Menu Close

Heute vor 40 Jahren – Auftakt des UNO-Jahres der Behinderten

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Berlin (kobinet) Das Jahr 1981 war ereignisreich, wie der Hobby Chronist der kobinet-nachrichten und heutige Rechtsanwalt Dr. Martin Theben zu berichten weiß. Zum Auftakt dieses bewegten Jahres hier ein erster Bericht des Chronisten aus Berlin zu diesem ereignisreichen Jahr vor 40 Jahen, der sich mit dem Auftakt des UNO-Jahres der Behinderten am 24./25. Januar 1981 und den Reaktionen darauf befasst.

Bericht von kobinet-Chronist Dr. Martin Theben

Das Jahr 1981 war ereignisreich: In Westberlin platzte vor 40 Jahren zum Auftakt der sozialliberale Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Dietrich Stobbe (SPD) wegen eines, wie konnte es damals anders sein, Bau-Finanzskandals. Auf dem internationalen Polit-Parkett betraten die Präsidenten Reagen (USA) und Mitterand (Frankreich) die Weltbühne. Im Oktober fand in Bonn die bis dahin größte Demonstration der Friedensbewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss statt. Und im Sommer, das Medienereignis des Jahres, heiratete Lady Diana Spencer prunkvoll den englischen Thronfolger Prinz Charles, zugleich Prinz of Wales. Der Mythos Lady Di wurde geboren, er fand im August 1997 in einem Pariser Auto-Tunnel sein tragisches Ende und gebahr zugleich – eine Legende. Und dann war da noch das Internationale UNO-Jahr der Behinderten.

UNO-Jahr der Behinderten – der Auftakt am 24./25. Januar 1981

Die offizielle Eröffnungsveranstaltung des UNO-Jahres der Behinderten 1981, so übrigens beschlossen von der UN-Generalversammlung schon im Jahre 1976, sollte zwei Tage andauern und am 24. und 25. Januar 1981 in der Dortmunder Westfalenhalle stattfinden. Für die Veranstaltung war ausschließlich für diese zwei Tage extra ein Fahrdienst mit über 22 Fahrzeugen organisiert worden. Gleich am ersten Tag bewegte sich ein Protestmarsch von Menschen mit Behinderungen und Sympathisant*innen auf die Festhalle zu und zog unter Absingen eines nach der Melodie des evangelischen Kirchenliedes DANKE FÜR DIESEN SCHÖNEN MORGEN (es war 1963 auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund intoniert worden) selbstverfasstes Protestliedes in die Halle ein.

Der Einzug war dem ANACHRONISTISCHEN ZUG Berthold Brechts nachempfunden. Ein Rollstuhlfahrer war fast nackt, um so gegen die Sicht auf Behinderte als geschlechtslose Wesen zu protestieren. Viele dieser Demonstrant*innen hielten Plakate mit diversen Losungen hoch. Mitglieder dieser sich selbst so bezeichneten Krüppelbewegung, zu denen beispielsweise mit Michael Eggert auch Aktive aus (West)Berlin gehörten, besetzten schließlich die Bühne und ketteten ihre Rollstühle aneinander. So sollte verhindert werden, dass sie von der Bühne getragen werden konnten. Bei der Besetzungs-Choreographie achteten die Organisator*innen der Protestierenden darauf, auf der Bühne möglichst nur sichtbare Behinderte zu „präsentieren“. Kurz vor der Protestaktion hatte der damals schon sehr populäre niederrheinische Kabarettist und Liedermacher Hans-Dieter Hüsch sein Programm beendet und solidarisierte sich mit den Demonstrant*innen. Eine Teilnehmerin erklärte dann die Bühne für besetzt und forderte alle Anwesenden zur Solidarität mit den Protestierenden auf.

