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Literaturbeilage: Kriegstagebuch II. Teil

beide sitzen auf einer Bankunter einem alten Baum vor einer kleinen Kapelle
Hans-Willi Weis und Silvia Hauser, fotografiert von Petra Hauser
Foto: Petra Hauser

Staufen (kobinet)

Tagebuch zweiter Teil "An allen Tagen ein kalter Ostwind"

Am 27. Februar 2022 quartiert sich der Tagebuchschreiber zusammen mit einem Geschwisterpaar am Bodensee in eine Ferienwohnungs-Schachtel ein. Eine "Schachtel", weil der Erblindete, die ihm unvertraute Unterkunft so erlebt. In der er sich des kalten Wetters wegen die meiste Zeit aufhalten muss. Und daher viel Zeit zum assoziativen Gedankenspiel hat. Während aus seinem kleinen Transistorradio die beunruhigenden Nachrichten über den Kriegsbeginn in der Ukraine ihm ins Ohr dringen. Putin, Altkanzler Schröder, der Liedermacher Wolf Biermann, Hitler aus dem Film "Der Untergang" und der Elfenbeinhändler Kurtz aus Joseph Conrads "Herz der Finsternis" geben sich im Kopf des Tagebuchschreibers ein kurioses Stelldichein.

Soldat Soldat

In Uniform, Soldat Soldat in grauer Norm, Soldaten sehn sich alle gleich, lebendig und als Leich.

Trifft dies auch auf Zivilisten zu, sofern sie Kriegstote sind, eher nicht. Auch als Leichname sehen sich Vater, Mutter, Kind und vielleicht noch die Oma nicht gleicher, als wo sich noch am Leben gewesen sind, selbst wenn die Gesichter auf dem Foto verpikselt sein sollten, das eine Zeitung auf der Titelseite oder auf einer der Innenseiten veröffentlicht, um der Tatsache auch ziviler Kriegsopfer sinnfällig Ausdruck zu verleihen. Ich lausche einer Diskussion zwischen JournalistInnen, ob man das machen soll oder nicht, die Gesichter der Toten verpikseln. Unwohl beim Zuhören wird mir, stelle ich mir vor oder versuche ich mir vorzustellen, die Abgelichteten sind Personen, die mir nahe stehen, etwas in mir wehrt sich gegen diese Vorstellung. Eine körperlich instinktive Blockade, mir Nahestehende, gar seine Liebsten, die man um keinen Preis verlieren möchte, sich nicht nur nicht mehr am Leben zu denken, sondern sie sich auf realistische Weise tot vorzustellen, als Leichname zu visualisieren, Opfer eines Krieges, der damit nicht länger in der Ferne stattfände, sondern hier und jetzt, Scham und Schuldgefühle sträuben sich dagegen. –  Bereits als Schüler in der gymnasialen Oberstufe las ich in einem dieser Bändchen aus der im Fischer-Verlag erschienen Freud-Taschenbuchausgabe – die mit der originellen Graphik auf dem in leuchtenden Farben prangenden Cover, von wegen „grau ist alle Theorie“, in solch farbenfroher Verpackung versprach die freudsche Theorie dem Pennäler, so aufregend wie das Leben selbst zu sein –, las ich also in einem dieser Bändchen, in Das Ich und das Es vielleicht, von unbewussten Todeswünschen, die jeder von uns auch gegen geliebte Personen hegt und die eine der anderen psychischen Instanzen dann zensieren und via Schulgefühl abwehren muss, das Ich oder das Über-Ich. Was mir schon damals zu denken gab und bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. Der Königsweg zum Unbewussten und dessen insgeheime Todeswünsche ist natürlich hier wie überall bei Freud die Traumdeutung.

Es würde mich wundern, sollte mein Unbewusstes über kurz oder lang nicht auch auf die aktuelle Nachrichtenlage reagieren, die physische Realität des Krieges ist fürs erste noch weit weg, aber Raum und Zeit spielen für das Unbewusste keine Rolle, jedenfalls nicht die alles beherrschende Rolle wie fürs Wachbewusstsein. Ein Traum der gestrigen Nacht lässt mich in eben diese Richtung denken, an einen ersten tiefenseelischen Reflex auf den medialen Input, der dieser Tage unsere Hirne flutet, ein psychodynamisch kreativer Bearbeitungsversuch des auf der Bewusstseinsebene eingespielten Materials. Silvia an unserer Wohnungstür, ich einen Schritt hinter ihr, draußen auf dem Flur steht Putin, erkundigt sich, was für eine Wohnung wir denn suchen, er sei im Augenblick zwar beschäftigt, wolle dann aber mal sehen, was sich tun lässt. – Putin der Kümmerer, fällt meinem Unbewussten nichts Besseres ein? Nacht freudscher Auffassung verarbeitet das Unbewusste in unseren Träumen auch hin und wieder Tagesreste. Gestern oder vorgestern gab es eine kurze Meldung in den Nachrichten über diese „Putin hilf“-Rufer in der ostdeutschen Wüste. Ist es das gewesen, was mein Unbewusstes aufgeschnappt hat und meint verarbeiten zu müssen? Hat sein Tagesresteverwertungsalgorithmus keinen originelleren Vorschlag? Putin der Helfer, zum Fremdschämen fürs Ich-Bewusstsein, hat seine psychische Vorinstanz noch alle Tassen im Schrank. Und politically incorrect dazu.

Wolf Biermann, der Liedermacher, eine Ikone der undogmatischen Linken um 1968 und auch im darauffolgenden Jahrzehnt, dem „roten Jahrzehnt“, wie es der Historiker und vormals dogmatische Linke Gerd Koenen genannt hat, Wolf Biermann, der auch das Lied „Soldat Soldat“ gemacht hat, ist vorhin im Schweizer Radio gewesen, im rasant polemisierenden Politplausch mit einem Redakteur, der kaum zu Wort kommt. Unterwegs kurble ich manchmal an meinem Transistorradio, zappe durch die Sender, was ich zuhause nie mache. Biermann also, tatsächlich, ich bin sofort ganz Ohr, eigenartig, wie mich der frivole Zungenschlag, das lockere Mundwerk des Barden, noch immer in den Bann zieht, obwohl so ziemlich jede seiner mit unverhohlener Eitelkeit hingerotzten Sentenzen, Spruchweisheiten, Altersklugheiten mittlerweile, ein „ja aber“ in mir hervorruft, mich zum Widerspruch reizt. Selbstverständlich geht das Gespräch, die beiden duzen sich, Biermann und der Redakteur, über den Krieg, worüber sonst. Der schätzungsweise nur halb so alte Radiomensch lässt diesbezüglich dem gut doppelt so alten, dem inzwischen 85-Jährigen, den penetranten Belehrungston, die schnoddrige Besserwisserei durchgehen wie ein Bubi oder der Groupie seinem Idol. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu, sagt Biermann, sei sein Lebensmotto. Ich tue mich schwer damit, ihm das abzunehmen, denn immer wenn ich ihn nach Jahren zufällig einmal wieder höre, so wie jetzt, ist mein erster Gedanke, der hat sich überhaupt nicht verändert.

Aktuell ist natürlich Putin Biermanns Buhmann. Und noch einer, mit dem es für mich plötzlich spannend wird, ich sage gleich warum, Altkanzler Schröder, der Putin Intimus. Dem die Hannoveraner Ratsherrschaft heute früh, tagesaktuelle Eilmeldung, mit dem Entzug der Ehrenbürgerschaft der Stadt droht, wenn er sich nicht von Putin distanziert und dessen Angriffskrieg verurteilt. Was er mit Sicherheit nicht tun werde, versichert Biermann und erinnert seinen jungen Freund, seinen Gesprächsintimus im Radio an ein Lied, das dieser doch sicher schon einmal gehört habe, das gehe so, „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das beste, was es gibt auf der Welt, drum sei auch nie betrübt, wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt, ein Freund, ein guter Freund, ist der größte Schatz, dens gibt, sonniger Tag, wonniger Tag“ und so weiter und so fort und pass auf, sagt Biermann, jetzt kommts, die brandaktuelle Liedstelle, „ein Freund bleibt immer Freund, auch wenn die Welt in Scherben fällt“. Auf diese Zeile im Lied kommt es an, sagt Biermann, augenblicklich sei es noch nicht soweit, aber wenn es soweit sei und die Welt kurz davor stehe, in Scherben zu fallen, weil die politischen Schwächlinge und Feiglinge im Westen es haben so weit kommen lassen und Putins Finger schon den atomaren Knopf berührt, dann komme Schröders Stunde und die Politiker hierzulande mit ihren moralischen Skrupeln, die Zögerer und Zauderer, bitten ihn auf Knien, flehen ihn an, nach Moskau zu fahren und Putin zu bewegen, möge er doch behalten, was er sich schon unter den Nagel gerissen hat, seinen Finger wieder vom atomaren Knopf zu nehmen. Was der auch prompt tun werde, denn daraufhin winke ihm und seinem Busenfreund in Stockholm der Friedensnobelpreis. – Und was soll ich sagen, genau dieser verrückte Gedanke ist auch mir vor Stunden durch den Kopf gegangen, war das nun Telepathie und wie herum ist die Gedankenübertragung gelaufen, von mir zu Biermann oder andersherum? Außer Frage jedoch, dieser Tage scheint kein Gedanke zu aberwitzig, als dass er morgen früh nach dem Aufwachen nicht schon Wirklichkeit sein könnte und ihn die Spatzen von den Dächern pfeifen.

