Berlin (kobinet)
Die Regierung macht eine Verteidigungs-Politik, die auf Krieg vorbereitet.
Unsere Regierung schützt unser Land vor Gefahren.
Sie bestimmt wie viele Soldaten wir haben und wie sie ausgebildet werden.
In Europa herrscht Kriegs-Fieber.
Menschen werden sehr aufgeregt und wollen schnell Krieg führen.
Sie denken nicht mehr klar nach, sondern handeln wie im Fieber.
In kurzer Zeit hat sich viel geändert.
Die Politiker wollen die Menschen wieder auf Krieg vorbereiten.
Kluge Denker hinterfragen das Militärische nicht mehr.
Sie machen mit.
Sie sagen: Wir brauchen Aufrüstung.
Länder kaufen mehr Waffen und Panzer, um stärker zu sein.
So können sie sich besser vor anderen Ländern schützen.
Denn wir müssen unsere Demokratie schützen.
In einem Land mit Demokratie dürfen alle Menschen mitbestimmen, wer die Regeln macht.
Die Bürger wählen Menschen, die für sie gute Entscheidungen treffen sollen.
Der Autor vom Text ist darüber entsetzt.
Er ist noch in einer Zeit groß geworden, in der Krieg als schrecklich galt.
Ihm war wichtig, dass wir keinen Krieg mehr wollen.
Deshalb kritisiert er die Veränderung in der Gesellschaft.
Jürgen Habermas ist ein bekannter Denker.
Er ist fast 96 Jahre alt.
Er hat zu diesem Thema in einer Zeitung geschrieben.
Habermas kritisiert die Kriegs-Stimmung.
Viele Menschen fühlen sich aufgeregt und wütend, wenn Länder kämpfen.
Sie denken dann oft ähnlich und wollen, dass ihr Land im Kampf gewinnt.
Habermas schreibt: Die Menschen haben kein Gefühl mehr für die Gewalt von Kriegen.
Sie haben vergessen, dass Kriege leicht anfangen, aber schwer zu beenden sind.
Auch stört ihn die Idee, die Wehrpflicht wieder einzuführen.
In Deutschland müssen manchmal junge Männer eine Zeit lang beim Militär arbeiten.
Das nennt man Dienst-Pflicht für unser Land.
Er sagt: Die Abschaffung der Wehrpflicht war ein wichtiger Lernprozess nach dem Zweiten Weltkrieg.
In Schulen im Baltikum lernen Kinder schon den Umgang mit Waffen.
Das steht im Lehrplan.
Der Schuldirektor sagt: Alle müssen mithelfen.
So zeigen wir, dass wir bereit sind.
Der Autor fragt sich: Was passiert hier gerade?
Es gibt zwei verschiedene Arten von Nachrichten.
Manche zeigen sehr schreckliche Kriegs-Szenarien.
Menschen denken sich aus, was bei einem Krieg passieren könnte.
Sie planen, wie man sich schützen kann.
Gleichzeitig wird der Krieg als normal dargestellt.
Der Autor sagt: Früher dachte ich anders über Verteidigung.
Ich habe ein Theaterstück von Brecht gesehen.
Das Stück zeigt, dass man manchmal zu den Waffen greifen muss.
Aber heute hat sich alles geändert.
Der Autor warnt: Moderne Kriegs-Technik könnte zur Selbstvernichtung führen.
Wenn man sich selbst zerstört oder dem eigenen Leben ein Ende setzt.
Man tut sich selbst absichtlich weh und will nicht mehr leben.
Er sagt: Verteidigungskrieg in Europa wäre extrem gefährlich.
Die Kriegstechnik ist nicht mehr steuerbar.
Es könnte ein großes Zerstörungs-Inferno geben.
Ein Zerstörungs-Inferno ist ein sehr großes Feuer, das viele Dinge kaputt macht.
Die Flammen sind sehr heiß und breiten sich schnell aus.
Politiker sagen: Wir rüsten auf, um Krieg zu verhindern.
Aber der Autor glaubt nicht daran.
Er versteht, dass Menschen in der Ukraine leiden.
Trotzdem hält er mehr Waffen für gefährlich.
Der Autor kritisiert auch die Gesellschaft im Inneren.
