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Wehrtauglich von der Wiege bis zur Bahre, die frühen und die späten Jahre

Ein fallender Soldat Todesschuss
Falling Soldier von Robert Capa. Wie es der Merz-Kanzler ankündigte,"es geht nun Schlag auf Schlag", so auch im Juni mit unserem Fortsetzungskrimi "Wehrtauglichkeit". Wir begegnen dem kleinen Paul im Rollstuhl mit Glasknochen sowie dem alten Hern Wörner und ihrem Abenteuer mit einem gestrauchelten Leopardpanzer.
Foto: By © Cornell Capa (For reproduction please contact Magnum Photos, http://www.magnumphotos.com/), Public Domain, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=4067565

Staufen (kobinet) Die erste Folge unserer neuen Reihe spielte im wilden Osten, in Boomtown Görlitz. Dank einer florierenden Rüstungsindustrie erlebt die Stadt eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte sondergleichen. Dass die Herstellung von hochwertigem Verteidigungsgut mit trautem Familienglück aufs schönste harmoniert, beweisen Thekla und Tom und ihr Töchterchen. – In dieser zweiten Folge gehen wir in den Südwesten der Republik, wo wir in einer an sich idyllischen Örtlichkeit anschaulich miterleben, wie der frische Wind der Zeitenwende und der von ihr angestoßene Aufschwung des Verteidigungswesens auch vor "beschädigtem Leben" ( ein Ausdruck des Philosophen Theodor Wiesengrund Adorno) nicht Halt macht und weiteren Schaden anrichtet.

Paul und der Panzer

Malerisch drängt sich auch an diesem Vormittag das süddeutsche Städtchen ans Ufer des Flusses, den manch ein romantischer Dichter in der Vergangenheit besungen hat. Ohne ahnen zu können, dass auch dieses idyllische Flecklein deutscher Erde, einmal unsanft ins bedrohliche Weltgeschehen hineingerissen wird und bänglich einer ungewissen Zukunft entgegensieht. Obgleich die sich überstürzenden Ereignisse zunächst auch vor Ort die lahmende Wirtschaft auf Trab bringen. Florierende Rüstungsbetriebe im näheren und weiteren Umland haben über den Transmissionsriemen des sogenannten Spinn-Off – bei dem die Kriegswirtschaft dem Rest der Wirtschaft einen schwungvollen Dreh verleiht – den örtlichen Gewerbefleiß merklich angeregt.

Nicole merkt es zum Beispiel am Tante-Emma-Laden an der Ecke, wo sie eine Geschäftigkeit beobachtet, die sie durchaus als überdreht empfindet. Als einer noch gar nicht so alten Kundin der Eierkarton aus der Hand rutscht und eine kleine Bescherung auf den Steinfliesen verursacht, meint der nun wirklich sehr alte Herr schräg hinter ihr, macht nichts, Hauptsache der Rubel rollt. Nicole hat es auf der Zunge gelegen, ihm zu erwidern, noch zahlen wir hierzulande mit Euro, solange Putins Panzer nicht am Atlantik stehen, rollt in Schwabenland kein Rubel, wenn hier was rollt, dann der Leopard, Richtung russische Grenze. Doch verkneift sie sich die Bemerkung, um dem Trubel im Laden keinen zusätzlichen Spinn-Off zu versetzen.

Als Nicole auf ihrem Rad mit der Einkaufstasche auf dem Gepäckträger in die Gasse biegt, wo sie, Kevin und ihr Sohn Paul seit dessen Geburt wohnen, muss sie voll auf die Bremse treten, damit sie nicht in den Auflauf rasselt. Mein Gott, denkt sie, das hat noch gefehlt. Über die Köpfe der Menge hinweg, schaut auch sie sofort gebannt auf den Turm, aus dem wie ein steifer Pimmel das Rohr ragt. Dessen Spitze, um Himmels Willen, es darf nicht wahr sein. Sie stellt geschwind das Rad ab, schnappt sich die volle Einkaufstasche und bahnt sich einen Weg durch die Menge der Gaffer. Um zu ihrer Haustür zu gelangen, zwängt sie sich durch den Spalt zwischen der Hauswand und der Heckkante des Monstrums, das ein Gemisch aus Benzin und Maschinenöl ausdünstet. Sie sprintet die Stufen hinauf und öffnet die Wohnungstür, Mama, komm schnell ans Fenster, der Mann da will was, hört sie Paul aus dem Wohnzimmer rufen. Sie lässt die Tasche fallen, eilt durch den Küchenschlauch zur Wohnzimmertür, was für ein Mann denn, der was will?

