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Um es mit Frida Kahlo zu sagen: Leben mit Dauerschmerz

Jennifer Sonntag
Jennifer Sonntag
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HALLE (KOBINET) "Um es mit Frida Kahlo zu sagen: Mein Leben mit dem Dauerschmerz", so titelt die Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag ihren Beitrag für die kobinet-nachrichten, in dem sie sich mit ihrem Leben mit chronischen Schmerzen auseinandersetzt.

Um es mit Frida Kahlo zu sagen

Mein Leben mit dem Dauerschmerz

Beitrag von Jennifer Sonntag

Zu meinen wohl größten Inspirationen gehört die charismatische mexikanische Malerin Frida Kahlo. Sie versuchte ihre Behinderung und die damit verbundenen physischen und psychischen Schmerzen mit viel Lebenslust, Genussfreude, Liebe, Leidenschaft und noch mehr Kreativität zu kompensieren. In ihre Bilder, ihre außergewöhnliche Kleidung und ihren unkonventionellen Lebensstil fühle ich mich mit Hilfe lebendiger Hörbücher und durchbluteter Beschreibungen Sehender ein, da ich aufgrund meiner eigenen Erblindung keinen optischen Zugang zu dem farbenprächtigen Erbe habe, welches uns die „Königin der Schmerzen“ hinterließ.

Aus der Lebensbewältigung schillernder Frauen mit Behinderungen nehme ich mir selbst stets die Aspekte heraus, die mir für meine eigene Behinderungsverarbeitung sehr hilfreich erscheinen. Man möge mir glauben, dass ich eine große Verehrerin der Weiblichkeit bin und in diesem Text lediglich der leichteren Schreibbarkeit wegen auf die Ergänzung „Innen“ verzichten möchte. Nun ist es in der Auseinandersetzung mit Frida Kahlos Leben dieses prägende Thema, welches ich auch in meinem inneren Spiegel täglich sehe: der chronische Schmerz. Man kennt mich als blinde Autorin, Moderatorin, Inklusionsbotschafterin, Sozialpädagogin, nicht aber als Schmerzpatientin. In keiner meiner Publikationen habe ich mich bislang dazu geäußert, möchte es jedoch endlich tun, um anderen Betroffenen Mut zur Selbststärkung zu machen und um selbst auch ein Stück vollständiger zu werden, ein Stück echter und ehrlicher.

Im Gegensatz zu meiner Blindheit begleitet mich der Dauerschmerz der Fibromyalgie unsichtbar und gehört, wie viele chronische Erkrankungen, zu den am schwersten kommunizierbaren „Leiden“. Menschen mit Behinderungen hören dieses Wort nicht gern, sehen sie sich doch nicht als Leidende, meine schweren chronischen Schmerzen zwingen mich aber zugegebenermaßen im wahrsten Wortsinn ganz schön in die Knie. Dies festzuhalten, ist jedoch nicht die Absicht meines „Outings“ als Schmerzpatientin, sondern viel mehr das Erleben und Erkennen dessen, welche Kräfte sich freisetzen lassen, wenn man Dinge offen anspricht. Im Rahmen meiner Peer Beratungen durfte ich diese Erfahrung zu verschiedenen Themen immer wieder machen und auch selbst immer wieder davon profitieren. Wenn aus dem „Ich“ ein „Wir“ wird, wenn aus passiv Leidenden aktiv Gestaltende werden, lässt sich auch ein chronischer Schmerz in ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben einbetten und kann sogar verblassen oder, symbolisch gesprochen, in ein schönes Gemälde integriert werden. Ich möchte deshalb mit meinen persönlichen Pinselstrichen festhalten, wie ich dem Schmerz konstruktiv begegne und welche Impulse mir Kraft und Mut geben.


1. Pinselstrich:
Der Schmerz lässt uns authentisch werden

Frida Kahlo musste aufgrund ihres Unfalls und der daraus resultierenden zahlreichen Operationen, auch ihrer späteren damit verbundenen Schmerzen, immer wieder viel Zeit liegend verbringen. Um kreativ arbeiten zu können, ließ sie sich an ihrem Bett eine Staffelei anbringen. Außerdem installierte man einen Spiegel, in dem sie sich für die Entwicklung ihrer Selbstportraits gut erkennen konnte. Diese waren bekanntlich zu einem großen Teil auch schmerzverarbeitenden Charakters. Mich hat dieses Szenario oft dazu ermuntert, das Bett durchaus als lebendigen schöpferischen Ort zu begreifen, müssen wir Schmerzpatienten es in manchen Phasen doch häufiger aufsuchen, als uns lieb sein kann. Es fällt mir schwer, dieses „Hinlegenmüssen“ in meinem Alltag zu akzeptieren.