Sonniger Tag, wonniger Tag, sonnig schon, aber alles andere als wonnig. Dafür sorgen allein die Nachrichten und ich muss zu meiner Schande gestehen, jeden Morgen ertappe ich mich von neuem dabei, wie ich unwillkürlich gespannt bin, wissen will, welche Neuigkeiten sie über das Kriegsgeschehen berichten und mit dieser stupiden Aufmerksamkeitskonditionierung der medienpsychologischen Binse, only bad news are good news, meinen Tribut zolle. Heute früh wieder, wie schon seit Tagen, nichts Neues über den 60 Kilometer langen russischen Militärkonvoi, der sich Richtung Kiew bewegt. Da fragt sich auch der militärische Laie irgendwann, weshalb es nicht voran geht. Der Lindwurm nicht endlich das Maul aufreißt und Feuer speit, wie es sich für einen Drachen gehört. Noch im Zuschauer aus er Ferne, dem Voyeur wider Willen, wie er sich gerne einredet, rührt der diesmal nicht mehr gar so ferne Krieg an archaische Ängste und Instinkte und mythische Bilder steigen selbst in denen auf, die fest von sich geglaubt haben, das kurze Wegstück vom Mythos zum Logos längst zurückgelegt zu haben, so ungefähr vor 2500 Jahren, nach den Perserkriegen.

In den Tagen der Endphase des zweiten Golfkriegs 1991, der Luftschlacht um Bagdad, besuchten Katrin und ich, wir hatten die Zelte in Marburg abgebrochen und waren auf dem Sprung in den Südschwarzwald, Ursel, die Bauchtänzerin, die mit Bernd draußen auf dem Dorf in der Nähe von Marburg wohnte und gerade ihr Baby bekommen hatte. Unser Besuch war unangekündigt, Bernd unterwegs an dem Vormittag und so trafen wir Ursel allein an mit ihrem Neugeborenen. Mitten im schönsten Chaos. Der große lichtdurchflutete Wohnraum, in den Bernd in mühevoller Eigenarbeit, er war promovierter Chemiker und kein Handwerker, den Kern des alten Hauses verwandelt hatte, war übersät mit hauswirtschaftlichem Plunder, der Fernseher lief, breaking news auf CNN, zwei Kanarienvögel, vielleicht auch bloß Wellensittiche in einem die Raumecke füllenden und fast bis zur Zimmerdecke reichenden Vogelbauer krakehlten um die Wette mit den Stimmen aus dem Fernseher. Ursel, wie immer strahlend unter ihrer blonden Lockenpracht, versank, eingeklemmt zwischen einem Wäscheberg und einem Stapel Pamperspackungen, in ihrem Fauteuil und gab eben der Kleinen die Nuckelflasche, vielleicht auch die Brust, es ist einfach zu lange her. Was mir aber deutlich in Erinnerung geblieben ist, Katrin und ich räumten eine Sitzfläche frei auf der Couch, der gleichfalls mit Utensilien belagerte Wohnzimmertisch zwischen uns beiden und ihr und dem Baby, wie sie uns gefragt hat, den Fernseher hatte sie in einer Nuckelpause leise gedreht, ob uns das auch so gehe, mit den Fernsehbildern aus Bagdad, der Live-Berichterstattung durch CNN, bis zum Ende der Tagesthemen, bis in die Nacht hänge sie vor dem Bildschirm, fasziniert von den Lichtblitzen am nächtlichen Himmel über Bagdad. Und anderntags das gleiche, wieder fiebre sie nach den Bildern, schon am Vormittag wie jetzt, fürchte ständig etwas zu verpassen, sobald sie mit der Kleinen beschäftigt ist und gerade nicht auf den Bildschirm konzentriert.

Jeden Tag ein Silvesterfeuerwerk der Premiumklasse und das schon am Vormittag, das Bagdad Bombardement der Amerikaner während der Tage des zweiten Golfkriegs, von CNN-Reportern an Ort und und Stelle aufgenommen und in Echtzeit Zuschauern in aller Welt auf die heimischen Fernsehbildschirme übertragen, das war neu, ein sensationeller medientechnischer Quantensprung damals, vor dem eigentlichen noch, dem digitalen, dem Internet. – Ich überlege, welche Reaktionsweisen auf die mediale Nachrichten- und Bilderflut von Kriegsereignissen und Gewaltexzessen seinerzeit zu beobachten gewesen sind und sich von den gegenwärtigen nicht unterscheiden. Unterscheidbar für mich sind drei Weisen, einem Medienphänomen zu begegnen, in welchen das „prometheische Gefälle“ in nuce zum Ausdruck kommt, prometheisches Gefälle – die Tatsache, dass der moderne Mensch zunehmend an dem unlösbaren Problem laboriert, technisch mehr zu können als was er zu bewältigen imstande ist, physisch und mental – ist noch so eine Wortschöpfung von Günther Anders. Die erste und am häufigsten anzutreffende Weise, auf die mediale Kriegsberichterstattung zu reagieren ist die, sich ihrem Thrill einfach hinzugeben, sich widerstandslos dem Schicksal eines Medienrezipienten und -konsumenten zu ergeben, das ihn audiovisuell zum Zuschauer der realen Leiden und des Unglücks anderer macht, ihn nolens volens in einen Voyeur verwandelt, dem dieses Unglück und Leiden zu einer Quelle spannungsgeladener Unterhaltung wird. Ob Ursel – jener Besuch war unser letzter Kontakt –  einverstanden wäre, wenn ich sie in diese Schublade einsortiere?

Die zweite Weise, mit dem medialen Angriff auf unser Aufmerksamkeitsverhalten umzugehen, ihn abzuwehren, ist die Selbstdisziplinierung. Idealtypisch gefasst, eine Enthaltsamkeit, die genau weiß, wessen sie sich enthält und sich der Versuchung daher täglich aussetzt, dosiert, durch bewusstes und kontrolliertes Ein- und Ausschalten der Nachrichten, Hebelchen nach links, Hebelchen nach rechts, an meinem Transistorgerät. Ein löblicher Vorsatz, mit dem es einem gelingen könnte, sich über das Weltgeschehen auf dem Laufenden zu halten, darüber im Bilde zu sein, ohne der obszönen Versuchung Krieg als Zuschauersport im Realityformat, als laufendes Unterhaltungsprogramm, zu erliegen. – Die dritte Weise des Umgangs ist eine Kapitulation, die derjenigen der ersten Umgangsweise, überlaufen auf die Seite des Angreifers, genau entgegengesetzt ist. Einfach den Rollladen herunterlassen, keinen Nachrichten mehr hören. Freundinnen von Silvia machen es so, das Kriegskind mit dem Bade ausschütten.

Heute ist der 5. März, morgen, Sonntag 6. März, hat Silvia Geburtstag. Darum haben wir uns überhaupt die Tage in der Ferienwohnung gegönnt und unser Portemonnaie zum wiederholten Mal ausgewrungen. Endlos hinausschieben, wie die atomare Endzeit nach Günther Anders, lässt sich die Endlichkeit der Portemonnaies der kleinen Leute nicht, sie sind schlicht und ergreifend auf einmal leer. – Gestern hatte meine Schwester ihren Termin. Mein Schwager will im Laufe des Tages anrufen und berichten, wie es verlaufen ist. Es seien acht Stunden veranschlagt für die Operation.

Die russische Operation, militärische Spezialoperation, wie der chirurgische Eingriff im Moskauer Ärztekommunique stets genannt wird, läuft heute den zehnten Tag. Über ihren Verlauf gibt es keine verlässlichen Auskünfte. Kreml-Sprecher Peskow ist auch nicht verlässlich, vermutlich. Seiner schönen, sonoren Stimme zum Trotz, sein russischer Don-Bass könnte mich glatt für ihn einnehmen, zum Verlieben. Man hört sie nur kurz, bevor die Übersetzerstimme einsetzt, in den hiesigen Medien lässt man ihn kaum zu Wort kommen. Mir kam schon der Gedanke, er spricht gar nicht über die militärische Lage in den ukrainischen Sümpfen, wir sprechen hier im Westen kein russisch außer der Ex-Kanzlerin und einigen versprengten Russophilen, könnte es nicht sein, Peskow liest in Wahrheit Passagen aus Tolstois Krieg und Frieden oder aus Dostojewski Die Dämonen. Früher hätte man die Kreml-Astrologen darüber befragen können, man hat sie nach dem Kalten Krieg ausgemustert, wie die Haubitzen und anderes schweres Gerät aus Beständen der nationalen Volksarmee nach der deutschen Wiedervereinigung. Alles rächt sich einmal.