Die Teilnehmer*innen riefen das UNO-Jahr zum Jahr der Behinderer aus, entrollten ein Transparent und proklamierten ihr eigenes Motto zum UNO-Jahr: „JEDEM KRÜPPEL SEINEN KNÜPPEL“. Sie forderten mehr Selbstbestimmung, politische Teilhabe und ein Ende der Mitleidskultur. Die offiziellen Veranstaltungen wurden, von Horst Frehe als „Integrationsoperette“ bezeichnet. Gusti Steiner, der schon am 8. Mai 1980 auf der Demonstration gegen das Frankfurter Behindertenurteil gesprochen hatte, sekundierte, keiner der geplanten Reden sei es Wert, angehört zu werden, weil „keine dieser Reden unsere Situation verändert“. Franz Christoph forderte, sich dem Jahr der Behinderten zu verweigern. Dann intonierten die Teilnehmer*innen ein weiteres Protestlied nach der Melodie von HEJO SPANN DEN WAGEN AN, in dem es hieß: „Wehrt Euch! Leistet Widerstand!“. Verzweifelt versuchte eine der Offiziellen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Abbruch der Besetzung zu bewegen: „Mal muss doch auch Schluss sein!“. Schluss war aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Es fing gerade erst an…

Die Reaktion des Staatsoberhauptes auf die Proteste

Bundespräsident Karl Carstens (CDU), geboren am 14. Dezember 1914 in Bremen und gestorben am 30. Mai 1992 in Meckenheim, war am 23. Mai 1979 trotz Kritik an seiner Mitgliedschaft in der NSDAP – das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte in seiner Ausgabe vom 13. November 1978 über entsprechende Vorwürfe berichtet – zum 5. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Carstens und der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Dr. Herbert Ehrenberg (SPD) mussten für ihre Reden in eine Nebenhalle ausweichen. Sichtlich unter dem Eindruck der Proteste stehend, bemerkte der Bundespräsident eingangs trotzig: „die Paar die hier stören, die lösen das Problem der Behinderten bestimmt nicht. Wir müssen es lösen.“ Er appellierte dann in seiner kurzen und vom offiziellen Redemanuskript etwas abweichenden Rede an alle Mitbürger guten Willens, ihm und der Bundesregierung zu helfen, das „Schicksal und das Leben unserer behinderten Mitbürger zu erleichtern“.

Diese neue und radikale Protestform erregte große, auch mediale Aufmerksamkeit; am Abend berichtete auch die Tagesschau von der Aktion. Auch die Hamburger Wochenzeitschrift DIE ZEIT berichtete in ihrer Ausgabe vom 30. Januar 1981 unter der Überschrift „JAHR DER BEHINDERER“ von den Protesten. Der Filmemacher Wolfram Deutschmann bannte all dies und weiteres zum UNO-Jahr in seinem Film LIEBER ARM DRAN ALS ARM AB, einer Abschlussarbeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin auf Zelluloid lieber arm dran als arm ab – Widerstand 1981 gegen das Jahr der Behinderten – Bing video

UNO-Jahr der Behinderten 1981 – Debatte Hessischer Landtag

Am 28. Januar 1981, und damit vier Tage nach den Protesten während der Eröffnungsveranstaltung zum UNO-Jahr der Behinderten in der Dortmunder Westfalenhalle, debattierte der Hessische Landtag in seiner 59. Sitzung der 9. Wahlperiode sowohl eine Große Anfrage der SPD-Fraktion betreffend Kriegsopferversorgung, als auch eine Große Anfrage der damals oppositionellen CDU-Fraktion, betreffend die Situation der Behinderten in Hessen.