Ich möchte mich nicht so wahrnehmen, nicht so wahrgenommen werden. Nichts in meinem Leben zwang mich jedoch bislang so in meine Authentizität wie meine Schmerzen. Wenn sie unerträglich sind kann ich mich nicht mehr für die anderen verstellen, nicht mehr wie sie und für sie funktionieren, so tun als ob alles super sei, mich Dingen anpassen und unterordnen, die mir schon ohne Schmerzen eigentlich nicht gut täten. Die Schmerzen werfen mich auf meine absolute Echtheit und Ehrlichkeit zurück, ich kann nichts mehr überspielen, nichts mehr unnötig kompensieren, ich muss einfach jetzt und hier auf meinen Körper hören. Das war und ist für einen Menschen wie mich im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit, habe ich doch nicht wirklich gut gelernt, meine wahren Grenzen und Bedürfnisse klar zu kommunizieren und in meinen Mustern und Glaubenssätzen war es lange darum gegangen, die Erwartungen anderer nicht zu enttäuschen. Ich habe mir in sämtlichen sozialen Situationen vorgestellt, wie die anderen mich wohl sehen und was sie von mir denken, wollte immer das Beste für alle. Was mir zu tiefste Freude bereitete, dazu hatte ich keinen Zugang.

Von mir gedacht hat man das nicht. Schon oft habe ich diesen Satz zitiert, der meine Sozialisation als sehbehindertes Mädchen prägte: „Du musst immer zehnmal besser sein als die Normalsehenden, um in der Gesellschaft etwas wert zu sein“. Oft entlud sich diese Überforderung in schweren Migräneanfällen. Zum Glück sahen diese unappetitlichen An- und Ausfälle nur meine engsten Vertrauten und die Ärzte, denn dieses Leiden konnte ich hinter verschlossenen Türen verstecken, ich musste nur schnell genug nach Hause kommen. Bei der Fibromyalgie ist es anders, sie ist immer anwesend und geht nicht vorbei, ich vergleiche sie meist mit einer Dauermigräne am ganzen Körper, die Muskeln und Sehnenansätze betrifft. Ähnlich wie mein Tinnitus seine Geräusche, spielt sie permanent ihre Schmerzschleife durch. In einer schweren Lebensphase vor zwei Jahren, in der ich körperlich und mental keine Ressourcen hatte, waren Tür und Tor geöffnet für dieses Syndrom. Nun bin ich eigentlich ein agiler und engagierter Mensch und möchte nicht nur in Gedanken leben. Im täglichen Schaffen und Wirken kann ich jedoch aufgrund meiner starken Schmerzen nur kleine Energiefenster öffnen. So oft wünsche ich mir ein Klappbett für unterwegs oder eine Art transportablen Rückzugs- und Ruheraum zum aufblasen und wieder zusammenfalten, je nach Bedarf. Manchmal muss ich mich in einem Kaufhaus einfach auf den Boden setzen, weil ich nicht mehr stehen kann und manchmal kann ich bei einer Veranstaltung nicht mehr sitzen und muss gehen, obwohl ich vor kurzem erst gekommen bin.

Vor meiner Schmerzerkrankung war mir nicht bewusst, wie viele unsitzbare Stuhl- und Lehnenformen es gibt und wie oft Menschen sitzend miteinander interagieren müssen. Das „Aussitzen“ von Situationen ist für Schmerzpatienten unerträglich. Vielleicht hat das auch etwas Positives. Unser Körper erlaubt es uns nicht mehr. Allzu oft hat man es in Kauf genommen, es selbst wahnsinnig unbequem zu haben, als im Umkehrschluss riskieren zu wollen, als unbequem zu gelten. Oft beobachte ich an Menschen ohne Behinderungen oder chronische Erkrankungen, dass es ihnen viel leichter fällt, ehrlich auszusprechen, wenn es ihnen nicht gut geht: „Sorry, ich komm heut nicht zur Party, ich hab irre Zahnschmerzen“ oder „Können wir die Musik mal leiser machen, ich hab Kopfschmerzen“. Auch ist Mensch dann mal leicht gereizt oder unkonzentriert, wenn er sich was gezerrt oder einen Nerv eingeklemmt hat. Das ist auch ziemlich nachvollziehbar. Wer würde da auf die Idee kommen z.B. zu dem Typen mit den Zahnschmerzen zu sagen: „Jetzt beiß mal auf die härteste Möhre hier, mit den heftigsten Zahnschmerzen musst du noch zehnmal kräftiger zubeißen als Leute ohne krasse Zahnschmerzen.“ Absurd, oder?

