
Foto: privat
Kassel (kobinet) Lars Lippenmeier wollte eigentlich nur eine Veranstaltung des örtlichen Theaters in Kassel besuchen. Wegen einer Behinderung ist er auf Gehilfen angewiesen. Der Besuch scheiterte beim ersten Mal an einer abgeschlossenen Glastür, hinter der der Aufzug war. Darüber hat Lars Lippenmeier in einem Bericht für die Neue Norm berichtet. Nun hat er einen zweiten Versuch unternommen und kam rein. Doch dabei erlebte er, dass es zukünftig nicht so einfach ist, selbstverständlich an weiteren Veranstaltungen teilzunehmen, wie er in seiner Kolumne für die kobinet-nachrichten schildert.
Auf die Barrieren fertig los … Zweiter Akt: Aufkleber sind keine Baumaßnahmen
Kolumne über alltägliche Barrieren und wie man sie ohne Bagger und viel Geld auflösen kann von Lars Lippenmeier
Vom Eingang über eine Rampe, direkt mit dem Aufzug nach unten zur Theatervorstellung. Wie schön! Als Theaterbesucher, beide gehbehindert, wissen wir das zu schätzen. Heute liest Sabine Wackernagel von Kurt Tucholsky. In meiner Kolumne „Auf die Barrieren, fertig, los…“ schrieb ich kürzlich über meinen letzten Besuch in diesem Theater: https://dieneuenorm.de/kolumne/auf-die-barrieren-fertig-los/. Eine verschlossene Glastür versperrte den Zugang zum Aufzug. Die Vorstellung wurde so zum Exklusiv-Angebot für Fußgänger. Mein Hinweis, dass damit weniger mobile Besucher*innen an der Teilhabe gehindert werden, wurde mit einer Tirade von Rechtfertigungen beantwortet. Nach Erläuterung und Lösungsvorschlägen wurde Besserung versprochen. Heute also funktioniert alles. Hat meine Rückmeldung also Wirkung gezeigt?
Unten angekommen, treffe ich den Angestellten wieder, der auch zuletzt mein Gesprächspartner war. Ich reiche ihm die Hand und lobe, dass dieses Mal alles gut funktioniert hat. Er berichtet, dass der Aufzug nur zu Öffnungszeiten der Ausstellung im Erdgeschoss des Fridericianums zugänglich sei. Zu früh gefreut!? „Sie nehmen mir jegliche Illusion“, entgegne ich. Er habe seine Vorgesetzten beim letzten Mal informiert und erfahren, dass die Einrichtung von Klingeln oder Gegensprechanlagen, also Baumaßnahmen, wegen der unterschiedlichen Eigentümer des Gebäudes nicht möglich seien. Hier hat man offensichtlich nichts begriffen, wird mir diesem Moment schlagartig klar: Das Haus hat doch schon vier Wände, ein Dach, einen Aufzug und eine Rampe, es braucht also nur noch einen Aufkleber mit Telefonnummer an der Tür, um an der Kasse im Untergeschoss den Zugang zum Aufzug zu erbitten. Ist das wirklich so schwer?
Für ein öffentliches Theater wie das Staatstheater Kassel, wäre es dadurch mit einfachen Mitteln möglich, „angemessene Vorkehrungen“ im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention für mehr Barrierefreiheit zu treffen. Sabine Wackernagel aber liest grandios. Ihre Darbietung offenbart einmal mehr ihre brillanten schauspielerischen Fähigkeiten, schärft aber auch die Sinne für Komik und Tragik in alltäglichen Situationen, wie einem die Texte des Satirikers Kurt Tucholsky vor Augen führen: „Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.“
Am Ende der Veranstaltung nehme ich das Gespräch mit meinem Gegenüber wieder auf: Normalerweise, so sagt er mir, kämen sie (Anm. der Redaktion: Menschen mit Behinderungen) immer in Begleitung. „Bei ihnen ist das eine andere Situation, das kommt bei uns so selten vor.“ Ja, warum nur, denke ich im Stillen: Der redet sich um Kopf und Kragen und macht dadurch alles nur noch schlimmer. Weiß er, was er da sagt, wie diskriminierend seine Bemerkung ist? Ihm ist auch nicht klar, dass seine Lösung nicht funktioniert. Das Kassenpersonal weiß nicht, dass die Tür verschlossen ist und unternimmt deshalb nichts, wie ich selbst erfahren und in meiner letzten Kolumne beschrieben habe: https://dieneuenorm.de/kolumne/auf-die-barrieren-fertig-los/. Bei Recherchen zu diesem Artikel stoße ich auf ein Video in dem die erlebten Barrieren offen thematisiert werden: https://youtu.be/_imX69U_ftU?feature=shared
Meine Erfahrungen zeigen, dass die vorgeschlagenen Lösungen weder praktikabel noch realistisch sind. Durch die empfohlene Voranmeldung wird einmal mehr die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in frage gestellt und ihnen jegliche Spontanität abgesprochen.
