dem vorliegenden Koalitionsvertrag, was fehlt, ist jedoch die vollständige Gewährleistung der Assistenz im Krankenhaus, das Bekenntnis zur Schaffung von barrierefreiem Wohnraum und vor allem die menschenrechtliche Perspektive. Andere Menschenrechtskonventionen wie die Kinderrechts- oder die Frauenrechtskonvention haben Eingang in das Papier gefunden – warum nicht die Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)? Hätte man nicht meinen sollen, dass nach zwölf Jahren Gültigkeit der UN-BRK in Deutschland begriffen worden wäre, dass es sich bei Behindertenpolitik um Menschenrechtspolitik handelt?
Und wo wir schon dabei sind: Das Kapitel mit behindertenpolitischen Vorhaben trägt den Titel „Inklusion“. Dieses Konzept fand mit der UN-BRK Eingang in den deutschen Sprachgebrauch. Da ist es wohl an der Zeit und auch ein Zeichen des Aufbruchs, dass Inklusion endlich in der amtlichen deutschen Übersetzung der UN-BRK vorkommt. Eine korrekte Übersetzung der UN-BRK ist jedenfalls um einiges nötiger und sinnvoller als den Schwerbehindertenausweis umzubenennen und ihn künftig nichtssagend als Teilhabeausweis zu bezeichnen.
Apropos Inklusion: Wo bleibt das Bekenntnis oder ein Aktionsplan zur inklusiven Bildung? Wieso wird Inklusion im Zusammenhang mit Bildung lediglich unter „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ genannt? Haben die Koalitionäre das deutsche Bildungssystem bezüglich einer inklusiven Reform schon aufgegeben?
Mit dem Koalitionsvertrag unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ ist es zwar gelungen, mehr Barrierefreiheit zu wagen, es steht aber noch der Auftrag aus, mehr UN-BRK zu wagen.
was fehlt, ist der ernsthafte Wille, die Sonderwelten, die Menschen mit Behinderung von der Gesellschaft trennen und deshalb Begegnungen erschweren oder verhindern, endlich abzubauen
Aus meiner Sicht irrt Frau Dr. Arnade gewaltig, denn in dem Koalitionsvertrag finden sich sehr viel Punkte wieder, die mit der Unterzeichnung der UN-BRK für Deutschland verpflichtend sind.
Vielleicht sollte sich die Verfasserin mit dem 178 Seiten starken Dokument noch einmal intensiv befassen.
Es ist nicht eine Frage, ob der Begriff „UN-BRK“ auftaucht, sondern vielmehr entscheidend, dass die damit verbundenen Themen behandelt werden und das ist der Koalitionsvertrag ein Schritt in die richtige Richtung.