In der Behindertenpädagogik war das viele Jahrzehnte lang eine sehr bedenkliche, aber doch zugkräftige Logik. Warum fällt es uns Menschen mit Behinderung und/oder chronischen Krankheiten manchmal so schwer, unser Befinden anzusprechen? Alle am Tisch könnten viel angemessener auf unsere Verfassung reagieren. Wir Betroffenen haben große Angst, als Jammerer zu gelten, Angst vor verletzenden Kommentaren und Unverständnis, wollen vielleicht nicht noch zusätzlich unangenehm auffallen, über die eigentliche Behinderung hinaus. „Was die Allgemeinheit nicht kennt, wird sie nicht verstehen und als schrullig abtun“, das denken wir uns und häufig liegen wir damit sogar richtig. Unter einem Gipsbein könnte sich eben jeder viel leichter etwas vorstellen und auch, welche Nöte damit verbunden sind. Was wir da haben ist schon etwas tricky. Wenn wir aber nicht zeigen, wie es uns wirklich geht, kann das auch keiner von den uns Wohlgesonnenen erkennen, wir können nie ganz echt bei der Sache sein und dazugehören. Mir war es oft sogar schon unangenehm unter Freunden über einen Physiotherapietermin zu sprechen, weil ich mir so furchtbar unzulänglich vorkam. Ich war dann voller echter Bewunderung für die anderen, die so frei und offen über ihre kleinen „Zipperlein“, aber auch größere Sorgen und Nöte in Austausch treten konnten, ohne um ihre Akzeptanz oder Anerkennung in der Gruppe fürchten zu müssen. Sie konnten einfach authentisch sein. Wenn jemand für uns und unsere Situation kein Verständnis aufbringen kann, müssen wir lernen, dieses Problem bei ihm zu lassen. Ich sage dazu inzwischen: diese Katze auf dessen Schoß sitzen zu lassen. Wir können höflich unsere Lage schildern, darüber hinaus sind wir für die Erkenntnistätigkeit anderer jedoch nicht verantwortlich.

Frida Kahlo hat ihren Schmerz in Bildern, Tagebucheinträgen und Briefen zum Ausdruck gebracht. Sie hat ihn nicht vor ihren Freunden oder der Öffentlichkeit verheimlicht. Nun wird nicht jeder von uns seinen Schmerz derart sichtbar machen, wie es die mexikanische Malerin tat, ich nehme jedoch für mich mit, dass ich meine Situation in meinen Korrespondenzen nicht mehr verschweigen möchte, nicht da, wo es für mich entlastend ist, authentisch zu sein. Auch ich nutze Alltagshilfen, die aus jeder Situation das Machbarste herausholen, ohne mich darüber zu ärgern, was eben gerade alles nicht geht oder niemals mehr funktionieren wird. So verfasste ich z.B. ein 500 Seiten starkes Buch unter zum Teil sehr starken Schmerzen in einem ständigen Bewegungswechsel zwischen lebenspraktischen Umbauten: einem von meinem Vater für mich extra entworfenen und individuell gefertigten Schreibtisch, einem von meinem Partner besorgten Stehpult für den Laptop und einer Heiz- und Stützkissenlandschaft von meiner Mutter, mal ganz zu schweigen von diversen Experimenten mit Matten, Rollen und Stuhlvarianten, stets reich beschienen von Großmutters Rotlichtlampe. So wie ich gelernt habe, mein räumliches Umfeld meinen körperlichen Bedürfnissen anzupassen, lerne ich auch, in meiner Kommunikation authentischer zu werden. Dazu muss ich mir selbst darüber klar sein, wann ich mich z.B. mit wem wo wie lange treffen möchte und warum überhaupt. Situationen, die nicht passen, kann ich mir schmerzbedingt einfach nicht mehr leisten. Früher hatte ich weitaus mehr Kraft, mich zu verschwenden. Vielleicht ist die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Energiefenstern auch ein gesunder Filter. Uns Schmerzpatienten hilft es sehr, wenn man unsere Entscheidungen respektiert und eine Absage oder ein früheres Gehen nicht übel oder gar persönlich nimmt. Das würde uns ein schlechtes Gewissen machen, was die Schmerzen nicht gerade entspannt.