Er sagt: Die Regierung will Solidarität im Krieg.
Aber im Alltag fördert sie den Wettbewerb aller gegen alle.
Das passt nicht zusammen.
Der Autor hofft auf die Menschen in Europa.
Er hofft, dass ihr Interesse am eigenen Leben sie von dummen Entscheidungen abhält.
Vielleicht werden sie sich der Kriegs-Logik verweigern.
Menschen denken im Krieg nur noch an Kampf und Sieg.
Sie vergessen dabei, dass Reden und Zusammenarbeit besser wären.
Er glaubt: Eine wirklich demokratische Gesellschaft braucht keine Kriegsmaschine.

Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet)
Europa im verteidigungspolitischen Fieberwahn – Intellektuelle desavouieren "postheroische Zivilisiertheit" durch Moralisierung des Militärischen
Ungläubiges Staunen, das sich in blankes Entsetzen verwandelt, diese Worte beschreiben vielleicht am ehesten, was ich dieser Tage empfinde, höre ich in den Medien die um die Schlagworte "Sicherheit" und "Verteidigung" kreisenden Nachrichten und Kommentare. Mein Entsetzen darüber, wie in einer 180-Gradwendung bislang Gültiges an politischen und humanen Standards gleichsam über Nacht abgeräumt wird, geht einher mit der Fassungslosigkeit desjenigen, der in einer Nachkriegszeit aufwuchs und sozialisiert wurde, für die ein Bewusstsein vom Mörderischen eines jeden Krieges bestimmend und prägend war. Mithin ein Bewusstsein auch vom unbezweifelbaren und unbedingt bewahrenswerten zivilisatorischen Fortschritt eines postheroischen Selbstverständnisses in Gesellschaft und Politik. Ein Bewusstsein, dem eine Wiederkehr oder Rückkehr des Krieges ein quasi absolutes politisches und moralisches No-Go erscheint. Ungläubiges Augenreiben nicht zuletzt und besonders in den zurückliegenden Tagen über das Tempo und die Nonchalence der vollständigen Abkehr von diesem Bewusstsein. Als deren beredte Fürsprecher in der medialen Öffentlichkeit sich ausgerechnet – was für jemanden für mich, der sich mit Hannah Arendt zu sprechen dem "Leben des Geistes" verbunden fühlt, dem Ganzen sozusagen die Krone aufsetzt – linksliberale Intellektuelle zu Wort melden und sich beflissen in die geistige Mentorenrolle der epochalen Kehre begeben. Ihrer meines Erachtens fatalen Argumentation möchte ich in dieser Fortsetzung meiner vorangegangenen Überlegungen ("Unseren Masters of War ins Wort fallen", mein Essay in der vorigen Literaturbeilage) abermals nachdrücklich widersprechen.Publizistische Stimmen unterfüttern die Remilitarisierung mit moralischer Legitimität
Exemplarisch für die breite Legitimierungskampagne in den deutschen Leitmedien ein Artikel der SZ-Journalistin Sonja Zekri von Anfang März diesen Jahres. Darin wird sie grundsätzlich: „Wer heute die Verteidigungsausgaben nicht erhöhen will, riskiert die Demokratie. Noch immer spürt man ein tiefes Misstrauen gegenüber allem Militärischen, das sich durch die gesamte bundesrepublikanische Geschichte zieht und bis heute nachwirkt. Die schockierende Wahrheit lautet, dass Deutschland, dass sich Europa nicht nur schnell und umfassend bewaffnen muss, um sich zu verteidigen, es muss sich bewaffnen, um nicht erpressbar zu sein. Die US-Regierung und golden Boy Elon Musk haben auf der Seite der AFD Wahlkampf gemacht, in einer modernen Spielart amerikanischer Hinterhofpolitik versuchen sie, den immer noch zu 70 bis 80 Prozent demokratischen Deutschen eine in Teilen rechtsextreme Partei aufzunötigen.“ Zitatende.