So auch, wenn man als einfache Bürgerin, schlichter Bürger, vormals Untertan, dadurch schon positionsbedingt stets ein wenig beschränkt, leicht naiv, nicht den blassen Schimmer von der positionsbedingt anders gestrickten Psyche der Macht, der Perspektive der Mächtigen, wenn man also aus seiner kleinen Mann-Perspektive und mit seiner kleinen Frau-Psychologie, Wohnküchen- psychologie, meint, sich realistisch einfühlen und hineindenken zu können in die Herzen und Hirne „unserer“ politisch Mächtigen, in das Innenleben von Potentaten schlussendlich. Ein Unterfangen, von dem ich glaube, wir können uns das unbewusst Mimetische und unwillkürlich Identifikatorische, das hier im Spiel ist und letztlich den Ausschlag gibt, nicht primitiv genug denken. Mein Faible für die Stimme des Kreml-Sprechers, Väterchen Peskows Don Bass, hat es mir erneut bewiesen. Grenzt das nicht schon an politischen Telefonsex? Hitler hatte einen schönen Bariton, so die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders in einem Feature, wir hätten diese Stimme aus den Tondokumenten üblicherweise als eine heisere, in Gebrüll übergehende und sich überschlagende Stimme im Ohr. Die Stimme habe normalerweise aber völlig anders geklungen, so dass „der Führer“ die Leute auch stimmlich für sich eingenommen hat, oder was heißt auch, vor allem stimmlich, der Rest kam dann von selbst. – Das Optische hat natürlich genauso seine politische Verführungskraft, in die eine wie in die andere Richtung, Putin ist doch gebotoxt, hat Elisabeth Silvia am Telefon gesagt und sich mächtig entrüstet über den Saukerl und die Putin-Versteher, als hätte man allein dem Botox an ihm ansehen können, ansehen müssen, dass er vor keiner Schandtat zurückschreckt.

Den angenehmen Bariton übrigens, den Ohrenschmeichler des Führers konnte man im Film Der Untergang auf sich wirken lassen. In der Stimme von Bruno Ganz. Der die Rolle wahrscheinlich auch deshalb gekriegt hat, weil er selber, sozusagen von Hause aus, immer schon stimmlich wie Hitler gesprochen hat und also um wie Hitler zu sprechen, nur weiter wie Bruno Ganz sprechen musste, so kam es mir jedenfalls vor und hinterher musste ich, wenn er Hölderlin vortrug, mir eine Zeitlang jedes Mal sagen, das ist jetzt aber nicht Hitler. – Den Film fand ich grauenhaft. Weil er den Zuschauer in eine emotionale Komplizenschaft zwingt. Und die zentralen Bunkerszenen durch die Simulation einer Atmosphäre residualer Menschlichkeit, eines Rests an Gefühlsregung und zwischenmenschlichem Rapport, von einer objektiven Verlogenheit sind, die schwer erträglich ist.   Weil die unentrinnbare Intimität dieses menschelnden Untergangs die Unmenschlichkeit und das Grauen des Weltuntergangs außerhalb der Bunkermauern vergessen macht, ausblendet. Der szenische Zusammenschluss mit dem Gefangenen in seiner Zelle zwischen den Bunkermauern versetzt den Zuschauer, auch wenn ich an dieser Stelle nur für mich sprechen kann, in einen klaustrophobischen Albtraum, eine angenehme Stimme, die im ruhigen Tete-a-Tete mit der Schreibkraft mir, dem intimen Voyeur, das Gefühl von einem an sich patenten Kerl aufnötigt, dessen tragisches Heldenschicksal ihn in diese ausweglose Lage gebracht hat und dem keineswegs das Blut von den Händen trieft, lediglich die Manschetten am Ärmel schmuddelig und wenn das Zittern kommt, der Tremor des Morphinabhängigen und Tablettensüchtigen, packt einen das Mitleid mit der leidenden Kreatur, der geschundenen Führernatur. Grauenhaft. Wahrscheinlich wäre ich nicht bis zum Ende geblieben, wäre hinausgegangen, wenn ich gekonnt hätte, ging aber in der Dunkelheit nicht und ich hatte Ulrich extra gebeten, mich ins Kino zu begleiten, ich konnte noch Schatten und Umrisse auf der Leinwand erkennen.

In der Kunst oder ästhetisch und zwar produktions- wie rezeptionsästhetisch und auch im Leben, dem persönlichen als auch dem politischen, nicht Parasit des Grauens irgendeiner Schreckensherrschaft werden und sich in emotionale Komplizenschaft begeben mit den Urhebern und Verbreitern des Schreckens – vielleicht besteht darin die wahre Lebenskunst, die idealtypisch oder in Reinkultur zu verwirklichen kaum jemandem möglich sein wird. – Ich überlege, ob sich nicht auch die „Moral der Geschichte“, die in Herz der Finsternis erzählt wird, so auf den Punkt bringen ließe. Als Autor der Erzählung und mithin als Künstler vermeidet es Conrad, parasitär, komplizenhaft, voyeuristisch den Schrecken auszustellen, der in der Geschichte allgegenwärtig ist. Über die Figur, in der sich dieser Schrecken sozusagen personal verkörpert, erfahren wir so gut wie nichts, aus dem verlässlich auf ihre individuelle Psyche, ihren Charakter zurückgeschlossen werden könnte, ob sie ihrem Naturell nach ein Bösewicht ist oder erst zu einem solchen wurde durch die Umstände, durch den Kolonialismus, dessen Politik und Interessen weder subjektiv erklärbar sind, noch sich substantiell reduzieren lassen auf die Individualpsyche der im kolonialistischen Kontext Handelnden. Was an Grausamkeiten und Schrecken geschieht, hat seine hauptsächliche Ursache weder in der psychischen Disposition des obersten Kolonialherrn, eines Monarchen mit Namen Leopold im fernen Belgien, noch in den seelischen Abgründen der an Ort und Stelle Agierenden, mitten im Herzen der Finsternis, wie jener Kurtz, ein Desperado par excellence. Weshalb es nur konsequent ist, wenn wir aus seinem Mund nichts erfahren, nichts über ihn oder darüber, wie er die ihn umgebende Welt in seiner desperaten Seelenverfassung wahrnimmt. Näher begegnen wir ihm als Leser nur in einer flüchtigen Szene, aus seiner Urwaldbehausung Huckepack auf den Flussdampfer gebracht, in kritischem Zustand, im Fieberdelirium und was er spricht, die beiden Worte, die einzigen für seine Begleiter verständlichen, sind auch für den Erzähler alles, was er je von ihm selber zu seinem Schicksal erfahren hat, „das Grauen“.

Joseph Conrad verharmlost nicht die Gräuel des Kolonialismus, wenn er sich der Psychologisierung enthält, Protagonisten wie den Elfenbeinhändler Kurtz nicht als charakterliche Bösewichter zeichnet, sich weigert, die Ursache der kolonialistischen Schrecken in der Hauptsache den maßgeblich handelnden Individuen und deren finsterer Seele anzulasten. Das Personalisieren, Psychologisieren und damit einhergehende Moralisieren hinsichtlich der Urheberschaft katastrophaler politischer Fehlentwicklungen und bezüglich der Schuldfrage, wer verantwortlich ist für Krieg und Gewalt, wie es gegenwärtig nicht erst seit Kriegsbeginn in der Öffentlichkeit grassiert, aber seither von Tag zu Tag medial schrillere Töne annimmt – diese „Individualpsychologisierung“ und „Individualpsychopathologisierung“ von Entscheidungen und Handlungen lenkt ab von etwas anderem, einer anderen, grundlegenderen Logik und Psycho-Logik „objektiver“ Interessen und „transsubjektiver“ Motivlagen, von sozialen Formationen, wirtschaftlichen und politischen Machteliten, Staaten und Imperien. In diesem kontextuellen Rahmen und an dessen Rationalität oder, wenn man so will, Irrationalität maßnehmend oder vermeintlich orientiert entscheiden und handeln die jeweiligen Führungspersönlichkeiten, Entscheidungsträger, Machtpolitiker. Ob und inwieweit das, was sie tun, rational erscheint, sollte vor diesem Hintergrund beurteilt werden und nicht unabhängig davon nach den ihnen zugeschriebenen charakterlichen Eigenschaften oder ihrem mutmaßlichem Geisteszustand, ein Caligula hier einmal ausgenommen.

Putin hat 2001 im Bundestag eine Rede gehalten, in der er Gorbatschows Wort vom gemeinsamen europäischen Haus aufgegriffen hat. Außerdem soll er zu dieser Zeit in einem Gespräch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush einen russischen Beitritt zur Nato, wenn nicht erwogen, so jedenfalls nicht ausgeschlossen haben. Beides, die Zustimmung zur Idee vom gemeinsamen europäischen Haus und der mögliche oder denkbare Nato-Beitritt Russlands dürfte nicht einer präsidialen Augenblickseingebung oder vorübergehenden Laune entsprungen sein, vielmehr ist davon auszugehen, dass es mit Bedacht ausgesprochen wurde und in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der von ihm repräsentierten Machtelite und deren Verständnis und Definition der Interessen ihres Landes. Muss seitdem nicht etwas grundlegend schief gelaufen sein im europäischen und internationalen Interessenausgleich, im Kräftegleichgewicht oder  -ungleichgewicht zwischen dem ehemaligen Westen und seinem Kontrahenten im Osten? Sollte diese Störung wirklich allein von der einen, der östlichen Seite verursacht, provoziert worden sein? Gar auf das Konto eines einzelnen Mannes gehen, eines machtgeilen Autokraten? Ein eher sympathischer Typ noch im Jahr 2001, der zwei Jahrzehnte später plötzlich aus unerfindlichem Grund  zum Pychopathen wird, ein Irrer, ein Verrückter, der seit zehn Tagen Amok läuft. Und keiner unter den übrigen Mächtigen dieser Welt, Repräsentanten von ebenso mächtigen Interessen, etwas dafür kann, dass es am Ende so weit gekommen ist?