 

2. Pinselstrich:
Der Schmerz führt zu kreativen und oft wertvolleren Lösungen

Was mich in der Auseinandersetzung mit Frida Kahlos Geschichte immer wieder faszinierte, waren die besonderen „Geht-nicht-gibt’s-nicht-Momente“. Wenn sie etwas wirklich wollte, fand sich häufig eine Lösung, die wir heute als inklusiv bezeichnen würden. Legendär ist ihr Auftritt im Bett, bei ihrer wohl spektakulärsten Ausstellung, die sie aus gesundheitlichen Gründen nur liegend besuchen konnte. Auch konnte die Malerin, die zeitweilig als Kunstlehrerin tätig war, ihre Schüler aufgrund ihrer körperlichen Schmerzen nur anfänglich am Ausbildungsort unterrichten, später erlaubte man ihr, den Kurs in ihrem Haus weiterzuführen.

Ich selbst bekomme oft zu hören: „Wenn der ’normale‘ Weg nicht funktioniert, dann funktioniert es eben gar nicht.“ Dabei habe ich in meinem eigenen doch etwas anderen Leben oft genug auch andere Lösungen finden müssen. Allein die Blindheit erlaubt keine Otto-Normalverbraucher-Strategien. Wenn etwas nicht ging, hatte ich immer sofort eine Idee, was statt dessen möglich war, war der gerade Weg verbaut, ging ich den krummen und oft traf ich dort die wesentlich interessanteren Menschen und entwickelte die wesentlich interessanteren Projekte. „Das macht keiner so“ oder „Die anderen machen das aber so“ oder „Das würde jeder so sehen“ sind Sätze, von denen wir uns getrost verabschieden können, denn alle, jeder und keiner trifft insbesondere auf uns Schmerzgeplagte nicht zu. Und wenn es hundert Menschen anders machen, wir brauchen eine für uns stimmige Lösung, eine authentische, gerade wenn wir starke Schmerzen haben. Und kein anderer Schmerzpatient wird ganz genauso vorgehen wie wir, weil er sich seinen ganz eigenen Lebenspullover stricken wird, der eben speziell ihm passt.

Ich z.B. erhalte sehr viele Anfragen für Lesungen, Vorträge, Seminare und Workshops im gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus. Da ich aufgrund meiner Schmerzerkrankung nicht lange sitzen, stehen, gehen und manchmal auch nicht liegen kann, wäre das für mich eine Tortur. Veranstaltungen biete ich deshalb ausschließlich in meiner Region und sehr ausgewählt an, handhabte es aber stets so, meine Themen zu verschriftlichen. Mit meinen Büchern und verschriftlichten Workshop-Sammlungen erreiche ich somit einen wesentlich größeren Interessentenkreis und auch die Menschen, die meine Veranstaltungen gar nicht hätten besuchen können. Menschen mit meinen Themen zu erreichen, das ist mir wahnsinnig wichtig und das geht auch mit Worten, nicht nur durch lange Zug- und Autofahrten. Ein für mich schöner Kompromiss, auch innerhalb meiner Fernsehsendung, denn auch von meinen „SonntagsFragen“ aus kann ich zu den Menschen sprechen. Generell stelle ich meine Arbeit gern im Netz oder innerhalb meiner Bücher zur Verfügung, eine Variante, die sich ohne meine Grenzen, die ich an anderer Stelle habe, vielleicht nicht ergeben hätte.

Auch umgekehrt werde ich häufig zu Events, Konferenzen und Tagungen eingeladen, aufgrund meiner Schmerzerkrankung kann ich aber nicht alles zusagen. Ich entscheide von Fall zu Fall, wie offen ich meine Schmerzen kommuniziere. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass es mir umso besser geht, je weniger ich um den heißen Brei herumreden muss. Wenn sich Grenzen verschieben, entstehen manchmal andere Sichtweisen und Möglichkeiten, Dinge anzugehen und das in nahezu jedem Lebens- und Arbeitsbereich. Das kann neue Perspektiven eröffnen und manchmal zu besseren Ergebnissen für alle führen. So entstand die Idee von ortsunabhängigen Telefonvorträgen, Audiodokumentationen zur bundesweiten Nachnutzung und vielfältige Optionen für Interessenten, die aus verschiedenen Gründen eine Veranstaltung nicht direkt besuchen konnten. Generell bieten Fernkurse, Vorlesungsmitschnitte, Webinare oder Bildungsangebote, die man von Zuhause aus und in lernbereiter Verfassung wahrnehmen kann, einen Mehrwert für ganz viele Menschen, auch jenseits von Mobilitätseinschränkung oder chronischen Schmerzen.

