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Licht und Schatten beim Personenbeförderungsrecht

Porträt von Annerose Hintzke
Annerose Hintzke
Foto: privat

Berlin (kobinet) Annerose Hintzke engagiert sich schon seit vielen Jahren für Barrierefreiheit und dabei besonders im Verkehrswesen. Für den Sozialverband VdK ist sie in verschiedenen Gremien aktiv und war auch bei einer Anhörung des Bundestages zur Reform des Personenbeförderungsrechts dabei. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit Annerose Hintzke ein Interview, in dem sie sowohl gute Weiterentwicklungen benennt als auch kritisiert, dass bei privaten Dienstleistungen der On-Demand-Verkehre mit keiner Silbe die Barrierefreiheit der Fahrgastinformationen und beim Buchen und Bezahlen im Gesetz erwähnt werde.

kobinet-nachrichten: Sie sind ja schon seit Jahrzehnten für einen barrierefreien Nah- und Fernverkehr aktiv. Wo engagieren Sie sich momentan und für was?

Annerose Hintzke: Seit einigen Jahren bin für den VdK Mitglied in der programmbegleitenden Arbeitsgruppe der Deutschen Bahn zur Barrierefreiheit und habe in diesem Zusammenhang auch das Bahnsteighöhenkonzept der DB kritisch bewertet und beraten und selbstverständlich engagiere ich mich für die Barrierefreiheit in Bussen, Straßenbahnen und U-Bahnen, also dem klassischen Nahverkehr.

kobinet-nachrichten: Vor kurzem hat der Deutsche Bundestag Neuregelungen im Personenbeförderungsgesetz beschlossen. Sie waren bei der Anhörung des Verkehrsausschusses die einzige Vertreterin aus den Behindertenverbänden. Was ist bei dem Gesetzgebungsverfahren herausgekommen?

Annerose Hintzke: Wenn man sich das erste Eckpunktepapier zur Änderung des Personenbeförderungsrechts (PBefG) vom Februar 2019 anschaut, in dem das Thema der Barrierefreiheit praktisch keine Rolle gespielt hat, gar nicht mal so wenig:

Für die neuen Verkehrsangebote, die auf Abruf (On-Demand) zu bestellen sind und sich in kommunaler Trägerschaft befinden, wie z. B. der BerlKönig in Berlin, gelten die Vorschriften der Barrierefreiheit, wie wir sie für den klassischen Nahverkehr kennen. Das bedeutet die Herstellung der vollständigen Barrierefreiheit über das Instrument des Nahverkehrsplans bis Januar 2022.

Für die neuen On-Demand-Verkehre, die in privatwirtschaftlicher Hand liegen, wie z. B. MOIA in Hannover und für Taxiunternehmen wurde erstmals ein Richtwert von 5 % barrierefreier Fahrzeuge vorgeschrieben. Wird das nicht eingehalten, kann die zuständige Behörde die Genehmigung versagen.

Es ist außerdem gelungen, die Definition der Barrierefreiheit von Fahrzeugen an die entsprechende Vorgabe der Straßenverkehrs-Zulassung-Ordnung zu binden, wonach die normgerechte Ausstattung mit Rückhaltesystemen verpflichtend ist.

Um das Thema des Nahverkehrs kurz zu verlassen, gilt für Fernlinienbusse in Zukunft, bei denen die Barrierefreiheit (mindestens 2 Stellplätze für Rollstuhlnutzende) nicht gegeben ist, dass dies als bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit geahndet wird.

kobinet-nachrichten: Und was fehlt für einen guten barrierefreien Nah- und Fernverkehr?

Annerose Hintzke: Nur zum Verständnis: Der eigentliche Anlass zur Änderung des PBefG war ja, eine Rechtsgrundlage für den neuen sogenannten gebündelten Bedarfsverkehr zu schaffen. Hier geht es um die privaten Anbieter von On-Demand-Verkehren, die ohne Fahrplan und feste Linienführung operieren. Der größte Mangel ist sicherlich, dass das PBefG für diese neuen privaten Dienstleistungen mit keiner Silbe die Barrierefreiheit der Fahrgastinformationen und beim Buchen und Bezahlen erwähnt. Das läuft alles digital ab, und man braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass größere Gruppen von Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen sind.

kobinet-nachrichten: Demnächst müsste ja der öffentliche Nahverkehr barrierefrei sein, wie sind hier die Regeln und vor allem wie ist die konkrete Umsetzung, um den Gesetzesanforderungen gerecht zu werden?

Annerose Hintzke: Im Personenbeförderungsgesetz heißt es ja, dass für den öffentlichen Personennahverkehr über die Nahverkehrsplanung bis zum 1. Januar 2022 vollständige Barrierefreiheit zu erreichen ist. Ausnahmen, die konkret benannt und begründet werden, sind allerdings möglich.

Wie nun der aktuelle Stand bei der flächendeckenden Umsetzung ist, kann derzeit vermutlich niemand sagen. Umso mehr begrüße ich das unlängst durch das Bundesverkehrsministerium vergebene Forschungsprojekt zur Evaluation der verkehrsrechtlichen Bestimmungen zur Barrierefreiheit. Die Ergebnisse sollen in der zweiten Jahreshälfte 2022 vorliegen, also in etwa zeitgleich zur Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes.

kobinet-nachrichten: Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einem Gesetzentwurf zur Umsetzung von Regelungen zur Barrierefreiheit, die sich u.a. aus dem European Accessibility Act (EAA) ergeben. Was müsste da Ihrer Ansicht nach noch aufgenommen werden?

Annerose Hintzke: Die allgemeinen Kritikpunkte und Forderungen der Behindertenverbände dürften ja hinlänglich bekannt sein. Im Hinblick auf den Personennahverkehr, die neuen Bedarfsverkehre und die von mir genannten digitalen Komponenten ist zu kritisieren, dass die Regelungen des EAA-Umsetzungsgesetzes erst ab Mitte 2025 greifen. Bis dahin stehen insbesondere blinde und sehbehinderte Menschen im Regen.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie noch zwei Wünsche frei hätten, welche wären das?

Annerose Hintzke: Mein erster Wunsch ist, dass endlich der so häufig verwendete Oberbegriff der Nachhaltigkeit, gerade in verkehrsrechtlichen Aussagen, auch die Barrierefreiheit umfasst. Es ist meiner Ansicht nach ein Unding, dass Nachhaltigkeit fast ausschließlich den Klimaschutz und vergleichbare Ziele meint. Dabei wird verkannt, dass angesichts des demografischen Wandels ein Personenverkehr ohne vollständige Barrierefreiheit überhaupt nicht nachhaltig sein kann.

Mein zweiter Wunsch: Die Deutsche Bahn arbeitet momentan an einer Konzeption für den Hochgeschwindigkeitsverkehr der Zukunft. Ich habe die leise Hoffnung – oder besser: ich wünsche mir – dass damit im Fernverkehr auf der Schiene endlich auch der niveaugleiche Einstieg in die Fahrzeuge, die diskriminierungsfreie Nutzung der Gastronomie und der ersten und zweiten Klasse selbstverständlich wird.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.