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Ich kritisiere Menschen, die es nicht besser wissen – und tue es trotzdem

Silhouette von Ralph Milewski im Rollstuhl gespiegelt in einem Fenster - sw Foto
Ralph Milewski
Foto: Ralph Milewski

Fladungen (kobinet) Ich gebe zu: Manchmal hadere ich mit mir selbst. Weil ich Menschen kritisiere, die eigentlich nur Gutes wollen. Weil ich Strukturen hinterfrage, die seit Jahrzehnten "helfen". Weil ich mit Worten anstoße, die weh tun – auch jenen, die sich für "die Guten" halten. Und doch tue ich es. Nicht aus Wut. Nicht aus Rechthaberei. Sondern weil es nötig ist. Denn was sich heute vielerorts "Inklusion" nennt, ist in Wahrheit oft nur ein neuer Anstrich alter Verhältnisse. Barrierefreiheit wird mit Teilhabe verwechselt. Zugänglichkeit mit Gleichstellung. Einladungen mit Mitbestimmung.

Ich kritisiere Projekte, die Menschen mit Behinderung ein eigenes Programm bauen – anstatt sie in das Bestehende einzubinden.
Ich kritisiere Träger, die uns als Zielgruppe behandeln, nicht als Akteure.
Ich kritisiere Förderlogiken, die Beteiligung simulieren, aber nie Macht abgeben.

Und ich weiß: Viele der Menschen, die ich kritisiere, kennen es nicht anders.
Sie wurden sozialisiert in einem System von Aktion Mensch, Lebenshilfe und Co.,
das helfen statt verändern wollte.
Ein System, das von Anfang an darauf ausgelegt war, Menschen mit Behinderung zu versorgen,
aber nicht, ihnen gleichberechtigt Macht zu überlassen.

Sie glauben, Teilhabe sei das Dabeisein.
Sie haben gelernt, was gut gemeint ist, sei auch gut gemacht.
Und sie merken oft gar nicht, dass sie in einer Logik der Fürsorge gefangen sind,
während sie glauben, Fortschritt zu ermöglichen.

Was diesen Zustand noch schwerer macht:
Die Verantwortlichen – Förderstellen, Projektplaner:innen, Funktionär:innen – wissen sehr genau, was echte Inklusion bedeutet.
Sie kennen den Unterschied zwischen barrierefrei und gleichberechtigt,
zwischen dabei sein und mitentscheiden – und sie vermeiden ihn gezielt.

Der Begriff „Inklusion“ wird als Türöffner benutzt:
für Fördermittel, Imagepflege, strategisches Wohlwollen.
Das ist kein Missverständnis, es ist kalkulierter Missbrauch.
Die Sprache der Gleichstellung wird instrumentalisiert, um ein System zu stabilisieren, das keine Gleichstellung will.
Und genau darin liegt der eigentliche Verrat:
Nicht nur an uns, die Teilhabe einfordern – sondern am Begriff selbst.
Inklusion wird ausgehöhlt, banalisiert, funktionalisiert.
Und am Ende bleibt ein Wort – und eine Lücke, in der die Realität verschwunden ist.

Ich weiß das. Und es macht meine Kritik nicht einfacher.
Aber es macht sie nicht weniger notwendig.

Denn solange wir Rücksicht nehmen auf das Unwissen, das zur Struktur geworden ist,
ändert sich nichts.
Solange niemand sagt: „Das reicht nicht.“,
bleibt alles beim Alten – nur mit Rampen, barrierefreier Toilette und erklärenden Texten in Leichter Sprache.

Ich schreibe diesen Text nicht, um zu verurteilen.
Ich schreibe ihn, weil ich glaube, dass wir den Begriff Inklusion zurückholen müssen –
aus den Händen der Fördermittel, aus den Broschüren der Wohlfahrtsverbände, aus den PR-Kampagnen,
und hinein in die Realität echter Teilhabe: unbequem, gleichberechtigt, konsequent.

Ich schreibe diesen Text,
weil ich kritisiere – auch wenn es weh tut.
Weil ich muss.
Weil ich es besser weiß.
Und weil ich will, dass andere es auch wissen lernen.

Lesermeinungen

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Uwe Heineker
09.06.2025 20:31

Gute Analyse und ich füge hinzu: ich kann mich nicht des Eindrucks verwehren, dass Inklusion seitens der Politik – entgegen ihrer mittlerweile nichhtssagender Inklusionsrhetorik – in Wirklichkeit nicht gewollt ist

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