Flexible Angebote erlauben einem großen Personenkreis Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Was dieser Pinselstrich sagen will ist also: Schmerzen verschieben Grenzen und eröffnen im konstruktiven Sinne neue Denk- und Handlungsräume, die – und das ist jetzt wirklich eine inspirierende Wendung – auch anderen nützen können. Interessanter Nebeneffekt also: das Prinzip „Keiner, andere oder jeder“ kann sich auch ganz unbemerkt relativieren und manchmal sind dann gerade diejenigen die größten Nutznießer einer Sache, die sie vorher abgelehnt haben. Ich denke da auch an Arbeitsmaterialien in Therapiezentren, die blinden Menschen häufig nicht zur Verfügung stehen. Der Ausschluss nichtsehender Patienten kommt häufig dadurch zustande, dass Materialien und Denkmuster zu einem großen Teil visuell geprägt sind. Ich habe selbst erlebt, wie sehende Menschen die eigene Sinneswelt erweitern lernen, wenn sie sich der Wahrnehmung blinder Kommunikationspartner öffnen und dadurch gemeinsam etwas Bereicherndes für alle entstehen kann.

 

3. Pinselstrich:
Der Schmerz zapft die wahren Glücksquellen an

Frida Kahlos extravaganter Kleidungsstil, die prachtvoll bestickten bunten Röcke und Oberteile, die traditionellen Tücher und Schmuckstücke, der aufwändige Kopfputz, all das wählte sie nicht nur aufgrund ihrer Verbundenheit mit der mexikanischen Eingeborenenkultur, sondern auch sehr bewusst zur stilvollen Umhüllung ihrer körperlichen Behinderungen aus. Ihr orthopädisches Gipskorsett bemalte sie mit symolischen Motiven und integrierte es in ihren Look. Selbst nach ihrer Beinamputation ließ sie für beide Füße, auch für die Prothese, zwei kunstvolle rote Stiefelchen mit goldenen Glöckchen fertigen. Ihre Ärzte und Krankenhausaufenthalte hatten einen festen Platz in ihrer Kunst. Auch hier darf jeder für sich entscheiden, was sich für ihn persönlich gut und richtig anfühlt.

Ich selbst habe schon oft gesagt, dass ich mich gern mit Schönem befasse, um das Unschöne besser beim Kragen packen zu können. Für mich waren meine Outfits immer ein starkes, kraftgebendes Ausdrucksmittel, nie eine Verkleidung. Meine für mich besonderen Kleidungs- und Schmuckstücke sind und waren auch immer ein Teil meiner Behinderungsverarbeitung und Heilung und an dieser Stelle fühle ich mich Frida sehr nahe, sie waren es selbst im Krankenhaus, in jener Zeit, die mich über einige Monate das Glück von einer neuen Seite begreifen ließ. So konnte mich auch dort manchmal mein Parfümflakon für einen kurzen Moment in eine sinnliche orientalische Geschichte sprühen oder mein kirschroter Lippenstift mir zu neuer Lebenslust verhelfen. Ich habe gelernt, ähnlich wie in der Malerei, zu kontrastieren, um meine Glücksquellen anzuzapfen. Auch für uns Schmerzpatienten ist das eine hilfreiche Methode.