Dieser Desperado der internationalen Politik seit zehn Tagen mit dem von ihm befohlenen Angriffskrieg mitten in Europa die Welt erschüttert. Mit ungewissem Ausgang. Gewissheit besteht vorerst nur über das Grauen und das Leid, das auch mit diesem Krieg über Soldaten und Zivilisten, ein ganzes Land und seine Bewohner hereinbricht. – Westliche Militärexperten, die sich mit der im Brustton der Überzeugung vorgetragenen Expertise über jeden Zweifel erhaben wähnen und am Tag des russischen Angriffs und auch zwei oder drei Tage danach der Ukraine nur wenige Tage bis zur Niederlage und Kapitulation gegeben haben, schieben ihren Irrtum, Pardon, die statistische Abweichung ihrer Prognose, jetzt den russischen Streitkräften  in die Schuhe, deren „Performance“ sei suboptimal. Ein Rundfunkkommentator spekuliert über einen möglichen „Gamechanger“ in dem Konflikt, als langweile ihn bereits die Kriegsberichterstattung, weil nach über einer Woche Sieg oder Niederlage einer Seite noch immer in der Schwebe ist. Wer  nicht selber auf dem Schlachtfeld blutet, kann es sich leisten, den Krieg bzw. das Kriegsspiel auch einmal spieltheoretisch zu beleuchten, durchzuspielen. Die Toten können es nicht mehr und die durch den Spielverlauf an Leib und Leben und Hab und Gut schwerst Geschädigten haben keine Lust mehr dazu.

War Requiem

Wir werden bis Donnerstag bleiben, dann sind es zwölf Tage, zu kurz für Silvia, um sich zu erholen, zu regenerieren, was für ein Wort. Zwölf Tage, zehn davon im März, march is the cruelst time of the year, der Februar ist es auch schon gewesen und ich glaube der April wird nicht weniger grausam sein. An den Mai, komm lieber Mai und mache, den lieben Mai, mag ich lieber nicht denken, um mir nicht falsche Hoffnungen zu machen. – Glaube Liebe Hoffnung, das paulinische Rezept bei allen Beschwerden, in Zeiten auch der politischen Pathologie, der kollektiven Krankheit zum Tode, dieses Rezept in irgendeiner Apotheke einzulösen, mir gelingt es nicht. Meinem Schwager gelingt es oder scheint es im Moment gelungen zu sein. Er hat das Rezept in der Originalapotheke eingetauscht, beim „biblischen Gott“, wie er ausdrücklich betont und im letzten Telefonat vor dem OP-Termin meiner Schwester Silvia gegenüber näher ausgeführt hat. Auf den Rat von ihr bezüglich der Misteltherapie kam von ihm die lapidare Feststellung, Gott heilt. Und die Berufung auf Gotteserfahrungen, wie er sie vor Jahrzehnten bereits einmal gehabt habe und gerade jüngst wieder habe. Und hinsichtlich deren er Wert auf die Feststellung legt, dass es sich um die Erfahrung des biblischen Gottes handle, Buddhismus und Yoga führten von diesem wahren Gottesglauben weg, fügt er ausdrücklich von sich aus hinzu, ein Irrweg, ersonnen vom Antichrist.

Mir ist unwohl, wie mir stets unwohl ist, wenn mich jemand, mit dem ich nicht seit langer Zeit schon in einem vertrauensvollen Gesprächskontakt stehe, im persönlichen Austausch bin über meine innersten Gedanken und Gefühle, unvermittelt über sein religiöses Bekenntnis, seinen Gottesglauben, in Kenntnis setzt, sozusagen darüber ins Vertrauen zieht, ohne mich zuvor gefragt zu haben, ob ich das möchte, mich auf diese Weise hineinziehen lassen in eine intime Angelegenheit, bei der ich mich, ohne dazu ausdrücklich aufgefordert zu werden, genötigt fühle, mich meinerseits zu bekennen, ob es mir recht ist oder nicht. Mich dieser Art unter Bekenntniszwang gesetzt zu sehen hat mir schon immer Unbehagen bereitet, eine Aufdringlichkeit, die etwas penetrant Peinliches hat, eine Grenzüberschreitung. Und was im Fall meines Schwagers das Beharren auf Rechtgläubigkeit betrifft, die Berufung auf den biblischen Gott und das Verdikt gegen Buddhismus und Yoga, überdies eine Aggression, von der ich annehmen muss, dass sie besonders gegen mich gerichtet ist.

Manchmal ereignen sich innerhalb kürzester Zeit, dicht aufeinander folgend, Dinge, die man bei einem größeren zeitlichen Abstand wahrscheinlich nicht in Zusammenhang brächte, deren geistige Verwandtschaft einem vielleicht gar nicht auffiele, solange sie nicht kurz hintereinander geschehen. Im Augenblick weiß ich nicht, was mich mehr entsetzt, die dogmatische Glaubensbekundung meines Schwagers mit ihrer gegen Silvia und mich gerichteten Spitze oder, zwei oder drei Tage vor unserer Fahrt zum Bodensee, Martins ultimative Aufforderung an mich und ich höre auch jetzt noch, wie seine Stimme bebt am Telefon, dermaßen aufgebracht mir gegenüber habe ich ihn noch nicht erlebt, ihm auf der Stelle zu sagen, warum ich nicht geimpft bin, ich will jetzt endlich wissen Hans-Willi, warum du nicht und so weiter, wissenschaftlich medizinische Gründe sind die einzigen, die er akzeptiert, gelten lassen will. – An sich weiß ich natürlich, ist mir schon klar, dass es nicht nur den religiösen Bekenntniseifer und Bekenntniszwang gibt, sondern einem auch in anderen Dingen, insbesondere in weltanschaulichen Fragen, mitunter ein Bekenntnis abverlangt, Zwang sich zu bekennen auf einen ausgeübt wird, aber es offenbar des Schwagers bedurft hat, sein Anschauungsunterricht in gläubigem Bekennen und Zwang zu solchem Bekennen auch für andere nötig war, damit ich wenigstens jetzt begreife, dies genau ist es gewesen, was vor Tagen zwischen uns vorging, als Martin, kein enger Freund, aber doch ein langjähriger Bekannter, mir sein fernmündliches Ultimatum stellt, förmlich die Pistole auf die Brust setzt. Was er gewollt hat, geradewegs von mir erpresst hat, war ein fundamentalistisches Bekenntnis zur Wissenschaft, ein quasi religiöses Glaubensbekenntnis, einen Rütli-Schwur auf den Gessler-Hut der Schulmedizin und ihrer Rezepturen, die allein seligmachende Heilkunst. Warum sollte mich also im Augenblick nicht beides gleichermaßen entsetzen, Martins Wissenschaftsgläubigkeit und Medizinfrömmigkeit ebenso wie der dogmatische Gottesglaube meines Schwagers.

Gott heilt. Ich kann und will dem Schwager da nicht widersprechen. Auch darin nicht, dass der Glaube Berge versetzt, oftmals. Allerdings will ich darauf beharren, dass sein Vertrauen auf die göttliche Heilkraft die Misteltherapie nicht ausschließen muss, das Vertrauen in eine pflanzliche Heilwirkung, die sich wie alles übrige der vom biblischen Gott verantworteten Schöpfung verdankt, in letzter Instanz auf diesen persönlich zurückgeht, wenn man denn schon an diesem Punkt argumentieren möchte. Wozu mein Schwager offenbar bereit ist, womit ich mich jedoch schwer tun würde, weshalb es gut gewesen ist, dass Silvia mit ihm am Telefon gesprochen hat, sie kann damit anders umgehen. Ich hätte mich womöglich zu meinem Lieblingsparadox hinreißen lassen. Kann der allmächtige Gott einen so schweren Stein erschaffen, dass er ihn selber nicht von der Stelle zu bewegen vermag? Muss er selbstverständlich können, so einen Stein erschaffen, in der ihm zugeschriebenen  Eigenschaft des Allmächtigen. Dann könnte er aber eben dieses eine nicht, es wäre ihm unmöglich, keinen für ihn unbeglichen Stein zu schaffen. Und schon wäre er nicht mehr der Allmächtige, verdammt.

