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Werkstättensystem ist eine inklusionswidrige Subkultur

Porträt: Ulrich Scheibner
Ulrich Scheibner
Foto: Gabriele Scheibner

Winsen a. d. Aller (kobinet) Ulrich Scheibner von der Virtuellen Denkwerkstatt (VDW) ist es wichtig, dass das System der Werkstätten für behinderte Menschen im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention und des Inklusionsauftrags kritisch betrachtet und verändert wird. Vonseiten der Europäischen Union wird derzeit ebenfalls das deutsche Werkstättensystem in einem aktuellen Bericht kritisiert. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit Ulrich Scheibner folgendes Interview, in dem es u.a. auch um die nötigen Veränderungen zur Beschäftigung behinderter Menschen im Lichte der europäischen Entwicklungen geht.

kobinet-nachrichten: Sie setzen sich seit sehr vielen Jahren mit dem System der Werkstätten auseinander. Aus welcher Perspektive tun Sie dies?

Ulrich Scheibner: Meine Perspektive ist die eines überzeugten, leidenschaftlichen Demokraten. Und für solche Leute ist Inklusion nicht nur als Menschenrecht ein Teil des Menschenbildes, sondern eine Art Lebensform: bedingungslose Einbeziehung, gleichberechtigte Teilhabe, selbstverständliche Dazugehörigkeit und barrierefreies Zusammenleben. Dass ich über zwei Jahrzehnte Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der „Werkstätten“ gewesen war, ist für meine Weltsicht nicht ursächlich.

kobinet-nachrichten: Der Sozialausschuss des Europaparlaments hat vor kurzem einen Bericht zur Beschäftigung behinderter Menschen veröffentlicht, in dem das System der Behindertenwerkstätten, besonders auch in Deutschland, scharf kritisiert wird. Was ist dabei das wichtigste für Sie?

Ulrich Scheibner: Das Europaparlament hat uns erneut klargemacht, dass das „Werkstätten“-System eine inklusionswidrige Subkultur ist. Das wissen wir aber schon lange. Selbst der Begriff „Subkultur“ ist für die „Werkstätten“-Szene nicht neu. Mit ihm hatte bereits 1996 die Geschäftsführerin einer großen norddeutschen „Werkstatt“ diese Sonderwelt charakterisiert. Die Aufregung darüber hielt einige Jahre an.

kobinet-nachrichten: Welche Schlüsse können wir aus der Positionierung des Ausschusses ziehen, der den Bericht und damit auch die Kritik an den Werkstätten für behinderte Menschen mit großer Mehrheit verabschiedet hat?

Ulrich Scheibner: Erstens muss der Reformprozess im Sozialbereich weitergehen. Ein Gesetz, dass die Bezeichnung „Teilhabegesetz“ mit Recht trägt, ist überfällig. Das muss die Gleichberechtigung in der Sonderwelt herstellen, auf die Menschen mit Beeinträchtigungen immer noch verwiesen werden.

Zweitens muss in den „Werkstätten“ der Inklusionsbegriff inhaltlich gefüllt werden: der Arbeitnehmerstatus für Beschäftigten im Arbeitsbereich muss selbstverständlich sein, der „Werkstatt“-Lohn muss ein existenzsichernder Monatslohn werden und auf dem gesetzlichen Mindestlohn basieren. Vor allem aber: „Werkstätten“ müssen zu Übergangsstätten für alle werden, die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wollen und können. Dahinter steht ein umfangreiches Reformprogramm, das der EU-Ausschuss nur andeuten konnte. So wird sich der Sonder-Charakter dieser Abschiebe-Einrichtungen nach und nach verändern müssen.

Drittens: Der gemeinnützige Wirtschaftssektor mit seinen Sozialbetrieben muss weiterentwickelt und finanziell stabilisiert werden. Auch wenn die Firmierung „Inklusionsbetriebe“ hochgestapelt ist, müssen sie stärker in den Blick der Wirtschaftspolitik genommen werden. Die EU macht dazu kluge Vorgaben und in unserer Nachbarschaft gibt es eindrucksvolle Beispiele z. B. in Österreich mit der „Chance B“.

kobinet-nachrichten: Was muss Ihrer Meinung nach in Deutschland unternommen werden, um den über 300.000 behinderten Menschen, die bisher in Werkstätten arbeiten, Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen?

Ulrich Scheibner: Die Bundesregierung muss den Arbeitsmarkt öffnen, d. h. ihn dem Gesetz zum UNO-Übereinkommen von 2008 entsprechend inklusiv gestalten. Das kann zum Beispiel mit der rechtlich deutlicheren Verpflichtung für die Unternehmen beginnen, den § 155 SGB IX zu erfüllen: die Beschäftigung von Personen mit besonders erschwerenden Beeinträchtigungen. Ein Blick in diesen durchaus hilfreichen Paragrafen 155 ist sehr zu empfehlen! Bis in die 1970er Jahre hatten zum Beispiel die Arbeitsämter ein Zuweisungsrecht. Ich bin dafür offen, dass der Gesetzgeber ein ähnliches und zeitgemäßes Inklusionsrecht den Integrationsämtern und Arbeitsagenturen erteilt.

Wir verfügen über inklusive Instrumente wie die Budgets: das persönliche Budget (§ 29 SGB IX), das Budget für Arbeit (§ 61 SGB IX) und das Budget für Ausbildung (§ 61a SGB IX). Die dafür zuständigen Ämter und Behörden verhalten sich aber eher restriktiv. Der Gesetzgeber muss deshalb die beeinträchtigten Menschen mit mehr Rechten ausstatten, die Wege zum Budget vereinfachen und die auszahlenden Stellen zur unbürokratischen Auszahlung verpflichten.

In dem Zusammenhang: Seit Ende der 1990er Jahre fordern wir für das „Werkstätten“-System eine Umstellung des Kostensatzprinzips auf das Budgetprinzip. Dieses Thema ist noch gar nicht angepackt worden. Es setzt allerdings ein transparentes „Werkstätten“-System voraus, eine den Interessen der Budgetberechtigten verpflichtete Assistenz und die Offenlegung der Geschäftsergebnisse aller „Werkstätten“-Träger und nicht nur der GmbHs.

kobinet-nachrichten: Was haben Sie sich für dieses Jahr vorgenommen?

Ulrich Scheibner: Mein Jahresplan ist ebenso einfach wie umfangreich: Mit meinen Freunden und Kollegen will ich in der streitbaren Diskussion bleiben. Dabei hoffe ich, dass sich auch die Bundesorganisation der „Werkstatt“-Räte beteiligt. Gemeinsam müssen wir nach den richtigen Wegen suchen, die zur Inklusion führen. Der Bundestag muss sich daran unbedingt beteiligen.

Für uns „Inklusionspropheten“ ist es wichtig, dass wir uns nicht von politischer Gleichgültigkeit, der inklusionswidrigen Ideologie und dem anti-reformerischen Beharrungsvermögen der „Werkstätten“-Szene unterkriegen lassen: ausdauernd weitermachen und offen sagen, was wirklich ist, ohne nach Zustimmung zu haschen. Was ich will? Mit und für Menschen mit Beeinträchtigungen die Welt verbessern und damit bei uns beginnen, zum Beispiel beim „Werkstätten“-System.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.