Wir dürfen uns fragen: Wann und wodurch verstärkt sich der Schmerz? Diese Schmerzverstärker in unserem Alltag können wir reduzieren. Und als Kontrast: Was macht den Schmerz kleiner, wann ist er nicht so präsent? Diese Aspekte im Alltag können wir ausbauen. Mir persönlich ist eine feste Tagesstruktur zur Schmerzbewältigung sehr wichtig. Da ich jeden Tag mit starken Schmerzen leben muss, kann ich nie ohne festen Plan in den Tag starten, sonst würde ich mich im Schmerz verlieren und er wäre noch unerträglicher. Nach einer langen Entdeckungsreise weiß ich inzwischen, was mich wirklich glücklich macht. Jeder darf das für sich und seine Bedürfnisse herausfinden, denn nur der eigene Plan wird auch wirklich stimmig für einen selbst sein. Mir hat die Anschaffung eines Blindenführhundes sehr geholfen, da ich mich mit ihm selbstbestimmt und nach meinen Möglichkeiten bewegen kann. Gerade bei Fibromyalgie ist angemessene Bewegung sehr wichtig, statische Tätigkeiten verstärken den Schmerz. Beim Unterhaken bei einer Begleitperson oder dem Pendeln mit dem Blindenlangstock verkrampfte ich jedoch oft noch mehr. Beim Laufen mit Führhund halte ich meine Arme entspannt nach unten, er akzeptiert meine Zeiten, mein Tempo, meinen Rhythmus und benötigt wie ich jeden Tag frische Luft. Ich kann täglich selbst bestimmen, wie ich einen Spaziergang gestalten möchte, die Hauptsache ist, ich kann mit meinem Hund die Natur erleben. Darüber hinaus tut mir Yoga sehr gut, für mich genau die richtige Mischung aus Mobilisierung und Stabilisierung, aus Anspannung und Entspannung der Muskulatur.

Außerdem liebe ich meine Hörbücher und schreibe selbst gern. Wie auch bei diesem Text erlauben mir meine Schmerzen manchmal nur wenige Worte, manchmal mehrere Zeilen. Jeden Text weiß ich inzwischen sehr zu schätzen, weil er nicht selbstverständlich ist, weil ich ihn, um es mal literarisch zu sagen, unter Schmerzen geboren habe. Glücklich machen mich auch die Köstlichkeiten, mit denen mich mein Partner verwöhnt, unsere Unternehmungen, überhaupt unsere tiefsinnige Liebe, der Garten meiner Eltern und sie als Menschen an meiner Seite, meine wirklich echten Freunde und meine mit Bedacht ausgewählten Engagements, die mein Leben bereichern. Dabei ist meine persönliche „Schlagzahl“ entscheidend, weniger ist mehr und ich kann nur in kleinen Schritten gehen.

Ich schreibe dies auf, um anderen Mut zu ihrer persönlichen Glücksliste zu machen und, noch viel wichtiger, der daraus resultierenden schmerzfreundlichen Tagesstruktur. Wir sollten jeden Morgen mit dem sicheren Wissen um unsere entlastenden Strategien aufstehen. Es ist wichtig herauszufinden, was wir selbst tun können.

Schmerzpatienten haben oft einen aufreibenden Ärztemarathon hinter sich, haben alle gängigen Schmerzmittel durchprobiert und ließen sich auf zahlreiche, darunter auch wenig hilfreiche Therapieansätze ein. Optimistisch betrachtet ist dieser Weg nicht vergebens gewesen, weil vieles ausgeschlossen werden konnte und wir herausgefiltert haben, was uns tendenziell helfen könnte. Generell ist es wünschenswert, dass sich konkrete Ansprechpartner schneller konsultieren lassen und die adäquaten Hilfen einleiten können, damit man als Patient nicht noch mehr Zeit verliert und in die falschen Maßnahmen investiert. Im Falle chronischer Schmerzen wird immer ein multimodaler Ansatz ratsam sein. Oft hapert es jedoch bereits an der Diagnosestellung und Wertschätzung, auch an der Anerkennung des Chronischen Leidens, solange man nicht beim passenden Arzt gelandet ist. Wie soll es unter diesen Umständen dem Patienten gelingen, seinen Schmerz anzuerkennen, sich nicht gegen ihn aufzulehnen, was letztlich nur noch mehr Schmerzen provoziert. Wir alle kennen diese Flüche: „Verdammte Schmerzen!“ Oder „Dieser elende Körper, warum ärgert der mich so?“ oder „In die Tonne schmeißen könnte ich mich!“ So absurd es klingt, wir werden erst wirklich mit dem Schmerz leben und mit ihm umgehen können, wenn wir ihn annehmen und uns mit ihm wertschätzen. Sonst ist es so, als hätten wir permanent einen mit Messer bewaffneten Gangster im Rücken, in das wir uns auch noch so richtig hinein stemmen.