Woran sich halten, festhalten? Bei so viel bedrohlicher, lebensbedrohlicher Ungewissheit, erst die Pandemie, seit zehn Tagen nun schon der Krieg. Die einen klammern sich an Worte, sei es das Wort Gottes oder das der Wissenschaft. Denen Worte kein Halt sind, die greifen zu den Mitteln der Betäubung. Ein kleines, apartes Völkchen hingegen sucht jenseits der Worte, jenseits von Worten, Trost in der Musik. Was anscheinend sogar in Weltkriegszeiten möglich ist, bestes Beispiel der musikalische Vogelfreund Messiaen, dessen 30. Todestag, wie ich aus dem Radio erfahre, kurz bevorsteht. Der sein Lebensende mithin bereits vor 30 Jahren hinter sich gebracht hat, während wir Lebenden das unsere noch auf unbestimmte Zeit vor uns herschieben. Was sich aus der heute himmlischen Warte Messiaens gewiss so sagen ließe, ohne dass es für seine Ohren despektierlich klingen müsste, da der gläubige Katholik sicher die paulinische Glaubensdoktrin von einem himmlischen Auferstehungsleib geteilt hat, mit dessen unverweslichen Augen man dann auf das irdische Leben zurückblicken können müsste, wie ich mir das gerade eben vorgestellt habe bei dem Gedanken, der Messiaen im Himmel könne von sich sagen, sein Lebensende bereits vor 30 Jahren hinter sich gebracht zu haben.  Dieser Messiaen brächte eventuell ein gewisses Verständnis auf für einen wie mich, der nach wie vor in seinem irdischen Leib eingekerkert ist, in diesem verweslichen Fleisch feststeckt, dessen Haltbarkeitsdatum irgendwann demnächst abläuft – zur Zeit konserviere ich es in dieser Schachtel von Ferienwohnung, bei der ein nennenswerter Antiagingeffekt nicht zu befürchten ist –, Verständnis dafür, wenn ich ihm von hier unten aus gestehe, wie die theologischen Abstraktionen, die Spitzfindigkeiten des Apostels mir gerade gegenwärtig besonders trostlos erscheinen und wie dadurch einmal mehr und dringlicher das Bedürfnis nach etwas anderem in mir sich regt, die Sehnsucht nach einer wortlosen Seelenheilkunst, nach dem Trost der Musik.

Seiner Musik? Hm, wenn ich jetzt wieder an die Konzerte draußen denke, was die den Vogelstimmen nachempfundenen Kompositionen angeht, ziehe ich allemal das Original seiner Coverversion vor. Aber mein Ausgangspunkt war der Trost der Musik in Zeiten des Kriegs, Messiaens Beispiel eines musizierenden und komponierenden Kriegsteilnehmers. Freilich nicht auf dem Schlachtfeld, sondern abseits davon, im Hinterland des Krieges, in einem Gefangenenlager bei Görlitz 1941. Dort schrieb Messiaen, Papier zur Niederschrift der Partitur war vorhanden, sein Quatuor pour la fin du temps, das Quartett aufs Ende der Zeit. Eine metaphysisch transzendent, überweltlich zu verstehende Titelgebung, was die Intention des Komponisten anlangt, die manifest physische weltzeitliche Konnotation dürfte dem Weltpremieren Publikum im Lager, hunderte Kriegsgefangene und eine handvoll deutsche Offiziere, erst zeitverzögert aufgegangen sein, die Bewusstseine „geflasht“ haben, so wie es die aktuelle Zeitenwende gerade mit unseren Bewusstseinen tut. Wäre es anders gewesen, weiß ich nicht, was bei der Erstaufführung noch „rübergekommen“ wäre an musikalischem Trost, zumal für konventionelle Hörer Messiaens Tonkunst auch in diesem Stück, Klarinette plus Klaviertrio, an sich schon gewöhnungsbedürftig war, der Berichterstatter vom Lokalblatt verfiel auf den Vergleich mit Strawinskys Sacre du printemps, was nicht unbedingt als Empfehlung zu verstehen war.

Mit dem Trost der Musik, dem ihren Tönen und Tonfolgen entströmenden Balsam für die Seele, wird es eine Problem, sobald Dissonanzen den Höreindruck bestimmen, die Harmonien sich rar machen, das Sperrige sich vor das Eingängige schiebt, dem Komponisten mag dies noch so sehr schöpferischer Selbstgenuss und seelische Erhebung sein, rezeptionsästhetisch ist es problematisch. Der für Durchschnittshörer drastisch reduzierte „Tröstungsimpact“ seiner reinen Tonkunst könnte für Messiaen mit ein Grund gewesen sein, seinem Werk eine Bibelstelle, Worte aus der Offenbarung des Johannes voranzustellen, dem schwächelnden Trost der rein musikalischen Darbietung eine wuchtige Wortstütze beizugesellen. „Und ich sah, ein gewaltiger Engel kam aus dem Himmel herab, er war von einer Wolke umhüllt und der Regenbogen stand über seinem Haupt. Und der Engel schwor bei dem, der in alle Ewigkeit lebt, es wird keine Zeit mehr bleiben, denn wenn der siebte Engel seine Stimme erhebt und seine Posaune bläst, wird auch das Geheimnis Gottes vollendet sein.“ – Das Zeitenende, das die Ewigkeit anbrechen lässt, endet mit der raffiniert doppeldeutigen Rede vom vollendeten Geheimnis Gottes: Bedeutet diese Vollendung nun seine Offenbarung, seine Offenlegung, oder besiegelt diese Rede die endgültige Unergründlichkeit des göttlichen Geheimnisses. Hierüber müsste ich mich jetzt wieder mit meinem Schwager ins Benehmen setzen, ihn fragen, ob ihm aus seiner Verbindung zum biblischen Gott, aus seinen Gotteserfahrungen speziell, diesbezüglich Näheres und halbwegs Verlässliches bekannt ist. Was uns nur abermals entweder auf das Gefechtsfeld der Worte brächte oder in die Abstraktionswüste theologischer Begriffe. Und ich hatte schon den leisen Gedanken in mir bewegt, ob nicht mit dem Trost der Musik des ebenfalls dem biblischen Gott verpflichteten Komponisten etwas wie eine Pantonbrücke wortunabhängiger Verständigung zwischen mir und dem Schwager entstehen könnte. Wenn Messiaen nicht der Richtige ist, müsste ich es – falls sich dazu jemals der Kairos, die beim Schopf zu packende Gelegenheit bieten sollte – mit Bach versuchen, am besten, Jesus bleibet meine Freude, das Silvia gesanglich gerade übt. Oder wirklich ganz unverfänglich und dennoch lebensnah Mozart, die Kleine Nachtmusik, ungestörte Nachtruhe ist unabdingbar, die bis ans Ende aller Tage uns bleibenden Tage zu bestehen.

Nach Kriegsende 1945 waren Drei kleine Liturgien über die göttliche Gegenwart Messiaens erste öffentlich aufgeführte Komposition, ein Vokalstück, indem er im von ihm selbst gedichteten Text über „das Göttliche in uns, im Himmel und in allen Dingen“ reflektiert. So viel Gegenwart Gottes zu besingen nach einem gerade erst zuende gegangenen Weltkrieg, Weltenbrand, dazu ist eine gehörige Portion Glaube erforderlich. Nicht anders allerdings bei einem Kriegsausbruch, wenn das Schlachten eben begonnen hat und ein Ende nicht absehbar ist. Für ein Kriegsrequiem indessen scheint ebenfalls nicht die rechte Zeit, dieser Tage zu Kriegsanfang. Es sei denn, man zieht dessen Aufführung bewusst zeitlich vor, weil nach einem Dritten Weltkrieg dazu keine Gelegenheit mehr sein könnte. Oder das Requiem gibt es schon und ist datiert aus einer Nachkriegszeit, die ein Kriegsende, Weltkriegsende, zurückliegt, wie bei Benjamin Brittens War Requiem, uraufgeführt 1962 anlässlich der Wiedereröffnung der im Zweiten Weltkrieg durch den deutschen Luftangriff zerstörten Kathedrale von Coventry. – Britten zählt nicht zu meinen musikalischen Favoriten, hätte ich vorgestern nicht das Krüppelbuch, Hörbuch, zuende gebracht und gleich das nächste begonnen, Philipp Jordan Der Klang der Stille, wo der Stardirigent auch von seinen Lieblingskomponisten handelt, über die Heroen der Kompositionskunst plaudert, wäre ich nicht auf Brittens monumentale Trauermusik gestoßen, sein sperriges Musikdrama und erschütterndes Stimmengemälde über das Grauen des Krieges und würde jetzt hier nicht so mit meinem musikalischen Halbwissen renommieren.

Der Pazifist Britten – übrigens kein Glaubensathlet a la Messiaen, ein „dedicated christian“ in seinen späten Jahren heißt es, was immer man sich darunter vorzustellen hat – stellte seinem Werk das Motto voran, „alles was ein Dichter heute tun kann, ist warnen“, vor Kriegen und ihrem Grauen. Philipp Jordan schreibt, 2003 zu einem lange geplanten Dirigat des War Requiem in Graz gewesen zu sein, zufällig genau in jenen Märztagen, da der amerikanische Einmarsch in den Irak stattgefunden hat. „Ich erinnere mich an den Tag vor meiner ersten Orchesterprobe, es war der Abend vor dem Tag des Einmarsches und ich lernte gerade die Szene, in der die Hörner von weit klingen, die Kinder noch spielen, die Vögel singen, aber alles mit dem Wissen, dass am nächsten Tag die große Schlacht kommt. Das zu lesen und zu wissen, dass genau heute wieder viele Menschen davon betroffen sind, war sehr erschreckend.“ Vor der Aufführung habe er eine kleine Rede gehalten und gesagt, „dass man sich als Mensch und Künstler natürlich fragt, was man in einer solchen Situation tun kann und sich zunächst die Antwort gibt: Nichts, das ist zu groß, das geht über unsere Kräfte. Aber dass ich der Meinung bin, dass jeder bei sich selbst anfangen muss, Frieden zu schaffen, dass wir uns sammeln und zu uns kommen müssen, denn Frieden fängt bei uns selbst im Kleinen an. Dann führten wir das Werk auf und am Ende war eine große Stille, ein Schweigen, das bestimmt mehr als drei Minuten dauerte. Dann hielt es einer nicht länger aus und flüsterte mit heiserer Stimme bravo. Diese Stille von damals bewahre ich. Diese Stille ist wichtiger und größer als alle großen Worte, die man versucht in die Welt hinaus zu posaunen.“

