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Häusliche Krankenpflege auch in ambulant betreuten Wohngruppen

Bild vom Bundessozialgericht in Kassel
Foto zeigt Bundessozialgericht in Kassel
Foto: Bundessozialgericht

Greifswald/Kassel (kobinet) Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) auch die Kosten der häuslichen Krankenpflege in ambulant betreuten Wohngruppen zu übernehmen hat. Dazu gehört zum Beispiel auch die Medikamentengabe oder das An- und Ausziehen von Thrombosestrümpfen. Diese medizinische Behandlungspflege müsse nicht vom Personal in einer Senioren- oder Demenz-WG geleistet werden. Darüber berichtet Henry Spradau.

Bericht von Henry Spradau

Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) auch die Kosten der häuslichen Krankenpflege in ambulant betreuten Wohngruppen zu übernehmen hat. Dazu gehört zum Beispiel auch die Medikamentengabe oder das An- und Ausziehen von Thrombosestrümpfen. Diese medizinische Behandlungspflege müsse nicht vom Personal in einer Senioren- oder Demenz-WG geleistet werden.

Ein Anspruch besteht auch dann, wenn zugleich ambulante Pflegeleistungen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung bezogen werden. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn mehrere Pflegeversicherte Leistungen der häuslichen Pflegehilfe gemeinsam in Anspruch nehmen.

Das Urteil dürfte weitreichende Auswirkungen haben, da es alle vergleichbaren Einzelfälle betrifft. Ihm lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die 1932 geborene Versicherte litt u.a. an Demenz, essentieller Hypertonie und Diabetes mellitus mit multiplen Komplikationen sowie einem Tremor. Sie lebte mit elf weiteren pflegebedürftigen Personen aufgrund gesonderter Mietverträge in einer nach dem Bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz anerkannten ambulanten betreuten Wohngruppe. Die Bewohner beauftragten gemeinschaftlich verschiedene Dienstleister mit organisatorischen, verwaltenden, betreuenden und das Gemeinschaftsleben fördernden Aufgaben sowie für hauswirtschaftliche Tätigkeiten und ferner für psychosoziale Betreuung und Begleitung. Die Versicherte selbst beauftragte einen Pflegedienst für ihre pflegerische Versorgung. Sie erhielt häusliche Pflege bis zur Höchstgrenze nach § 36 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI), nach dem Pflegegrad 3, zusätzliche Entlastungsleistungen in häuslicher Pflege nach § 45b SGB XI sowie den Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI.

Wegen der täglichen Medikamentengaben verwies die Krankenkasse darauf, dass diese zur einfachsten Behandlungspflege zählten und durch das in der Wohngemeinschaft präsente Personal unentgeltlich zu erbringen seien. Der gegen den Bescheid vom 25.1.2019 erhobene Widerspruch wurde mit Bescheid vom 22.3.2019 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) Landshut hat die Entscheidungen aufgehoben und die Krankenkasse verurteilt, die Kosten der Häuslichen Krankenpflege (HKP) im Rahmen der GKV zu übernehmen. Mit Urteil vom 20.8.2019 hat das LSG die eingelegte Berufung zurückgewiesen: Die Versicherte habe Anspruch auf Freistellung von den Kosten der Medikamentengabe auch in der ambulant betreuten Wohngruppe. Diese sei ein geeigneter Ort nach § 37 Abs 2 SGB V; ein vorrangiger Anspruch auf Hilfe bei der Einnahme der Medikamente gegen die in der Wohngruppe tätigen Personen oder Dienste bestehe nicht.

Die von der Krankenkasse vorgetragene Verletzung von § 37 Abs 2 SGB V und § 1 Abs 5 HKP-Richtlinie, wonach die Maßstäbe des BSG für die Erbringung von HKP in Einrichtungen der Eingliederungshilfe auch für die hier vorliegende Wohnform gelten, da sie im Ergebnis einem stationären Setting mit Rundumversorgung entsprächen, wurde vom LSG zurückgewiesen.