Das Wehren und das Nicht-wahr-haben-wollen gehört zwar in die anfänglichen Verarbeitungsphasen hinein, um Schmerzlösungen zu finden, werden wir uns später mit dem Schmerz freundlich arrangieren können. Wir werden Techniken erlernen, ihn weniger stressig und belastend zu empfinden und uns nicht mehr so stark darauf zu konzentrieren. Und nur so haben wir die Chance, ihn in unserem Gehirn verblassen zu lassen. Von einer Verhaltenstherapie können wir hier sehr profitieren, denn wenn wir uns und unseren Schmerz nicht verstehen, dann wird uns auch der Einsatz von Medikamenten und Rehasport nicht helfen. Auch wenn ich wohl einer der größten Frida-Kahlo-Fans bin, möchte ich einen wichtigen Teil ihrer Wahrheit nicht verheimlichen, weil er in diesem Kontext sicher vielen Betroffenen aus dem Herzen spricht. In Sachen Glücksquelle zapfte sie für ihre Schmerzverarbeitung häufig eine sehr ungeeignete Quelle an, den Alkohol. Wie sie selbst sagte, habe sie versucht ihre Schmerzen damit zu ertränken, aber diese verdammten Schmerzen hätten schwimmen gelernt.

Glücklicherweise war das nie eine Option für mich und ich möchte auch dringend davon abraten, auch wenn diese Form der Betäubung kurzzeitig zu lindern scheint. Ansprechpartner ist an dieser Stelle immer der Schmerztherapeut, der bei Bedarf eine individuelle Pharmakotherapie auf den einzelnen Patienten abstimmt. Da bei Fibromyalgie Medikamente nur temporär und kaum schmerzregulierend wirken, habe ich mich entschieden, mit meinem Neurologen einen Antrag auf medizinisches Cannabis zu stellen. Ein neuer Versuch, eine neue Hoffnung, ich habe aber gelernt, Hoffnungen nicht zu groß werden zu lassen und erstmal abzuwarten. Schmerzen vertragen keine Exzesse. Sie mögen Strukturen und Strategien und brauchen unsere Mitwirkung. Wem es gerade nicht aus eigener Kraft gelingt, seine konstruktiven Glücksquellen anzuzapfen, denn Schmerzen kosten ja schon an sich viel Kraft, dem rate ich, sich an eine etablierte Klinik für multimodale Schmerztherapie zu wenden und sich in professionelle Hände zu begeben. Hilfreich und informativ sind auch seriöse Vorträge im Internet, die sich unter dem Schlagwort „Chronische Schmerzen“ leicht googlen lassen. Wir dürfen bei unserer Recherche ruhig schauen, welches Material uns persönlich besonders anspricht, uns „abholt“. Wenn wir uns sträuben, wird es nicht oder noch nicht greifen. Außerdem haben mich viele weiterführende Arbeitsblätter aus dem Netz sehr angeregt, z.B. zur Kommunikation mit unseren Angehörigen über den Schmerz, etwa wann uns Ablenkung hilft und wann sie uns überfordert, was wir allein schaffen und wo wir Hilfe benötigen.

Auch zum Anlegen eines Schmerztagebuches lassen sich praktische Hinweise aufstöbern. apropos Buch. Als große Hörbuchfreundin empfehle ich Schmerzpatienten das Hörbuch: „Schmerzfrei durch Achtsamkeit“, ein von Schmerzbetroffenen erarbeitetes Trainingsprogramm zur dauerhaften Selbstanwendung. Ich wünsche uns Schmerzpatienten von Herzen dass es uns gelingen mag, unseren Schmerz nicht mehr als Leid zu empfinden und ihn sinnbildlich gesprochen freundschaftlich in unser Lebensgemälde zu integrieren.

Verbleiben möchte ich mit einem Zitat von Frida Kahlo. Mich hat es stets dazu ermutigt, meine Behinderung und meine chronischen Erkrankungen nicht nur als Manko, sondern auch als Markenzeichen zu sehen und mich damit nicht allein zu fühlen: „Ich habe immer gedacht, dass ich die seltsamste Person auf dieser Welt bin, aber später dachte ich, dass es viele solcher Leute auf der Welt gibt, es muss also jemanden wie mich geben, der sich auf gleiche Weise bizarr und beschädigt fühlt, so wie ich mich fühle. Ich stelle mir die Frau vor, und stelle mir vor, dass sie dort drüben auch an mich denkt. Also gut, ich hoffe, wenn du dort bist und dies liest, dass du weißt, dass es wahr ist, dass ich da bin und genau so seltsam bin wie du.“ (Frida Kahlo).