– Die Moralistin in Sachen militärischer Raison beschwört in diesen Zeilen eine Art Zweifrontenkrieg.Von vorn, sprich von Osten stößt Putin vor, im Westen fällt uns Trump in den Rücken mit einem Frontalangriff auf unsere Demokratie. Indem er einen bereits in unserem Land stehenden inneren Feind (nämlich die AfD nach Zekri) munitioniert. Für wie moralisch zweifelhaft, um nicht zu sagen verkommen muss man folglich diejenigen erachten, die jetzt noch immer Vorbehalte dem Militärischen gegenüber hegen und damit in dieser Stunde existenzieller Selbstbehauptung eine Selbstbewaffnung sabotieren, ohne die kein Überleben möglich ist.
Eine andere Stimme im publizistischen Chor der Normalisierer und Moralisierer des Militärischen scheut sich nicht, die Verabschiedung vom gesellschaftlichen und politischen Ethos postheroischer Zivilisiertheit mit einer ausdrücklichen Evokation des Heroischen abzurunden. In seiner Generalabrechnung mit dem Pazifismus – seinem „Frontalangriff“, hätte ich vor kurzem in Anbetracht der sprachlichen Unschuld kriegerischer Metaphern noch guten Gewissens geschrieben – in dieser seiner Abrechnung bescheinigt der ZEIT-Feuilletonist Jens Jessen Pazifisten eine moralische Restlegitimation, solange sie sich darauf beschränken, bei sich selbst „den Verlust von Freiheit oder Leben hinzunehmen, um nicht selber zur Waffe zu greifen“. Die „moralisch brisante Frage“ laute daher eher, so Jessen, „wäre der Pazifist auch bereit, die Zerstörung von Leben und Freiheit anderer hinzunehmen, um in frommer Unschuld verharren zu können?“ Wie dem auch sei, so Jessens Pointe, „verdienen Soldaten viel von dem, was ihren Einsatz von Leib und Leben im Erstfall überhaupt nur kompensieren kann, Anerkennung und Sympathie und vielleicht sogar Bewunderung“. – Ein Sound, der, so sehr ich seiner inzwischen gewärtig bin, mir nach wie vor im ersten Moment die Sprache verschlägt, so dass es einige Augenblicke braucht, um mich gedanklich zu berappeln und wieder artikulieren zu können.
Artikulationshilfe kam just dieser Tage von gewissermaßen allerhöchster Stelle, der intellektuellen Autorität schlechthin in diesen Dingen, vom Philosophen Jürgen Habermas. Mit seinen bald 96 Jahren ist er der bekannteste und auch anerkannteste „öffentliche Intellektuelle“ der Bundesrepublik und dementsprechend hat sein Wort sachlich wie moralisch Gewicht. Sein Gastbeitrag in der SZ vom 22. März liest sich wie eine Replik auf Sekris verteidigungspolitischen Alarmismus im selben Blatt zu Monatsbeginn. Und setzt gewissermaßen den fälligen Kontrapunkt zum Sound bellizistischer Aufgeregtheit, der die Arenen der politischen Öffentlichkeit hierzulande flächendeckend beschallt. – Habermas zeigt sich bestürzt über die kriegsrhetorische Mobilmachung, deren Triumphalismus und die darin zum Ausdruck kommende Geschichtsvergessenheit. Zitat: „Für einen halbwegs aufgeklärten Zeitgenossen meiner Generation“, schreibt er und spricht somit ausdrücklich nicht nur für sich, „war der selbstzufriedene Triumph über die Einheit des Westen“ und die „Handlungsfähigkeit der NATO gespenstisch.“ Und er beklagt generell die Indolenz der in diesem Kontext zutage tretenden Mentalität. „Irritierend“ für Ihn bereits mit Beginn des Ukrainekriegs, „war überhaupt die Unempfindlichkeit über den Ausbruch militärischer Gewalt in Europa. Verschwunden schien jedes Gefühl für die abschreckende Gewalt von Kriegen, wie auch für die Tatsache, dass Kriege leicht entstehen, aber schwer zu beenden sind.“
„Und zwar stoßen in dieses Horn“, so fährt Habermas fort, „nicht nur die üblichen Verdächtigen, die den historisch längst überwundenen Nationalismus als eine zeitlose Tugend feiern, sondern auch die Politiker, die eine aus guten Gründen postheroische Jugend mit der Wiederbelebung der Wehrpflicht aufmöbeln wollen. Und das inmitten von Staaten, die aus guten Gründen fast alle die Wehrpflicht längst abgeschafft oder ausgesetzt haben. In dieser Abschaffung der Wehrpflicht spiegelt sich ein weltgeschichtlicher Lernprozess, nämlich die auf den Schlachtfeldern und in den Kellern des Zweiten Weltkriegs gewachsene Einsicht, dass diese mörderische Gewaltausübung menschenunwürdig ist.“ – Bedarf es noch einer deutlicheren Mahnung (nicht zuletzt auch an die Adresse der Stimmen aus dem von mir sogenannten „moralisch-militärischen Komplex“) vor der Preisgabe jenes „weltgeschichtlichen Lernprozesses“, der sich als humane Norm in der Mentalität postheroischer Zivilisiertheit niedergeschlagen hat?