Paul wird demnächst sechs Jahre alt, er ist ein aufgewecktes Bürschlein, hat Glasknochen und sitzt im Rollstuhl. Das Wohnzimmerfenster ist sein Lieblingsplatz in der renovierten,
denkmalgeschützten Altbauwohnung. Der für die Renovierungsarbeiten verantwortliche Architekt hat beim Amt für Denkmalschutz mittels Vitamin B ein Stück vorschriftswidrigen Barriereabbau bei Pauls Sicht auf die Gasse erwirkt und ein bodentiefes Fenster eingesetzt, das sich wie eine Balkontür öffnen lässt. Ein gusseisernes Geländer verhindert einen Sturz nach draußen. Stets verfolgt Paul lebhaft die Vorgänge auf der Gasse und sein Berufswunsch steht bereits fest, Reporter. Auch heute früh bei dem schönen Wetter hat ihn Nicole an die geöffnete Fensterflügeltür geschoben, ehe sie zum Einkauf aufgebrochen ist. Paul hat ein eigenes Smartphone und kann sie jederzeit anklingeln, was er heute Vormittag aber nicht getan hat und was Nicole signalisiert, das aufregende Geschehen draußen hat ihn wieder ganz in Bann gezogen.

Als Nicole hinter seinen Rollstuhl tritt und ihm sachte eine Hand auf die Schulter legt, versteht sie erst, was er meint mit dem Mann, der was will. Aus der aufgeklappten Turmluke des Kampfpanzers ragt ein Mann im Tarnfleckanzug mit Stahlhelm und Gasmaske. Er bewegt den linken Arm, als führe er mit der Hand ein Glas zum Mund und Nicole ist augenblicklich klar, was der Mann will. Warum hat der Mann ein Leopardenfell angezogen und so eine komische Schnauze, fragt Paul. Verrate ich dir gleich mein Schatz, doch schau mal, der Mann deutet an, dass er was trinken möchte, er hat Durst. Ein Glas Wasser bitte, krächzt es unter der Gasmaske hervor. Aber warum redet der Mann so komisch, will Paul wissen, seine kindliche Wissbegierde ist grenzenlos. Gleich, ich hol mal rasch ein Glas Wasser aus der Küche.

Mama, ich, ruft Paul, als sie mit dem Glas Wasser zurückkommt, lass mich dem Mann das Wasser geben. Der ist mit einem Bein aus dem Turm geklettert, um den Oberkörper weit genug Richtung Fenster zu beugen, um mit gestrecktem Arm ans hingehaltene Wasserglas zu langen. Pauls schmächtiger Arm reicht kaum über das Geländer, seine Hand winzig vor der mächtigen Pranke. Der Soldat, nachdem er die Gasmaske übers Kinn und Mund nach oben geschoben hat, leert das Glas gierig in einem Zug. Warten sie, ich bringe ihnen noch eins, sagt Nicole, wir lassen euch hier doch nicht verdursten, bevor ihr überhaupt im Feld steht und Feindberührung habt. Was ist Feindberührung, Mama? Später.

