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Blickwechsel statt Schichtwechsel

Ottmar Miles -Paul
Ottmar Miles-Paul
Foto: privat

Berlin/Kassel (kobinet) "Blickwechsel statt Schichtwechsel" so titelt das Projekt der Sozialhelden JOBinklusive die heutige Aktion von Werkstätten und Werkstatträten und schreibt: "Während andere am 17. September den Schichtwechsel begehen, machen wir das ganze Jahr über den Blickwechsel. #StellMichEinNichtAb". Auch kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul hat sich seine Gedanken in Sachen Schicht- und Blickwechsel gemacht.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Ach, was klingt das gut: „Wir machen einen Schichtwechsel, um über die Situation Anderer besser Bescheid zu wissen“. So soll das heute beim Schichtwechsel mit den Werkstätten für behinderte Menschen sein. Doch ist das wirklich so? Bekommen diejenigen, die heute in Werkstätten für behinderte Menschen gehen, einen wirklich realen Eindruck von der dortigen Situation? Und bekommen diejenigen, die heute an Arbeitsplätze außerhalb der Werkstätten für behinderte Menschen gehen, eine reale Chance auf einen anständig bezahlten Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt?

Wenn dem so wäre, müssten diejenigen, die heute einen Tag lang Werkstätten besuchen, bzw. dort arbeiten, eigentlich auf die Barrikaden gehen und sich mit denjenigen solidarisieren, die dort gut und hart, aber weit unter dem Mindestlohn, arbeiten. Denn bei durchschnittlich 214,99 Euro Entgelt pro Monat in Werkstätten für behinderte Menschen im Jahr 2018 gibt es wohl kaum jemanden, der nach einem solchen Schichtwechsel von seinem Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt freiwillig einen Arbeitswechsel zu diesen Bedingungen vollziehen möchte – und das ohne echte Arbeitnehmer*innenrechte und zum Teil entwürdigenden Bewertungsverfahren. Doch der Aufstand der von einer solchen Situation ernsthaft Betroffenen Schichtwechsler*innen ist bisher ausgeblieben. So bleibt den Betroffenen wie André Thiel, die für einen Mindstlohn in Werkstätten bzw. für eine ernsthafte Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt kämpfen, meist nur wohlwollendes Schulterklopfen für das, was man so alles leistet, welch tolle Atmosphäre in der Werkstatt herrsche oder welch fortschrittliche Maschinen die Werkstatt doch hat. Und natürlich werden sicherlich auch die „Betreuer“ gelobt, die all das möglich machen und einen solchen „Schutzraum“ bieten – allerdings zum Tariflohn. Solche Dinge, wie die äusserst niedrige Vermittlungsquote auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, was ein zentraler Auftrag der Werkstätten für behinderte Menschen ist, oder die mangelnden Mitbestimmungsrechte werden zumindest in der Öffentlichkeit kaum erwähnt. Denn schließlich ist das auch eine Leistungsschau der Werkstätten, für die man sich in der Regel herausputzt, wie halt bei jedem Politiker*innen-Besuch auch.

Alternativen zur Werkstatt, wie das Budget für Arbeit, bzw. die notwendigen von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderten Veränderungsprozesse, spielen in der Regel auch nicht die große Rolle bei solchen Schichtwechsel-Tagen. Und warum auch, wenn schon die Bundesregierung und die meisten Landesregierungen kaum etwas für die Nutzung des Budgets für Arbeit tun und keine aktuellen Zahlen vorliegen, wie Bundestagsanfragen immer wieder zutage fordern. Denn eigentlich hat man sich mit den Werkstätten ganz gut arrangiert und die Betriebe, die ihre Beschäftigungspflicht noch nicht einmal erfüllen, leben auch gut damit, dass sie sich um diesen Personenkreis nicht groß kümmern müssen. Und man will ja auch nicht die echten Arbeitsplätze in Werkstätten abbauen, nämlich diejenigen, die behinderter Menschen unterstützen.

Also: schön, dass man mal darüber geredet hat? So ungefähr könnte auch diese Aktion enden. Aber vielleicht gibt es ja dieses Jahr mehr Menschen, die hinter die Kulissen der Werkstätten blicken wollen, die sich nicht dem fürsorglichen Blick auf die Werkstattbeschäftigten hingeben, sondern sie als potentielle Kolleg*innen betrachten, die in vielerlei Hinsicht ihrer Rechte und einem gerechten Lohn beraubt werden. Vielleicht interessieren sich ja auch mehr Menschen dafür, dass und welche Alternativen es zur Beschäftigung in Werkstätten gibt und welche Eigeninteressen das System der Werkstätten umtreibt. Ja, vielleicht?

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Uwe Heinecker
17.09.2020 11:19

toller Kommentar Ottmar. Mit der https://www.sozialpsychiatrie-mv.de/PDF/DeutzerErklaerung.pdf wird deutlich, wie diese sang- und klanglos verhallt – nichts davon wurde umgesetzt!