Neben den konkreten Belangen der Kriegsversehrten wurde in dieser Landtagsdebatte auch ausgiebig über die Lage der Behinderten in Hessen gesprochen. Es wurden eine ganze Reihe von Initiativen, Einzelschicksalen und vor allem Zahlen bemüht, um je nach Sichtweise der die Regierung tragenden SPD oder der oppositionellen CDU die Lage der Behinderten zu beschreiben. Dabei waren sich die Abgeordneten sehr wohl bewusst, dass diese Debatte quasi zum Auftakt des UNO-Jahres der Behinderten stattfand. Insofern interessieren hier vor allem auch die allgemeinen, zum Teil sehr vollmundigen Aussagen der Abgeordneten sowie der Vertreter der Landesregierung. Für die Regierungsfraktion der SPD ergriff zunächst der Abgeordnete Karl Leinbach das Wort: „Wichtigste Aufgabe des internationalen Jahres der Behinderten ist es vor allem auch, das Verständnis der breiten Öffentlichkeit für die Sorgen und Nöte der Behinderten zu wecken oder zu verstärken. Sie als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft anzusehen, muß für jeden einzelnen, so meine ich, selbstverständlich sein.“

Dieser Ankündigung wollte die Opposition natürlich nicht nachstehen. Für die CDU-Fraktion erklärte dessen Abgeordneter Erwin Immel: „Es ist eine verbreitete Meinung, die Zahl der Behinderten nehme in der Zukunft ab. Vielmehr müssen wir annehmen, daß die Zahl der Behinderten wachsen wird und damit unsere Gesellschaft ein dauerhaftes Problem erhält, nämlich: Behinderte Menschen, ob jung oder alt, voll in die Gemeinschaft zu integrieren, ohne die Mitleidstour zu fahren oder Alibimaßnahmen vorzutäuschen.“ An dieser Stelle verzeichnet das Protokoll Beifall bei der CDU. „Bedenken wir bei unserer Debatte, daß die Behinderten mitten unter uns leben wollen und keine falsche Rücksichtnahme wünschen, daß sie sich aber gleiche Startchancen erbitten. Bedenken wir weiter, daß jeder von uns, wie wir hier sitzen, heute, morgen oder übermorgen selbst Behinderter werden kann; wir sind da nicht ausgeschlossen; es ist irrig, zu meinen, diese Probleme beträfen nur andere.“

Sodann äußert sich der Abgeordnete Immel in seinem Redebeitrag kritisch zum gerade begonnenen UNO-Jahr der Behinderten und führte aus: „Meine Fraktion und wahrscheinlich alle in diesem Hause begrüßen die Einrichtung des Jahres der Behinderten als ein lobenswertes Vorhaben, die menschlichen, beruflichen und rechtlichen Probleme der Behinderten in besonderer Weise ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu rücken und für Lösungsmöglichkeiten zu sorgen, wenngleich ich den Eindruck nicht los werde, daß das Behindertenjahr das gleiche Schicksal haben wird, wie das Jahr der Frau und auch das Jahr des Kindes für die Betroffenen damals. Es wird mit Sicherheit, wie ich die Abläufe kenne, nicht viel mehr herauskommen, als Deklamationen. Die CDU-Fraktion möchte mit dieser Großen Anfrage zur Situation der Behinderten in Hessen aber diesen theoretischen Teufelskreis der Nabel-Problemschau durchbrechen; unsere Anfrage soll als Initialzündung dienen und verstanden werden. Es geht im Bereich der Behindertenpolitik nicht weiter an, nur den Mund zu spitzen, hier muß auch gepfiffen werden.“ Erneut verzeichnet das Protokoll Beifall bei der CDU. Sodann der Abgeordnete Immel weiter: „Das heißt ganz konkret: Das Parlament und auch die Landesregierung dürfen nicht nur über Behindertenschicksale wie heute debattieren, sie müssen auch bereit sein, die Konsequenzen zu ziehen und mit Sicherheit sind das auch finanzielle Konsequenzen.