Und schließlich, ich zitiere ein letztes Mal Habermas: „Mich erschreckt von welchen Seiten die deutsche Regierung, die sich nun zu einer beispiellosen Aufrüstung des Landes anschickt, gedankenlos oder gar ausdrücklich mit dem Ziel der Wiederbelebung einer zurecht überwunden geglaubten militärischen Mentalität unterstützt wird.“ – Der Grandseigneur des hiesigen Linksliberalismus nennt keine Namen. Ich nehme an, er denkt an Unterstützer regierungsamtlicher Aufrüstungsanstrengungen und der „Wiederbelebung einer zurecht überwunden geglaubten militärischen Mentalität“, wie sie sich unlängst in einem „Aufruf“ von Wissenschaftlern („Augen geradeaus“ vom 12.März) geäußert haben. Öffentlich unterzeichnet etwa von dem Soziologen Armin Nassehi, der Gewalt-und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff, dem Politikwisssenschaftler Herfried Münkler, der Osteuropaforscherin Gwendolin Sasse und anderen mehr. Die Namensliste renommierter intellektueller Legitimatoren der Abkehr vom Postheroischen und einer stramm geradeaus blickenden Aufgeschlossenheit fürs Militärische ließe sich beliebig verlängern, sie umfasst beinahe die gesamte linksliberale Creme de la Creme. Gemessen an dem, was auf dem Spiel steht, scheint es mir durchaus nicht übertrieben, von einem „Verrat der Intellektuellen“ zu sprechen.
Von der Militarisierung der Köpfe zügig voran zur praktischen Umsetzung Theorie und Praxis – beides gehört verbunden, das theoretisch Gelernte in alltägliche Praxis umgesetzt. Sind die Köpfe erst ordentlich militarisiert, praktiziert sichs ungeniert, so ließe sich das bis in die feinsten Kapillaren der Gesellschaft allenthalben zu Beobachtende bündig zusammenfassen. Zum Beispiel – ein Sprung ins von der NATO beschützte Baltikum – was an lettischen Schulen vor sich geht und schneller als gedacht auch an deutschen Schulen gang und gäbe sein könnte. Wehrkunde als praktisches Unterrichtsfach in der zehnten und elften Klasse. Der von Tagesschau und Deutschlandfunk ausgestrahlte Bericht zeigt Zehnt- und Elftklässler in einer Turnhalle auf Matten kniend mit einem Gewehr in der Hand. Eine Ausbilderin leitet sie an, „hier kommt das Magazin rein, merkt euch das!“ Sie sollen lernen, wie ein Gewehr aufgebaut ist und wie man es bedient. Steht inzwischen verpflichtend im lettischen Lehrplan. Kommentar des Schuldirektors: „Um den Frieden zu sichern, müssen alle mit anpacken. Indem wir auch die Jungen ausbilden, senden wir das Signal, dass es hier nichts zu holen gibt, alle sind bereit.“
Bereit, nicht nur Minderjährige an der Waffe auszubilden (und, wenn Not am Mann oder der Frau ist, sie auch in den Kampf zu schicken, ins Gefecht). Bereit auch dazu, durch internationale Abkommen geächtete Waffentechnik dennoch anzuschaffen und zum Einsatz zu bringen, Anti-Personen-Minen und Streumunition. Nach den baltischen Staaten behauptet auch Polen, nur so westliche Freiheit und Werte und also Menschenrechte und Humanität effektiv verteidigen zu können. Mit Landminen, Splitterbomben und Kindersoldaten. – Worüber hartgesottene Waffentechnick-Nerds nur müde lächeln. Ihnen schwebt anderes vor. Keine Kinkerlitzchen, nicht kleckern, klotzen, lautet ihre Devise. Unter dem Motto „Die Bombe verstehen lernen“ betonen ein Historiker und ein Politikwissenschaftler Ende März in der FAZ die Präzision aktueller Atomwaffen und erklären, der Einsatz von Nuklearwaffen im Gefecht könnte der NATO zuletzt im Zug eines russischen Angriffs auf das Baltikum bevorstehen. In Ermangelung konventioneller Alternativen wäre in diesem Zusammenhang ein abgestufter Einsatz von Nuklearwaffen auf dem Gefechtsfeld naheliegend, unter bestimmten Umständen gar unvermeidlich.