Das BSG hat das Urteil des LSG bestätigt. Die Versicherte hat Anspruch auf Leistungen für eine dreimal tägliche Medikamentengabe als einfachste Leistung der häuslichen Krankenpflege in der ambulant betreuten Wohngruppe.

Ambulante Leistungen der Behandlungssicherungspflege haben die Krankenkassen über den Haushalt der Versicherten und ihrer Familie hinaus an jedem Ort zu erbringen, der dazu „sonst geeignet“ im Sinne von § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V ist. Außer stationären Pflegeeinrichtungen nach § 71 Abs 2 SGB XI und Einrichtungen der stationären medizinischen Versorgung kann das jede Einrichtung sein, in der sich ein Versicherter auf unabsehbare Zeit aufhält und in der die Pflegemaßnahme qualitativ ordnungsgemäß erbracht werden kann, soweit kein Anspruch auf ihre Erbringung durch die Einrichtung selbst besteht.

Nach der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung bei ambulanter Versorgung können Versicherte Leistungen der Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege auch dann beanspruchen, wenn sie zugleich ambulante Pflegeleistungen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung beziehen. Das hat der Gesetzgeber bei Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs durch die Ergänzung von § 13 Abs 2 SGB XI jüngst ausdrücklich bekräftigt und gilt nach den Gesetzesmaterialien auch, soweit in die Pflegebegutachtung nach § 14 Abs 2 Nr 5 a SGB XI seither auch die Bewältigung von und der selbstständige Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug ua auf Medikation eingehen soll. Das ändert sich auch dann nicht, wenn mehrere Pflegeversicherte Leistungen der häuslichen Pflegehilfe gemeinsam in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeit besteht seit 2008 zunächst gemäß § 36 Abs 1 Satz 5 und nunmehr § 36 Abs 4 Satz 4 SGB XI explizit mit dem Ziel, bei ambulanter Versorgung durch das „Poolen“ von Leistungsansprüchen im Interesse der Pflegebedürftigen eine wirtschaftlichere Versorgung mit Pflegeleistungen zu ermöglichen und dadurch im Ergebnis die ungedeckten Pflegekosten der Beteiligten geringer zu halten. Diesem Regelungsziel widerspricht es nicht, wenn Versicherte die Inanspruchnahme gemeinsam abgerufener häuslicher Pflegehilfe vertraglich auf die Leistungszwecke des SGB XI beschränken und sich hinsichtlich der Behandlungspflege gegenseitig auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche nach § 37 Abs 2 SGB V verweisen.

Diese Gestaltung ist im Verhältnis zur Beklagten entgegen ihrem Vorbringen nicht deshalb unbeachtlich, weil die Versorgung der Pflegebedürftigen in der Wohngruppe hier ihrer Art nach als vollstationär zu qualifizieren wäre. Die Grenze zwischen ambulanter und stationärer Pflegeversorgung iS des SGB XI verläuft nach dessen § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 4 Halbsatz 1 dort, wo ein Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen „Leistungen anbietet oder gewährleistet, die dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach § 75 Abs 1 SGB XI für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen“. Abgrenzungsrelevant ist danach weniger die rechtliche und/oder personelle Gestaltung auf der Anbieterseite als der Umfang der den Pflegebedürftigen zu gewährleistenden Leistungen. Dass die Versicherte eine in diesem Sinne weitgehend einer vollstationären Versorgung entsprechende Betreuung beanspruchen konnte, ist nicht zu erkennen. Dagegen spricht zudem, dass sie Leistungen bei häuslicher Pflege einschließlich des Wohngruppenzuschlags nach § 38a SGB XI bezogen hat. Damit ist die Versorgung von der Pflegekasse implizit als ambulant qualifiziert worden.

Urteil BSG vom 26.3.2021 – B 3 KR 14/19 R

Vorinstanzen: Urteil Sozialgericht Landshut vom 18.6.2019 – S 4 KR 235/19

Bayerisches Landessozialgericht vom 20.8.2019 – L 5 KR 403/19

Az.: B 3 KR 14/19 R