Ein Aufzug muss dauerhaft erreichbar sein und funktionieren. Unabhängig von verschlossenen Türen und vom guten Willen des*r Einzelnen. Es gibt einfache Lösungsmöglichkeiten, die aber institutionalisiert werden müssen:
- Ist es ratsam, Aufkleber mit einer Telefonnummer als unmögliche Baumaßnahme abzutun? Nein, eher lächerlich. Hier fehlt es an Weitsicht und Bewusstsein. Helfen kann Selbsterfahrung und ein Kommunikationstraining.
- Wenn jemand von Barrieren berichtet und darauf aufmerksam macht, dass es vielleicht anderen Kund*innen auch so geht, die das Kulturangebot ebenfalls nicht wahrnehmen können, ist es geradezu grotesk im nächsten Moment reflexartig darauf hinzuweisen, dass diese Besucher*innen bisher hier nicht erschienen seien. Das geht überhaupt nicht, schließt man damit doch pauschal Personengruppen vom Theaterbesuch aus. Abscheuliche Vorurteile werden dabei offenkundig. Diesen kann nur durch Bewusstseinsbildung begegnet werden. Wie ist es da eigentlich zu erklären, dass der Aufzug nach der Vorstellung überwiegend Personen 60+ meist ohne sichtbare Einschränkungen nach oben befördert?
- „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, wie schon der Theologe Johann Gottfried Herder schrieb. Die Kunst, im richtigen Moment inne zu halten und nicht jeden Gedanken ungefiltert auszusprechen, will gelernt sein.
Und die Moral der Geschicht’? Vorhandene Barrieren rechtfertigen lohnt sich nicht. Viele sind durch Kreativität, Kommunikation und Organisation leicht zu beseitigen – einen Bagger und viel Geld braucht es nicht.
Zu Lars Lippenmeier
Lars Lippenmeier studierte Journalismus und ist gelernter Systemischer Coach. Er lebt mit einer Gehbehinderung. Als Fachberater für Inklusion unterstützt er Arbeitgeber dabei, sich inklusiv aufzustellen. Außerdem schreibt er für Magazine wie RehaTreff und mamo, ehemals Rollstuhl-Kurier.

Foto: privat
Kassel (kobinet) Lars Lippenmeier wollte eigentlich nur eine Veranstaltung des örtlichen Theaters in Kassel besuchen. Wegen einer Behinderung ist er auf Gehilfen angewiesen. Der Besuch scheiterte beim ersten Mal an einer abgeschlossenen Glastür, hinter der der Aufzug war. Darüber hat Lars Lippenmeier in einem Bericht für die Neue Norm berichtet. Nun hat er einen zweiten Versuch unternommen und kam rein. Doch dabei erlebte er, dass es zukünftig nicht so einfach ist, selbstverständlich an weiteren Veranstaltungen teilzunehmen, wie er in seiner Kolumne für die kobinet-nachrichten schildert.
Auf die Barrieren fertig los … Zweiter Akt: Aufkleber sind keine Baumaßnahmen
Kolumne über alltägliche Barrieren und wie man sie ohne Bagger und viel Geld auflösen kann von Lars Lippenmeier
Vom Eingang über eine Rampe, direkt mit dem Aufzug nach unten zur Theatervorstellung. Wie schön! Als Theaterbesucher, beide gehbehindert, wissen wir das zu schätzen. Heute liest Sabine Wackernagel von Kurt Tucholsky. In meiner Kolumne „Auf die Barrieren, fertig, los…“ schrieb ich kürzlich über meinen letzten Besuch in diesem Theater: https://dieneuenorm.de/kolumne/auf-die-barrieren-fertig-los/. Eine verschlossene Glastür versperrte den Zugang zum Aufzug. Die Vorstellung wurde so zum Exklusiv-Angebot für Fußgänger. Mein Hinweis, dass damit weniger mobile Besucher*innen an der Teilhabe gehindert werden, wurde mit einer Tirade von Rechtfertigungen beantwortet. Nach Erläuterung und Lösungsvorschlägen wurde Besserung versprochen. Heute also funktioniert alles. Hat meine Rückmeldung also Wirkung gezeigt?
Unten angekommen, treffe ich den Angestellten wieder, der auch zuletzt mein Gesprächspartner war. Ich reiche ihm die Hand und lobe, dass dieses Mal alles gut funktioniert hat. Er berichtet, dass der Aufzug nur zu Öffnungszeiten der Ausstellung im Erdgeschoss des Fridericianums zugänglich sei. Zu früh gefreut!? „Sie nehmen mir jegliche Illusion“, entgegne ich. Er habe seine Vorgesetzten beim letzten Mal informiert und erfahren, dass die Einrichtung von Klingeln oder Gegensprechanlagen, also Baumaßnahmen, wegen der unterschiedlichen Eigentümer des Gebäudes nicht möglich seien. Hier hat man offensichtlich nichts begriffen, wird mir diesem Moment schlagartig klar: Das Haus hat doch schon vier Wände, ein Dach, einen Aufzug und eine Rampe, es braucht also nur noch einen Aufkleber mit Telefonnummer an der Tür, um an der Kasse im Untergeschoss den Zugang zum Aufzug zu erbitten. Ist das wirklich so schwer?