Für die Freien Demokraten ergriff deren Abgeordnete Edith Strumpf das Wort. Sie ging in ihrem Debattenbeitrag ausführlich noch einmal auf die Kritik am Frankfurter Reiseurteil, aber auch auf die soeben stattgefundenen Proteste in Dortmund während der Eröffnungsveranstaltung zum UNO-Jahr ein. Deutlich führte die Abgeordnete Strumpf aus: „Es gab hier und da vernünftige Kritik, es gab maßvolle Proteste, es gab Demonstrationen. Soweit, so gut. Gericht und Klägerin wurden aber auch mit einer Flut übelster Beschimpfungen überzogen. Sie wurden massiv diffamiert und persönlich an Leib und Leben bedroht. Der blanke Hass loderte auf. Die Medien waren voll mit Berichten darüber. Die übelsten und geschmacklosesten Vergleiche zu KZ-Greuel wurden in aller Öffentlichkeit gezogen. Es meldete sich kaum eine Gegenstimme und das war ganz und gar nicht mehr gut. (…) Die völlig überzogene Kampagne gegen das Frankfurter Urteil, besonders aber die Angriffe auf Richter und Klägerin, haben zwar den Rechtsstaat nicht verletzt, aber sie haben auf ihn gezielt. Der Sache der Behinderten aber haben sie keineswegs genützt. Ebenso wenig wie die Behindertenproteste der vergangenen Woche in der Dortmunder Westfalenhalle anlässlich einer Veranstaltung mit dem Bundespräsidenten.“ Nach dieser Passage verzeichnet das Protokoll Beifall bei der FDP und der CDU. Die Abgeordnete Strumpf dann weiter: „Es war ein Aufruhr der Gefühle und auch noch das Schweigen vieler, etwa der direkt Angegriffenen, auch dieses Schweigen war noch vom Gefühl diktiert. Genau aber Gefühle, Emotionen, Verkrampfungen auf beiden Seiten sind es, die dem unbefangenen Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten elementar entgegenstehen.“ Erneut Beifall bei der FDP und der CDU. „Und da ist Mitleid oft ebenso ein Hindernis wie Ablehnung. Alle Menschen, und nicht zuletzt die Behinderten selbst, sollten darum bemüht sein, ihre Konflikte nüchtern und ihre Probleme rational anzupacken, auch die mit der Justiz. Daß die Behinderten dabei Anspruch auf menschliche Solidarität haben, ist selbstverständlich.“ Das Protokoll verzeichnet Beifall bei der FDP.

Für die Hessische Landesregierung nahm dann dessen Sozialminister Armin Clauss (SPD) Stellung. Weite Teile seines Beitrages betrafen die Kriegsopferfürsorge oder einzelne Aspekte der Behindertenpolitik in Hessen. An einer Stelle seiner Rede ging er aber auch noch einmal bezugnehmend auf die Äußerungen des Abgeordneten Immel auf das UNO-Jahr der Behinderten ein: „Was wir alle in diesem Jahr der Behinderten noch stärker lernen müssen, ist, daß es sich bei Behinderten schlicht und einfach um Menschen wie wir handelt, die nicht wollen, daß sie überbetreut werden und die nicht wollen, daß wir ihnen Mitleid entgegenbringen, sondern die schlicht und einfach wollen, daß sie Hilfe bekommen, Hilfe lediglich für den Ausgleich der jeweiligen konkreten Fehlfunktionen, um mit dieser Hilfe sich voll entfalten und ihre Grundbedürfnisse entsprechend befriedigen zu können.“

Bis es soweit war, würde aber noch sehr viel Wasser den Main herunterfliesen. Aber ein kraftvoller und medienwirksamer Auftakt waren diese ersten Protestaktionen auf jeden Fall. Die Krüppelbewegung war geboren…!

Mehr zum UNO-Jahr 1981 u.a. hier Archiv Behindertenbewegung – Proteste zum UNO-Jahr der Behinderten (archiv-behindertenbewegung.org) und hier Internationales Jahr der Behinderten 1981, Eröffnungsveranstaltung am 24./25.1. (zeitzeugen-projekt.de)

Höflicher Aufruf: Wer sich selbst oder andere in dem Film von Wolfram Deutschmann wiedererkennt, kann sich bei der Redaktionm oder dem Chronisten selbst unter [email protected] sehr gerne melden. Das Thema wird gerne weiterbearbeitet.