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Achtung: Sturm außerhalb des Wasserglases!

Roland Frickenhaus
Roland Frickenhaus
Foto: Roland Frickenhaus

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Foto: Roland Frickenhaus

UNBEKANNT (KOBINET) Da hat doch das "Team Wallraff" die Kalender und Besprechungstermine selbstloser Sozial-Unternehmer ziemlich durcheinander gebracht. Aufgescheucht wird nun die Eierlegende Wollmilchsau gesucht. Die Eine-Millionen-Frage lautet: Wie kann, bitteschön, alles so bleiben wie es ist, aber gleichzeitig besser werden? Gleichzeitig macht sich die Ahnung breit, dass ein "weiter so" nicht weiter so geht.  Liebe Gutmenschen, gebt Euch einen Ruck: Wie wäre es denn nun endlich mal mit einer "Heim-Enquete"?

Um an quotensteigerndes Bildmaterial zu gelangen, spielt eine Journalistin eine Praktikantin und filmt heimlich mit der Kamera Menschen an deren Arbeitsplatz und in deren Wohnung. Sie findet dann auch das, was sie sucht: Strafbares Handeln an wehrlosen Menschen. Daraus wird dann mit etwas Fleiß und der Routine von „Ganz unten“ ein Beitrag, der das drohende Quotenloch zwischen „Bauer sucht Tutti-Frutti“ und „Germanys next Dschungelcamp“ stopfen soll. Hauptsache die Bilder sind nicht verwackelt und die gefilmten Szenen eignen sich fürs selbstlose Skandalisieren. Gutmensch Undercover zeigt uns tumben Sofasitzern, wie es wirklich ist, das Leben.

 

Und wie ist es wirklich, das Leben?

Wahr ist, dass eindeutig zu viel Zeit vergeht, bis die „Praktikantin“ ihr Recherchematerial öffentlich macht. Und bevor es die Betroffenen zu Gesicht bekommen, darf vorab schon mal unser aller Pflegeexperte die einzelnen Szenen in der ihm eigenen Stimmlage kommentieren. Mehr als 12 Monate nichts zu unternehmen und die entrechteten Menschen weiterhin den Personen zu überlassen, deren Handeln von Verachtung geprägt ist, wissend also, dass es noch viele Tage in dunklen Zimmern geben wird, dazu gehört schon was!

Gekonnt richtet sich jedoch die gelenkte freie Wut gegen die Unmenschen und die Einrichtungen, in denen sie arbeiten. Ziel erreicht. Und dann auf zum nächsten bösen Ding. Skandalhopping for Quote.

Vor lauter gelenkter Shitstormerei verschwindet die Frau, die keine Praktikantin ist, die ihre Identität verschleiert, die heimlich in fremden Wohnungen filmt, die schlimme Machenschaften entdeckt und dann für ein Jahr die Klappe hält, unerkannt durch die Hintertür. Das, lieber Claus Fussek, ist der eigentliche Skandal, dass uns auf der Jagd nach der Quote eine Doppelmoral begegnet, die einfach nur weh tut! Wenn Du weißt, was ich meine.

Welchen Grund kann es geben, beobachtetes strafbares Handeln nicht gleich zur Anzeige zu bringen? Was hält die „Praktikantin“ eigentlich davon ab, nicht noch am selben Tag zur Polizei zu gehen? Wer in Kauf nimmt, dass die Menschen noch über Monate in den skandalösen Strukturen bleiben, anstatt ihnen sofort zu helfen, dem kann es nicht wirklich um die Menschen gehen, oder?

 

Und wie ist es noch, das Leben?

Und des Skandals zweiter Teil besteht darin, dass sich jetzt, nach alter Väter Sitte, an den konkret im Film gezeigten Fällen abgearbeitet wird. Wieder mal die üblichen Verdächtigen und so.

Da hilft ein klein wenig Nachhilfeunterricht, übrigens nicht nur für „Praktikantinnen“: Der Film zeigt Menschenrechtsverletzungen in Lebensformen, die nicht menschenrechtskonform sind. So einfach ist das.

Kenner der Szene, die sich schon vor mehr als 10 Jahren für eine Untersuchungskommission des deutschen Heimwesens stark gemacht haben, wissen sehr wohl, dass es systembedingte Ursachen gibt, die –natürlich!- das in dem Film gezeigte Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht rechtfertigen, aber beitragen können, es zu verstehen.