Für ein öffentliches Theater wie das Staatstheater Kassel, wäre es dadurch mit einfachen Mitteln möglich, „angemessene Vorkehrungen“ im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention für mehr Barrierefreiheit zu treffen. Sabine Wackernagel aber liest grandios. Ihre Darbietung offenbart einmal mehr ihre brillanten schauspielerischen Fähigkeiten, schärft aber auch die Sinne für Komik und Tragik in alltäglichen Situationen, wie einem die Texte des Satirikers Kurt Tucholsky vor Augen führen: „Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.“
Am Ende der Veranstaltung nehme ich das Gespräch mit meinem Gegenüber wieder auf: Normalerweise, so sagt er mir, kämen sie (Anm. der Redaktion: Menschen mit Behinderungen) immer in Begleitung. „Bei ihnen ist das eine andere Situation, das kommt bei uns so selten vor.“ Ja, warum nur, denke ich im Stillen: Der redet sich um Kopf und Kragen und macht dadurch alles nur noch schlimmer. Weiß er, was er da sagt, wie diskriminierend seine Bemerkung ist? Ihm ist auch nicht klar, dass seine Lösung nicht funktioniert. Das Kassenpersonal weiß nicht, dass die Tür verschlossen ist und unternimmt deshalb nichts, wie ich selbst erfahren und in meiner letzten Kolumne beschrieben habe: https://dieneuenorm.de/kolumne/auf-die-barrieren-fertig-los/. Bei Recherchen zu diesem Artikel stoße ich auf ein Video in dem die erlebten Barrieren offen thematisiert werden: https://youtu.be/_imX69U_ftU?feature=shared
Meine Erfahrungen zeigen, dass die vorgeschlagenen Lösungen weder praktikabel noch realistisch sind. Durch die empfohlene Voranmeldung wird einmal mehr die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in frage gestellt und ihnen jegliche Spontanität abgesprochen.
Ein Aufzug muss dauerhaft erreichbar sein und funktionieren. Unabhängig von verschlossenen Türen und vom guten Willen des*r Einzelnen. Es gibt einfache Lösungsmöglichkeiten, die aber institutionalisiert werden müssen:
- Ist es ratsam, Aufkleber mit einer Telefonnummer als unmögliche Baumaßnahme abzutun? Nein, eher lächerlich. Hier fehlt es an Weitsicht und Bewusstsein. Helfen kann Selbsterfahrung und ein Kommunikationstraining.
- Wenn jemand von Barrieren berichtet und darauf aufmerksam macht, dass es vielleicht anderen Kund*innen auch so geht, die das Kulturangebot ebenfalls nicht wahrnehmen können, ist es geradezu grotesk im nächsten Moment reflexartig darauf hinzuweisen, dass diese Besucher*innen bisher hier nicht erschienen seien. Das geht überhaupt nicht, schließt man damit doch pauschal Personengruppen vom Theaterbesuch aus. Abscheuliche Vorurteile werden dabei offenkundig. Diesen kann nur durch Bewusstseinsbildung begegnet werden. Wie ist es da eigentlich zu erklären, dass der Aufzug nach der Vorstellung überwiegend Personen 60+ meist ohne sichtbare Einschränkungen nach oben befördert?
- „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, wie schon der Theologe Johann Gottfried Herder schrieb. Die Kunst, im richtigen Moment inne zu halten und nicht jeden Gedanken ungefiltert auszusprechen, will gelernt sein.
Und die Moral der Geschicht’? Vorhandene Barrieren rechtfertigen lohnt sich nicht. Viele sind durch Kreativität, Kommunikation und Organisation leicht zu beseitigen – einen Bagger und viel Geld braucht es nicht.
Zu Lars Lippenmeier
Lars Lippenmeier studierte Journalismus und ist gelernter Systemischer Coach. Er lebt mit einer Gehbehinderung. Als Fachberater für Inklusion unterstützt er Arbeitgeber dabei, sich inklusiv aufzustellen. Außerdem schreibt er für Magazine wie RehaTreff und mamo, ehemals Rollstuhl-Kurier.
Hallo,
erst schreibst du, dass du mit GEHILFEN unterwegs warst, später dann, dass du ohne Begleitung gekommen bist.
Hat die Autokorrektur dazwischen gehauen oder habe ich das richtig verstanden?