Was passiert hier gerade auf der massenmedialen Diskursebene, mit welcher Diskursdynamik sieht man sich in der Rezipientenrolle von Nachrichten und Kommentaren konfrontiert? Ich beobachte eine Interferenz zweier intentional unverträglicher Diskursstrategien. Ein teils geradezu frivoler expertokratischer Übertrumpfungsdiskurs (dessen extreme Szenearien einem die Haare zu Berge stehen lassen) und ein volks- oder massenpädagogisch intendierter Normalisierungsdiskurs (der uns an Militär, Verteidigung, Rüstung und Krieg als das „Normalste von der Welt“ gewöhnen soll) kommen einander in die Quere. Einerseits möchte man das Militärische vom Odium des „notwendigen Übels“ (mit Akzent auf dem Übel) befreien, ihm soll nicht länger der Ruch des moralisch Zweifelhaften, des Mörderischen anhaften. Junge Männer und Frauen lassen sich nur dann für die Bundeswehr begeistern, wenn „der Job Spaß macht“. Immer krassere militärstrategisch simulierte Horrorszenarien im Wechsel mit apokalyptischen Bildreportagen von den real existierenden Kriegsschauplätzen (in der Ukraine, in Gaza und anderswo) – was macht dieser entsetzliche Kuddelmuddel mit den strapazierten Hirnen all derer, die ihm alltäglich an den Bildschirmen ausgesetzt sind?
Das dichothome Begriffspaar „Rebellion oder Schicksalsergebenheit“ drängt sich mir auf als Sortiervorschlag für die mentalen Reflexe und Reaktionen auf eigentlich nicht zu bewältigende Stressoren. Die das menschliche Gehirn, sofern es sich noch nicht gänzlich gemäß normalitätspathologischer Anpassungszwänge hat konditionieren lassen nur auf diesen einen Anforderungsnenner bringen kann: Das denkbar Schrecklichste, Krieg, sich vorstellen, pobehandelnd antizipierend und sich praktisch darauf vorbereiten, weil einzig auf diese Weise dasselbe abgewendet werden könne, nur Kriegsvorbereitung den Krieg verhindere – und eben dadurch jenes unbedingt zu vermeidende Schreckliche womöglich erst recht heraufbeschwören, sein Eintreten desto wahrscheinlicher machen! – Wessen Gehirn dagegen rebelliert, wessen Vernunft sich sträubt, dieser fatalen Logik zu folgen, der oder die wird sich dieser unmöglichen Zumutung verweigern. Sich weigern, der uns abverlangten mentalen und handlungspraktischen Kriegsvorbereitung Folge zu leisten. Und die Schicksalsergebenen? Sie werden mitmachen, sich einreden, die bellizistisch Tonangebenden könnten so schrecklich oder grausam sich nicht irren. Und im übrigen hoffen sie, dass es gar so schlimm schon nicht kommen wird.