Die Stille bewahren. Die Stille in uns, deren innerer Frieden die Voraussetzung ist für den äußeren, die Einkehr zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Friedens. Die Stille bewahren und den Frieden, die durch die Musik in uns einkehren. Die Stille und der Friede, die immer schon in der Musik sind, man muss sie nur hören und wahrnehmen. Was wiederum innere Stille und einen gewissen Seelenfrieden beim Zuhören voraussetzt und womit sich die Katze in den Schwanz beißt, oder? Eine schwierige Frage zu den komplexen Abläufen und Vorgängen in Psyche und Geist während des Hörens von Musik. Jordan antwortet auf die Frage und antwortet, beantwortet sie doch auch wieder nicht, hier am Beispiel des Requiems. „Der Pazifist Benjamin Britten“, so der Dirigent, „komponierte dieses Werk als Zeichen gegen die Unmenschlichkeit des Krieges. Da wird der Horrror des Krieges und nicht die Lust am Kämpfen dargestellt, nicht die Helden werden geehrt, sondern die Opfer. Deshalb ist dieses Requiem trotz der großen Orchesterbesetzung auch in den lauten Stellen eine stille Musik.“ –  Kurz, von den Musikrezipienten, den Hörenden dieser Musik, verlangen Stücke, „Werke“, wie dasjenige von Britten, das vokal und instrumental vom Horror des Krieges erzählt, ein bewusstes Hören, näher zu bestimmen als ein meditativ schweigendes Hören, gedankenvergessen und zugleich eingedenk der nicht-musikalischen Wirklichkeit, die durch die Töne und Klänge zum Ausdruck gebracht wird, durch sie hindurch zu den aufmerksam Zuhörenden spricht. Ja, ganz schön kompliziert, die angemessene Hörhaltung, die unseren Hörgewohnheiten diametral zuwiderläuft, angemessen zu beschreiben. Noch komplizierter ist einzig und allein, dieser ganz zugewandten aufnahmebereiten Haltung beim Hören tatsächlich zu genügen.

Und am schwersten ist es, die Stille nach der Musik zu bewahren, sie „auszuhalten“ und nicht mit einem „heiseren Bravo“ abzuschneiden. Vielleicht ist das Redebedürfnis, der innere Mitteilungsdrang, nach einer sogenannten Programmmusik, ein Wort, bei dem man weglaufen möchte, besonders stark; anders als wenn eine Musik „sans phrase“ dargeboten wird, reine Tonkunst im wörtlichen Sinn, die von sich aus auf keine Wirklichkeit außer ihr verweist, deren Tönen von nichts „Seiendem“ handelt oder spricht und daher während des Lauschens und unmittelbar darauf, nach dem Verklingen, die Hörenden zum Schweigen einlädt, zum Bewahren der Stille. Der Bedingung inneren Friedens. Bis dann, früh genug, das Geplapper im Kopf und mithin die Rechthaberei doch wieder anfängt, es von neuem losgeht mit Angriff und Verteidigung, Mein und Dein und weiß der Geier was.

Für mich dennoch kein müßiger Gedanke, mir vorzustellen, das dem wiederholten bewussten Musikhören sich verdankende Quäntchen bewahrter Stille in uns könnte etwas dazu beitragen, unseren bellizistischen Alltag „unilateral“ zu pazifizieren, ansatzweise und punktuell. Zugegeben mit dem Risiko, dass der oder die einseitig Abrüstende lebensweltlich untergeht, sofern ihre Ressourcen an ökonomischem und sozialem Kapital den Wettbewerbsnachteil aus der Pazifizierung nicht wettmachen. Musikalisch friedfertig gestimmte arme Schlucker wie wir landen in jenem  Abseits vom gesellschaftlichen Kriegsschauplatz, Houllebeques „erweiterter Kampfzone“, das ich soziales Totenreich nenne. – Wo ich schon bei der Schwarzmalerei bin, ich schlage vor, zwischen dem dritten Weltkrieg, den wir schwächliche Pazifisten angeblich seit Kriegsbeginn an die Wand malen, von einem dreifachen Weltkrieg zu unterscheiden, der ich weiß nicht vor wie langer Zeit begonnen hat und mit stets erneuter Eskalationsstufe mit unterschiedlicher Intensität überall auf der Welt tobt. Der Krieg der Menschheit gegen die äußere Natur, der Krieg gegen die innere Natur des Menschen und der zwischenmenschliche Krieg, „der Krieg aller gegen alle“ um Geld, Macht, Prestige, Anerkennung. Ein düsteres Kapitel, das allerdings eine gesonderte philosophische Abhandlung verdiente, keine akademische, um Himmels Willen, eine von unten, wo die Verblendung, die Schönfärberei, die Schönrednerei, das pseudoinklusive „Wir“ und das kompensatorische Solidaritäts- und Empathiegesäusel derer, die immer oben auf schwimmen, nicht verfängt.

Ein letzter musikalischer Schlenker doch noch, ein Abstecher auf das Gebiet der „modern classical music“. Auf das ich kürzlich beim Durchstöbern meiner schütteren Plattensammlung gestoßen bin, weil, was ich da hervorgezogen hatte, eine Aufnahme von Keith Jarret war. Nicht wirklich eine Jazzplatte, kein Stück improvisierter Musik, nein, eine nach Notation. Wie Silvia im Netz nachgelesen hat, wollte die deutsche Grammophon mit der Produktion eines Jazz-Klassik-Crossover ein populäres Album des Künstlers auf den Markt werfen und richtig Reibach machen, als der jedoch mit einer veritablen Partitur ankam statt einer Improvisationsidee und sich an Vermarktung nicht interessiert zeigte, war das Projekt auch schon gestorben und das kleine aber feine Label ECM – bei dem schon das Köln Concert erschienen war – brachte 1980 das Werk in der Einspielung mit dem New Yorker Syracuse Symphony Orchestra und Jarret am Klavier heraus, Celestial Hawk, eine Komposition mit minimalem Improvisationsanteil, a piano concert or a symphony, unable to classify it. Aber bevor wir das im Netz nachschauten, hatte ich die Platte bereits mehrmals angehört und hernach gegrübelt, was es mit „celestial hawk“, dem himmlischen Falken auf sich haben könnte. Diesem göttlichen Raubvogel, denn himmlisch kann hier schwerlich „only sky“ bedeuten, ist doch der Himmel, der über der Erde, je schon das Element der Vögel, der gefiederten Segler durch die Lüfte.

Was geschieht musikalisch bei dem Stück und was assoziiere ich während des musikalischen Geschehens, wenn ich mir dazu einen Raubvogel vorstelle, mich also versuchsweise einer programm-musikalischen Betrachtung hingebe, bei der ich nicht wissen kann, ob sie der Intention des Schöpfers dieser Musik noch irgendwie gerecht wird. – Drei Sätze, ohne Tempobezeichnung, kein „conbrio“ und dergleichen. First movement, ein zaghaftes Piano, leicht und blinkend, wie ein zögerndes Augenöffnen. Erwachen im Dunst der Frühe, denke ich und die Entdeckung der Langsamkeit, seiner selbst und der Welt inne werden. Stimmt und doch, Vorsicht, da ist plötzlich ein Auge, ein scharfes Auge, sein forschender, durchdringender Blick taxiert die Umgebung. Während er sich Zeit zur Erkundung nimmt, untermalt eine dunkle Perkussion das helle Piano, dessen Töne der Aufmerksamkeit des Auges spielerisch hierhin und dorthin gefolgt sind, ein verhaltenes monotones Pochen, düster und bedrohlich,  gleich einer Wetterfront, die am Horizont aufzieht. Was endlich folgt, das Regen der Glieder, ein müheloses sich Erheben und Entschweben in luftiger Höhe, das ist von ganz anderer Art, von der Art des „grand lever“ einer Majestät, eines „roi soleil“.

Und dies ist erst der Beginn, der Anfang des ersten Satzes. Soll ich weitermachen? Wenn ja, sollte ich mich auf alle Fälle kürzer fassen. –  Jarrets gottgleicher Falke, segelt inzwischen weit oben am Firmament. Der fliegende Klangteppich des Klaviers und ein jubilatorisches Tönen der Oboen haben ihn dorthin gezaubert. Ein Tänzeln, ein spielerisches sich Wiegen in den Lüften. Da ist aber gerade einmal Halbzeit im Satz und musikalisch hat sich auch davor anderes schon angekündigt, das dem Idyll, dem schönen Schein ein abruptes Ende bereitet, dem Trugbild des göttlichen Spiels, der paradiesischen Seinsweise, einer majestätischen Friedfertigkeit. Vermindert um einen Halbton, mit dieser winzigen musikalischen Rückung ist schlagartig alles anders, atmosphärisch die Stimmung gekippt, eine Verdüsterung toto coelo, was zuvor ein flüchtiger Schatten war, hat den Himmel komplett verdunkelt. Etwas bricht los, kein Sturm, eine Bestie, das Raubtier ist los, macht Jagd auf Beute, das Auge hat sie erspäht, aus senkrechter Höhe stößt der Terminator herab, stürzt sich auf die Beute, schlägt die Krallen hinein, ein mörderisches Staccato der Perkussions-Instrumente orchestriert das Gemetzel.