Danke, der Panzerfahrer trinkt das zweite Glas und ruckelt sich die Gasmaske überm Kinn wieder zurecht. Mama, hat denn der Mann auch ein Clo im Panzer? Ach Paul, frag mir kein Loch in den Bauch. Hör mal, ich glaube, das ist für dich. Der Unterleib des Soldaten ist wieder im Turm verschwunden und nur sein Oberkörper ragt noch hervor. Den linken Unterarm und den Zeigefinger in die Höhe gestreckt, hat er zu singen begonnen, ein gepresster, unter der Maske schleppender Gesang, die Worte unverständlich. An der Melodie jedoch erkennt Nicole das Lied. Für dich singt er das, Paul, er möchte sich bei dir bedanken. Die Soldaten singen das beim Marschieren, „Schwarzbraun ist die Haselnuss“, singt er, hörst du. Haselnuss, fragt Paul. Nein! Nicole schlägt die Hand vor den Mund, also doch.

Armer alter Herr Wörner

Ein Unglück kommt selten allein. Nicole hat sich nicht versehen, vorhin, als sie mit dem Rad in die Gasse bog und ihr Blick über die Köpfe hinweg auf das Panzerrohr fiel, diese auf das Nachbarfenster gerichtete Erektion. Jetzt erst blickt sie wieder auf das Fenster gegenüber, die Spitze des Rohrs hat die rechte Scheibe eingedrückt, die Scherben müssen innen über den Boden verteilt sein. In diesem Moment taucht Herr Wörners Gesicht in der leeren Fensteröffnung auf, dicht neben dem Rohr, aus dem linken Mundwinkel hängt ihm ein Speichelfaden, der silbern glitzert, wenn ein von der noch intakten Fensterhälfte reflektierter Sonnenstrahl ihn trifft. Entsetzlich, der arme Herr Wörner. Nicole fragt sich, ob sie die 112 anrufen soll.

Wie Paul sitzt Herr Wörner im Rollstuhl. Nur dass bei ihm die Gelenke nicht mehr mitmachen, was kein Wunder ist, hat er doch 103 Lenze auf dem Buckel. Außerdem ist er beinahe vollständig erblindet, altersbedingte Makuladegeneration. Während Herr Wörner mit seiner linken Hand den hohlen Fensterrahmen abtastet, greift seine rechte in den kreisrunden Schlund der Panzerkanone. Kaltes Metall, ob er wohl errät, worum es sich handelt, immerhin war Herr Wörner, Doktor Wörner, Panzergrenadier bei der Waffen-SS. Ehe nach dem Zusammenbruch 1945 seine glänzende Juristenkarriere Fahrt aufnahm. Vor drei Jahren im August, zu seinem Hundertsten, machten ihm die Honoratioren der Stadt ihre Aufwartung, mehrere Kapellen aus dem regen örtlichen Musikleben brachten ihm auf der Gasse ein Ständchen dar und der Männergesangverein stimmte „Hat einen guten Kameraden“ an. Die Augen seien ihm feucht geworden bei dem Veteranenlied, manchen ein weiterer Beleg für den sprichwörtlich weichen Kern in der harten Schale.

Eigentlich müsste die Altenpflegerin drüben bei ihm sein, Nicole zögert, sie hat das Smartphone schon in der Hand. Vielleicht kommt sie ja gleich zurück, war nur eben mal auf dem Sprung etwas zu besorgen. Herr Wörner hat seit gut zehn Jahren seine Polinnen, die sich um ihn kümmern und den Haushalt machen. Früher, wo er noch gut beieinander war, soll er einmal gesagt haben, mir kommt keine Polenwirtschaft ins Haus. Desto erstaunlicher für Nicole, dass er inzwischen gut ein Dutzend von ihnen verschlissen hat, Polinnen. – Ob sie nicht doch lieber den Notruf, da klingelt es in ihrer Hand, die Nummer auf dem Display kennt sie. Ihre Freundin in Görlitz, sie wollte sie eigentlich heute Abend anrufen, aber egal, kurz Bescheid geben kann sie ja. Hallo Thekla, habe dich nicht vergessen, hier ist gerade der Teufel los, weißt du, ich dachte, ich rufe dich heute Abend an, um dich nicht bei der Arbeit zu stören. Falls du gerade eine Drohne fliegen hast und so. Macht nichts, tatsächlich? Du kannst die in der Luft anhalten und einfach da stehen lassen? Unglaublich, die Technik heute. Wie, was hier bei uns los ist? Kann ich dir sagen.