Von den „Gewehren der Frau Carrar“ zur massenvernichtenden „Megamaschine Krieg“
Betrachte ich die zurückliegenden Jahrzehnte meiner persönlichen Lebensgeschichte als zusammenhängenden politisch historischen Zeitraum, um ihn einer möglichen Urteilsbildung zugrunde zu legen – ich meine damit die Periode des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Ost-West-Konflikts 1989 plus die darauffolgenden 35 Jahre und also das erste Viertel des 21. Jahrhunderts –, so gelange ich am Ende in der Rolle des kritischen Beobachters und eines engagierten Intellektuellen zu dem für mich zwingenden Schluss, dass nunmehr auch aus verantwortungsethischen Gründen (und nicht mehr nur aufgrund eventuell gesinnungsethischer Grundsätze) Militär und Krieg bzw. bewaffnete Verteidigung als optionale Mittel der Politik ausscheiden oder nicht länger in Betracht kommen. Dies war für mich noch anders, als ich Mitte der 1970er Jahre – damals studierte ich Soziologie und Politikwissenschaft an der Uni Marburg und war dort mit meiner politisch linken, dezidiert marxistischen Gesinnung alles andere als allein – Brechts Theaterstück „Die Gewehre der Frau Carrar“ im Fernsehen sah. Brechts zwischen den beiden Weltkriegen geschriebenes proletarisch volkspädagogisches Lehrstück überzeugte mich seinerzeit von der Untauglichkeit einer pazifistischen Haltung für den Klassenkampf von unten, gegen eine bereits zum offenen Bürgerkrieg übergegangene herrschende Klasse.
Das Stück spielt im spanischen Bürgerkrieg, die verwitwete Fischersfrau Carrar, eine gläubige Katholikin, weigert sich unter Berufung auf das Bibelwort, „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“, zunächst dem Bruder ihres Mannes und einem ihrer Söhne, die im Haus versteckten Gewehre auszuhändigen, um sich – wie wir im heutigen Jargon sagen würden – gegen den Angriffskrieg Frankos zu verteidigen. Als der andere Sohn von ihr, von den Phalangisten beim Fischfang erschossen, in einer blutigen Plane ins Haus getragen wird, ändert sie ihren Sinn und gibt den Männern die Gewehre. Die von ihr gelernte Lektion, das Gute muss sich bisweilen der Gewalt bedienen, um sich gegen das Böse zu behaupten, zu verteidigen. Und es hätte ja durchaus sein können, dass die bewaffneten Republikaner ihren Verteidigungskrieg gegen Frankos Truppen gewinnen und damit die republikanische Volksherrschaft in Spanien für Jahrzehnte erhalten, statt wie umgekehrt geschehen, die faschistische Diktatur sich etabliert.
In Brechts Stück steht das Gewehr, zeitgeschichtlich wirklichkeitsgetreu, sinnbildlich für den Krieg, es ist die paradigmatische Kriegswaffe, gleichermaßen für Angreifer und Verteidiger. Im Krieg gehen mit Gewehren bewaffnete Männer aufeinander los und wenn dies auch in militärischen Formationen, Kompanien etc. geschieht, so hat sich doch bis heute unser Vorstellungsbild von einzelnen Kombattanten erhalten, die mit der Waffe in der Hand in einem tödlichen Kampf miteinander stehen. Und die Niederlage und der Tod der einen den Sieg und das Überleben der anderen bedeutet. Handelt es sich bei den letzteren um die „Verteidiger“, so lässt sich daraus schlussfolgern, dass bewaffnete Verteidigung und Verteidigungskriege im Rahmen dieser politisch-militärischen Logik sinnvoll und rational sind. Und die zu Verteidigungszwecken erbrachten Opfer insofern gerechtfertigt sein und moralisch vertretbar erscheinen können.
Nach einem halben Jahrhundert erscheint mir meine damalige „Rezeption“ von Brechts Klassiker im heutigen Rückblick einer vergangenen Zeit, d.h. einer vergangenen Epoche von Kriegführung anzugehören. Mein Einwand unter dem Eindruck nicht erst der jüngsten Kriege und ihres „hochtechnisierten Ablaufgeschehens“ besagt, wir haben es mit einem völlig veränderten Paradigma zu tun. Die massenvernichtende „Megamaschine Krieg“ von heute, hochtechnologische, elektronisch gesteuerte Systeme aus technischen und organischen (menschlichen) Bauteilen in einem beliebig skalierbaren Verbund, hat ihrer destruktiven Effizienz nach kaum noch etwas gemein mit dem aus der Vergangenheit bekannten Kollektiv bewaffneter Kombattanten, das gegen ein anderes solches Kollektiv antritt. Wobei auf überschaubaren Gefechtsfeldern Entscheidungen herbeigeführt wurden, die in Summe idealerweise den Sieg oder die Niederlage einer Seite besiegelten. Ins aktuelle ideologische Framing übersetzt, sich das freie und demokratische Europa in einem erfolgreichen Verteidigungskrieg gegen den Aggressor Putin würde behaupten und letztendlich durchsetzen können. – Mit Verlaub, ich halte solch einen „erfolgreichen Verteidigungskrieg“ (in gesamteuropäischem Maßstab von NATO-Staaten gegen die russische Föderation ausgefochten) für ein gefährliches, um nicht zu sagen selbstmörderisches Phantasma. Das Risiko der Nichtsteuerbarkeit der im Aufeinanderprall beider Kriegsmaschinerien ausgelösten Dynamik, die Wahrscheinlich einer unkontrollierbaren Gewalt- und Eskalationsspirale, die in ein wechselseitiges Zerstörungsinferno unermesslichen Ausmaßes mündet, ist größer als alles andere. Was aber ist von einem militärischen Verteidigungsvorhaben zu halten, das Selbstvernichtung in Kauf nimmt?