Wieso sollen eigentlich in „Totalen Organisationen“ Milch und Honig fließen? Gibt es ernsthaft jemand, der glaubt, dass in Sonderwelten und „besondernden Strukturen“, in Parallelwelten, eitel Sonnenschein herrscht? Glaubt Ihr denn wirklich, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte aus Langeweile immer wieder auf die Probleme von Sonderwelten und Sondersystemen hinweist?

Hand aufs Herz: Wahrscheinlich hat die Lebenshilfe in Speyer einfach „Pech“ gehabt und die in Hinterposemuckel „Glück“, weil die eine eine „Undercover-Praktikantin“ hatte und die andere nicht. Wer für jede(n) seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Hand ins Feuer legen kann, der werfe den ersten Stein. Da helfen weder Heimaufsichten, Bewohnerbeiräte noch Qualitätshandbücher irgendetwas. Im Gegenteil: Sie wirken systemerhaltend, weil ja formal alles geregelt ist.

Damit das klar ist: Es handelt sich nicht um frei gewählte Wohngemeinschaften, sondern um Zwangsgemeinschaften. Es handelt sich auch nicht um frei gewählte Assistenten, sondern um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die der Träger ausgesucht und eingestellt hat und die der Wohngemeinschaft zugeordnet wurden.

Die Wohngemeinschaft wiederum ist nichts anderes als eine „Gruppe von Hilfeempfängern mit vergleichbarem Hilfebedarf“. Und die wohnen deshalb so wie sie wohnen, weil es für die öffentliche Verwaltung so am einfachsten ist. Heilpädagogische oder sonstige fachliche Gründe gibt es dafür nicht. Und eine „heimpflichtige Behinderung“ gibt es schon gar nicht. Basta.

Will sagen, liebe „Praktikantin“: Das uns Sofasitzern im Film nahegebrachte (Teilhabe-)System stellt von sich aus schon einen Menschenrechtsverstoß dar, selbst wenn da jeden Tag Party wäre. Daraus lässt sich zwar nicht Quote generieren, ist aber die Wahrheit.

Irgendwie erinnert das an das Land, in dem es sehr lasche Waffengesetze gibt und in dem dann nach jedem Anschlag die Diskussion zur Verschärfung jener Vorschriften neu entflammt. Es geht doch nicht nur um die Ahndung der Tat, sondern auch darum, Weichen so zu stellen, dass Unrecht perspektivisch weniger Chancen hat. Und da komme mir jemand und rede Totale Institutionen und Sonderwelten schön! Noch konnte sich der Verstand nicht durchsetzen, aber wir arbeiten dran.

Es braucht in Deutschland endlich eine Heimenquete. Was nützt ein Polizeiauto vor der Wohnstätte, wenn in dem ganzen System schon ein menschenrechtlicher Webfehler steckt?

Mir sind die Argumente von Befürwortern und Gegnern noch gut im Ohr, als Anfang der 2000er Jahre das Für und Wider eines möglichen Antrages an die Bundesregierung, eine Kommission zur Untersuchung des Heimwesens einzusetzen, diskutiert wurde. Da wurde man schnell zum „Nestbeschmutzer“ abgestempelt, wenn man allzu (selbst-)kritisch war. Damals hat sich dann die folgenschwere Erkenntnis festgesetzt: Wenn das Wort „gut“ steigerungsfähig ist, dann ist es das Verhalten von „Gut-Menschen“ auch.

Bekanntlich kam es dann nicht zu dem Antrag und im Jahr 2006 hat es dann ja noch mal „Die LINKE“ erfolglos probiert…

Nun wird es wieder jede Menge Berichte und fördermitteldurchtränkte Studien geben, die nur deshalb in Auftrag gegeben werden, damit ja alles so bleibt wie es ist. Und unsere teilhabberechtigten Mitbürger haben sich, bitteschön, damit zu begnügen, dass man im BMAS „im Licht der UN-BRK“ am Bundesteilhabegesetz gewerkelt hat. Na, schönen Dank auch. 

 

Und wie geht es weiter, das Leben?

Wenn es den Akteuren nicht (nur) um Quote und/oder Aktionismus sondern um Ursachenbeseitigung geht, dann schlage ich ein Treffen (sehr gern in der sächsischen Landeshauptstadt…) mit den Verantwortlichen der beiden Lebenshilfen, der „Praktikantin“, Claus Fussek und Herrn Wallraff vor, um Strategien zu beraten, damit es endlich zu einer öffentlichen Untersuchung des Heimwesens in Deutschland kommt!!

Der Sturm muss das Wasserglas verlassen. Der Skandal hinter dem Skandal wäre es, wenn das System ungeprüft davonkäme. Wenn Du weißt, was ich meine.