Mama, guck mal, der Herr Wörner von drüben, was macht der da? Gleich Paul, lass mich mal kurz mit Thekla reden. Du, vor fünf Minuten komm ich vom Einkauf, vorm Haus auf der Gasse ein Mordsauflauf, ein Leopard, so ein Riesending klemmt da diagonal zwischen den Häusern. Das Rohr hat drüben bei Wörners den einen Fensterflügel und die Scheibe eingedrückt. Kein Witz. Wie meinst du? Aber echt, voll krass, ist gar kein Ausdruck für das, was hier gerade abgeht. Paul war Augenzeuge und hat dem Panzerkommandanten eben schon zwei Glas Wasser nach draußen gereicht. Der Turm ist genau auf Fensterhöhe, die Dinger messen drei Meter in der Höhe, vom Boden bis zur Turmspitze, Kevin hat mir mal die Maße genannt. War schier am Verdursten, der Kerl hinter seiner Gasmaske, manövrieren durch einen Altstadtengpass unter
Ernstfallsimulationsbedingungen, würde Kevin wahrscheinlich sagen, Stress pur.

Kevin, wo der ist? Die sind mit ihren Panzern im Baltikum, Nähe finnischer Meerbusen. Da müssen wir jetzt durch, egal, solange er mir die Finger von dem Busen der schönen Baltinnen lässt, der Filou. Ihnen schöne Augen machen meinetwegen, hinter der Gasmaske, Nicole lacht. Ach ja, Thekla, mein Großer ist in Ordnung, das weiß ich, bin mächtig stolz auf ihn und auf die andern Jungs der Mannschaft. Wie? Na klar, der holt sich sonst was er kriegen kann, du glaubst doch nicht, der Russe gibt sich mit dem Baltikum und den schönen Baltinnen zufrieden.

Mama, was ist Augenzeuge und schöne Augen machen? Gleich Paul, lass mich fertig telefonieren. Wie das überhaupt passiert ist? Keine Ahnung, hat sich irgendwie zwischen den Häuserfronten verkeilt. Um den Koloss wieder flott zu kriegen, braucht es wahrscheinlich einen Bergepanzer, habe ich unten jemand sagen hören. Nein, weder Polizei noch Feuerwehr, vielleicht haben die ausgerechnet heute Betriebsausflug oder eine von diesen Zivilschutzübungen, bei der sie den Ernstfall proben. Und wir haben hier den Schlamassel vor der Haustür, voll krass, wirklich. Mensch Thekla, du, schau mal wieder nach deiner Drohne, nicht dass da noch ein Malheur passiert, ich rufe dich heut Abend an. Danke, richte ich aus und von mir ein Küsschen für Laura, Tschüüss.

P.S. Ein Post Skriptum für die, welche die erste Folge nicht gelesen haben. Nicoles Freundin Thekla im ostdeutschen Görlitz fertigt Drohnen in Heimarbeit. Sie testet deren Flugtüchtigkeit in ihrer Küche, was den Vorteil hat, ihr Töchterchen Laura in seiner Wiege neben dem Küchentisch stets im Auge behalten zu können. Nachwuchsaufzucht und Verteidigungsgüterproduktion, beides heute eine Notwendigkeit, gehen hier ersichtlich Hand in Hand. – Mit der nächsten Folge unserer kleinen Geschichtenreihe aus dem Alltagsleben eines kriegstüchtigen Europa machen wir einen großen Sprung hinauf ins Baltikum. Und begegnen dort abermals einem leibhaften Panzerkommandanten, der, wie er berichtet, sein tonnenschweres Waffensystem unter Kontrolle hat und gleichzeitig mit dem Herzen in der Heimat bei Frau und Kind ist.

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