Mit diesem Massaker, dieser Furie der Gewalt, die etwas vom Schrecken des biblischen Armageddon haben, endet der Satz. Den kurzen Mittelsatz über verschwindet die Bedrohlichkeit nicht, setzt sich fort bis weit hinein ins third movement, die gewaltgeschwängerte Atmosphäre löst sich keineswegs in Wohlgefallen auf, das anfänglich noch unschuldige Wechselspiel von Licht und Schatten kehrt nicht zurück, was nach befriedetem Zustand ausschaut, sind lediglich Phasen einer Sättigung der Raubgier und die Intervalle unbeschwert spielerischer Existenz verdanken sich vorübergehend gestilltem Blutdurst. Stattdessen geschieht das gänzlich Unerwartete, die Plötzlichkeit eines Mysteriums der vollständigen Verwandlung. Auf einmal ein Glanz, ein Leuchten, das von woanders kommt, ein Licht von jenseits des irdischen Hell und Dunkel, das die soeben noch gewalttätige Welt vollkommen verwandelt erscheinen lässt, erlöst von sich und ihrer Drangsal, der Gier, dem Fressen und Gefressenwerden, vom permanenten Krieg aller gegen alle. Mit einem Mal schwebt man in seliger Selbstvergessenheit, gleitet dahin mit dieser wunderbaren Leichtigkeit des Seins, zielfrei und zeitfrei kreisend und schweifend mit der erlösten Kreatur. Ewiger Friede an einem weiten, unendlichen Himmel. – Auf die Gefahr hin, rührselig zu wirken, aber es geht mir noch immer so, während der Minuten dieser musikalischen Weltverwandlung, im Nu eines Augenaufschlags wie aus dem Nichts gewirkt durch die Magie eines orphisch berückenden Spiels der Solo-Oboe, begleitet von einzeln hingetupften, silbrig blinkenden Tönen des Klaviers, überlaufen mich Schauer der Seligkeit, jedesmal bin ich den Tränen nahe. Dieser Moment der Befreiung, der Losgelöstheit von allem Irdischen, wie Paulus entrückt in den „siebten Himmel“, unglaublich. Doch die Entrückung, ihr ewiger Friede, währt wenige Minuten nur und schon ist der ekstatische Zustand vorüber, die Welt, unverwandelt, hat uns wieder, auch musikalisch, mit einem in allen Kriegsmusiken gebräuchlichen Instrument, dem Becken, ein letzter dumpfer Schlag.

Eine gewalttätige Welt entkommt sich selber nicht. Liegt darin die von seiner Komposition musikalisch zum Ausdruck gebrachte Quintessenz der Philosophie Keith Jarrets, sein existenzielles Credo? Dafür spricht der kompositorischen Aufbau, die Entwicklung der beiden musikalischen Hauptthemen im Verlauf des Stücks, aus ihrer wechselseitigen Verschlingung heraus wie auch abwechslungsweise aufeinander folgend, wobei das „herrschaftliche Thema“ dominiert, soll heißen das Thema der Herrschaft und ihrer Gewalttätigkeit auch musikalisch die Oberhand behält. Anders gesagt und expliziter: Das kontrastierende Thema zum dominanten der Herrschaft, ihrer Gewalt und ihres Triumphalismus, die friedliche Pastorale und das unbeschwerte Dasein – instrumental vertreten durch die Holzbläser und das verspielte Piano – sind nur kurzzeitige, intermittierende Episoden zwischen den Orgien der Gewalt und dem herrschaftlichen Triumph der Starken – orchestral repräsentiert von Blechbläsern und Schlagwerk. Ergo, keine Erlösung, nirgends. – So weit so gut, jedoch, wie hat man dann jenes „Satori“ gegen Ende des dritten Satzes zu verstehen? Lediglich das musikalisch vollständig entwickelte zweite Thema, das nicht das letzte Wort behält und damit seine „Unterlegenheit“ gegenüber dem dominierenden Hauptthema bestätigt? Was man rein kompositorisch bejahen könnte und worin „innermusikalisch“ kein Problem liegen müsste, wird für das, was Jarrets Komposition über das Musikalische hinaus an Existenziellem zum Ausdruck bringt, zu einem Dilemma, belastet ihren „programm-musikalischen“ Ausdrucksgehalt mit einer problematischen Ambivalenz, Doppeldeutigkeit, Zwiespältigkeit.

Beim Verständnis, bei der Deutung dessen also, was in jener letzten Passage vor Ende des Stücks musiksprachlich zum Ausdruck kommt. Verkürzt gesprochen: Utopischer Vorschein, wie Ernst Bloch es vermutlich interpretiert hätte, Antizipation befreiten Daseins, nach der Überwindung von Herrschaft und Gewalt, „richtiges Leben“, wie es das, laut Adorno, „im falschen“ niemals geben kann? – Oder bestenfalls schöner Schein, der trügt, ein Wunschtraum, dem unmittelbar das böse Erwachen folgt, wie man den finalen Beckenschlag verstehen könnte, diesen tönenden Widerruf alles „Realutopischen“, eines wahrhaft „Ganz Anderen“? Schlimmstenfalls, dies wäre die schwärzeste, die zynisch affirmative, offen reaktionäre Auslegung, die pseudomystische Selbstvergessenheit, der selige Rausch, des vorübergehend gesättigten Raubtiermenschen, versinnbildlicht im göttlichen Falken, den Beutegier und Mordlust Augenblicke später von neuem packen? Ein vitalistisches Flowerlebnis hätte Jarret dann mit der musikalisch unvergleichlich schönen Stelle komponiert. In einem Gesamtstück –  in dieses trübe Licht rückte Jarrets Komposition nun unweigerlich –, das, ob beabsichtigt oder nicht, durch seinen musikalisch vorherrschenden Duktus – triumphalistisch inszeniertes Blech plus martialisches Schlagwerk – von Beginn an bis zum Ende die Affirmation von Herrschaft und ihrer Gewalttätigkeit ins Werk setzt. Jarret sähe sich in diesem Fall mit der gleichen Kritik, dem gleichen Vorwurf, konfrontiert, wie sie Adorno seinerzeit Strawinsky gegenüber geltend gemacht hatte. Wenn auch die an entsprechender Stelle einem trügerischen Frieden brutal und unmissverständlich in die Parade fahrenden

Schlaginstrumente in Jarrets musikalischem Wechselspiel von Herrschaftlichem und Besänftigendem, Schönheit und Schrecken, so würde ich zu seinen Gunsten ins Feld führen, in keinem Vergleich stehen zu der in Strawinskys Sacre du Printemps zum Einsatz gebrachten Brutalo-Rhythmik der Perkussion, dieser Gewaltekstase eines alles platt machenden Terminators. –

Im Unterschied zum Provokateur Strawinsky, dessen heidnisches Musikspektakel ungeniert das Menschenopfer feiert, hat der Romantiker Keith Jarret lediglich eine dunkle Pastoralmusik geschrieben, a dark pastoral, wie der Kritiker im Netz urteilt und das Übrige in der Schwebe lässt mit den Worten, Silvia liest es nochmals vor, a painful truth, a call for peace in a violent world.

Und vielleicht gilt sein Kritikerurteil, it is an honest music, gerade auch für ihr Mysterium der Verwandlung, insofern das existenzielle Geheimnis dieser Verwandlung wahrscheinlich auch Jarret rätselhaft geblieben ist, mag sein musikalisches Ingenium noch so sehr gewusst haben, wie sich kompositorisch das Wunder zuwege bringen lässt, dass Schrecken sich in Schönheit verwandelt.

Länger geworden als beabsichtigt der Exkurs, beinahe ein musikologisch philosophischer Traktat. Reicht aber lange nicht heran an Frank Witzels ausufernde Betrachtungen zur Rubber Soul der Beatles, parallel zu Philipp Jordan lese bzw. höre ich gerade die letzten hundert Seiten von Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Schüler im Sommer 1969. Er bekam dafür den deutschen Buchpreis, während nach dem, was ich schreibe, kein Hahn kräht, wie Silvia sagt. Es deprimiert sie nicht weniger wie mich, sie tippt das ja alles, alles umsonst, wenn niemand es liest.

Manchmal frage ich mich, was sozial Tote wie unsereins die Jahre über am Leben hält, physisch oder fleischlich, wie Paulus sich ausdrückt. Außer der regelmäßigen Nahrungszufuhr. Wenn es nicht die Religion ist, der Glaube an den biblischen Gott, der oder die es bei mir nicht ist. Andere geistige Nahrung? Nachdem einen das traurige Los ereilt hat, das kein Wort treffender beschreibt als geistige Einzelhaft, schaufelt man sie in unfreiwilliger Abgeschiedenheit verzweifelt in sich hinein, im sozialen Totenreich teilt man die geistige Nahrungsaufnahme persönlich mit niemandem, keinem anderen Menschen auf der Welt, dazu wäre der individuelle Austausch, das lebendige Gespräch erforderlich. Ob man da, egal wie viel man in sich hinein stopft, nicht doch irgendwann verhungert oder verdurstet.

Bleibt also nur der Trost der Musik. Wenigstens den kann ich mit Silvia teilen. Auch wenn das Tröstliche der musikalischen Tröstung für mich vor allem darin besteht, dass sogar die „abgeschiedene“, individuelle Einnahme dieser Medizin noch unter Bedingungen verschärfter Isolation ihre Heilwirkung oder auch nur lebenserhaltende Wirkung entfaltet. –  In Extremfällen tut es die bloße Erinnerung. Wie dieses eine Mal damals, ich war Anfang zwanzig, hatte mir im Sommer in Südspanien eine fürchterliche Diarrhoe zugezogen, schleppte mich mit entsetzlichen Darmkrämpfen durch das Gassengewirr der Altstadt von Granada und fühlte mich derart hundeelend, dass ich glaubte, dieser Hölle aus Hitze und Lärm nicht lebend zu entkommen, nachhause in den kühlen Norden. Was mir in diesen Momenten geholfen hat, was mich gefühlt dort unten „auf den Gipfeln der Verzweiflung“, bei Cioran hört sich das alles so abstrakt philosophisch an, gerettet hat und woran ich jetzt nach Jahrzehnten wieder denken muss: Immer wieder habe ich mir vorgestellt, wie ich zurück in Marburg, in unserer lärmgeschützten anderthalb Zimmerwohnung in der Sudetenstraße, mir die Platte mit den Konzerten für Oboe und Klarinette anhöre, speziell die langsamen Sätze, die Adagios. Vor meinem inneren Auge stand mir dabei das Bild auf der Plattenhülle, diese beruhigende menschenleere Landschaft, erdfarben, gedeckte Brauntöne, blasses Gelb und Ocker, Ton in Ton und sicher sind mir Bruchstücke der Melodien durch den Kopf gegangen. Hat tatsächlich gewirkt, ich habe überlebt.

Spanien war seinerzeit auch in anderer Hinsicht ziemlich ungemütlich, Franco war noch an der Macht, zwar bereits ein Tattergreis, aber militante Regimegegner hat er noch immer mit der Garotte, einem Würgeeisen, um die Ecke gebracht oder bringen lassen. Und Radionachrichten gab es zu der Zeit auch oder stimmt nicht, damals begleitete mich kein Transistorgerät, ich erfuhr  aus den Balkenüberschriften der Tageszeitungen am Kiosk, es war der 11. September1973 – jenes nine eleven avant la lettre – von dem Putsch in Chile, dass General Pinochet „die Moneda“, den Präsidentenpalast, bombardieren ließ, Salvador Allende eine letzte verzweifelte Ansprache an das chilenische Volk hielt und danach vergebens versuchte, sich mit der Maschinenpistole gegen eindringende Soldateska zu verteidigen. Tausende Oppositionelle, Gegner des Putsches, internierte das Militär im Stadion von Santiago, die nicht gefoltert wurden schmorten, ich brauchte mir es nicht erst vorzustellen, in einer ähnlichen Gluthitze wie ich gleichzeitig unter der andalusischen Dunstglocke. Dem Sänger Victor Jara, von dem auch Anne und ich eine Platte aus dem Pläneverlag besaßen, brachen sie die Handgelenke, damit er nicht mehr Gitarre spielt, wovon ich bestimmt erst hinterher in Marburg gehört habe, also nach meiner Rettung und Rückkehr und dem Anhören der Platte mit den Konzerten für Oboe und Klarinette, nehme ich heute mal an.

Mal sehen, wie es diesmal ausgeht. Mittlerweile bin ich ein alter Mann, jedenfalls wenn man biblische Altersmaßstäbe anlegt, welkes Fleisch, zumindest allmählich dahinwelkend, weil ich keines der zahlreich angebotenen Antiagingpräparate anwende, selber schuld. Nächste Woche Donnerstag fahren wir zurück. Und woran denke ich im Augenblick? Welche Platte ich als erstes hören werde. Vor unserer Fahrt zum Bodensee hatte ich aus der Vitrine mit den Klassikplatten neben der von Keith Jarret, sie standen also nebeneinander, was für ein Zufall, eine Doppel-LP gezogen von einem anderen Magier am Flügel, Glenn Gould, Bachs französische Suiten für Klavier.

Allemande, Courante, Sarabande, liest mir Silvia die Satzbezeichnungen vor und genau so klingt und swingt es auf der Platte, als ob der Thomaskantor das Tanzbein schwingt und mit wehender Perücke und fliegenden Rockschößen umherwirbelt. Beim Zuhören Arme und Beine ruhig halten ist unmöglich, man muss sich nur mitreißen lassen und fühlt sich um Jahrzehnte verjüngt. Und wenn man in der Nähe der Lautsprecherboxen genau hinhört, was da im Hintergrund summt und brummt, die Stimme, das ist Glenn Gould selber und spätestens jetzt muss jedem klar sein, weshalb die beiden, Keith Jarret und Glenn Gould, sich in einer gut sortierten Plattensammlung dem Temperament nach bestens nebeneinander vertragen.

Silvia hat mein Erinnerungsbild an die Vorderseite des Covers der Doppel-LP bestätigt, ähnlich einem Scherenschnitt, schwarz auf weißem Hintergrund, der Interpret am aufgeklappten Flügel, im Halbprofil schräg von hinten aufgenommen, genau so wie ich es in Erinnerung habe, ein Album aus den 1970er Jahren, in denen ich es mir auch zugelegt habe und danach Jahrzehnte lang nicht wieder angehört. Ist dasselbe Motiv nicht auch auf der Hülle des Köln Concert zu sehen, wenn nicht vorne drauf, dann innen? Der Interpret, Jarret, nach vorn gebeugt, fast liegend über den Tasten, gleichsam im Liebesakt mit seinem Instrument.

Auf Charite Niveau

Unsere Verwandten im Tierreich haben, sofern sie nicht gefressen werden, eine recht unkomplizierte Weise, ihr Erdenleben zu beschließen, mit ihrer Endlichkeit versöhnt das Zeitliche zu segnen. So vollkommen selbstverständlich, ohne den geringsten Umstand, beiläufig sozusagen. Unversehens liegen sie eines morgens da, reglos, wie der Kanarienvogel meiner Schwester, man realisiert es zunächst nicht, einige Momente lang, erst im Augenblick, da man das Gepiepse von oben auf dem Küchenschrank vermisst, schaut man hin und sieht, er hockt nicht auf der Stange, sondern liegt bewegungslos zwischen der Körnerspreu auf dem Käfigboden. Und man denkt, kann doch nicht sein, war doch nicht krank, hat keine Beschwerden gehabt und also einfach so, haben wir was falsch gemacht, das verkehrte Futter, ihn womöglich damit vergiftet? Einfach unerklärlich, ein so unbegründeter Tod, ohne alle Ursache, war doch nicht alt oder? Sind nicht die tropischen Verwandten der Sittiche, die Papageien, sogar von einer Langlebigkeit, die jedem biblischen Alter spottet und von der selbst moderne Methusaleme bloß träumen können.

Nach seiner Beerdigung in einer Ecke des Gartens kauften meine Mutter und meine Schwester einen neuen in der Tierhandlung. Einen liebgewordenen Kanarienvogel verlieren, kann uns Menschen ähnlich nahe gehen wie der Verlust eines vertrauten Artgenossen. So ein Vogel sei doch auch ein „Geheichnis“ sagte meine Mutter und jeder Mensch brauche ein Geheichnis, das Wort gibt es, soviel ich weiß, nur in der Hunsrücksprache.  Nur wer sein Geheichnis hat, hält es einigermaßen aus in dieser schrecklichen Welt – ach, geh mir doch fort, die Welt ist einfach schrecklich, hat sie des Öfteren gesagt, unsere Mutter, ich kann ihr post mortem heute nur zustimmen, sie hat recht gehabt und daran sieht man, auch einfache Menschen, die nicht die kulturell normierte Bildungsbiographie durchlaufen haben, sind imstande, Wesentliches zu erkennen. – Während es bei uns zuhause am Fuße des Hunsrück in den frühen und mittleren 1970er Jahren um Kanarienvogel und Wellensittich ging, spielten in der Weltpolitik Falken und Tauben eine Rolle, expressis verbis in Washington, seit den Debatten über den Vietnamkrieg, Richard Nixon war ein Falke, der Erdnussfarmer Jimmy Carter eine Taube, weshalb er auch nicht wiedergewählt wurde, eine Taube hat nicht den Schneid eines Falken und es fehlt ihr an Sexappeal.

Wovon ich mich ungefähr zeitgleich überzeugen konnte. Davor war ich noch nie mit einer Taube näher in Berührung gekommen und Tauben vergiften im Park nicht mein Ding, sie auf dem Markusplatz füttern auch nicht. Die Begegnung fand in der Sudetenstraße statt, im vierten Stock,  auf dem Balkon. Ich öffnete die Tür, trat hinaus und was sah ich, auf dem Campingtisch, genau in der Mitte, saß eine Taube, den Blick geradeaus über die Balkonbrüstung, hinüber zum Nachbarblock. Fett und regungslos hockt sie da, der ausladende Rumpf auf den staksigen Beinchen, die Taube ist der Jumbo im urbanen Luftverkehr, plump und schwerfällig am Boden, oder wenn sie wie da auf dem Tisch sitzt, Sitzen bei Vögeln ist gleich Stehen, wir Menschen würden uns die Beine in den Bauch stehen, den Vögeln macht das überhaupt nichts aus. Ich setze mich, der Stuhl zeigt in die gleiche Richtung, neben sie an die Schmalseite des Tisches, es stört sie nicht, sie macht keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen und starrt nur weiter