Alltagspsychologische Plausibilisierung der militärischen Verteidigungsnotwendigkeit – ein Kategorienfehler, der verfängt
Ich nehme an, intelligente Bellizisten konzedieren ins geheim die Unkalkulierbarkeit militärischer Verteidigung im großen Maßstab (etwa dem eines auf Gesamt-Europa ausgedehnten Kriegs). Die derzeit beliebteste verteidigungspolitische Rechtfertigungsformel forcierter Aufrüstung, „civis pacem para bellum“ („wer Frieden will, bereitet den Krieg vor“), akzentuiert die militärische Verteidigungsfähigkeit bzw. Kriegsbereitschaft lediglich als Mittel oder Instrument einer guten Absicht, der Friedenserhaltung nämlich. Dass das Verteidigungsmittel auch seinen eigenen Zweck, nämlich die Freiheit und das Leben des oder der Angegriffenen zu verteidigen, erfüllen und nicht in ein letales Desaster münden wird, darüber schweigt die Formel. Darum setzen ihre Nachbeter konsequent auf das Prinzip Hoffnung. Gefragt, ob wir also vom Schlimmsten oder Schlechtesten ausgehen und dafür eigentlich bereit sein müssen, antwortet der Militärexperte Carlo Masala, „die grundlegende Logik ist, bereite dich immer auf das schlimmste Szenario vor und hoffe, dass es nicht eintritt.“ Kurz, wir müssten die Verteidigungsausgaben hochfahren, soweit soll das Publikum mitdenken. Danach ist mit dem Denken Schluss, dann heißt es, nurmehr hoffen und beten. Im Zweiten Weltkrieg nannte man unter Landsern wie unter Generälen vergleichbare Unternehmungen „Himmelfahrtskommando“.
Vom schwäbischen Schlitzohr Schäuble, Wolfgang Schäuble ist der überaus beruhigende Sinnspruch überliefert „Wir bereiten uns auf den Krieg vor, um ihn nicht führen zu müssen“. Nun lebt der legendäre Schwabe mittlerweile nicht mehr, aber es herrscht Krieg in Teilen Europas. Sodass wir ihn anders als erhofft, nolens volens führen müssen? Auf dass die Antwort nur „ja“ laute und niemand auf den dummen Gedanken kommt, über Alternativen zum „den Verteidigungskrieg nun führen zu müssen“ nachzudenken, greifen die Ideologen des Verteidigungskrieges nur allzu gern alltagspsychologische Rechtfertigungsanleihen auf. Der lebensweltliche Diskurs hält sie quasi parat und lässt sie naheliegend erscheinen, geradezu schlagend. „Wenn du auf der Straße angegriffen oder überfallen wirst, wehrst du dich doch auch oder eilst der oder dem Angegriffenen zu Hilfe. Auf keinen Fall lässt du alles mit dir machen. Sich verteidigen, zur Wehr setzen, ist das Selbstverständlichste und Legitimste von der Welt!“ Die Beispielpalette reicht von der nackten physischen Gewalttat bis hin zur subtilen seelischen Vergewaltigung, Mobbing und anderes mehr. – Während ich dies schreibe (auf mein Diktiergerät spreche) laufen im Radio die Nachrichten über einen russischen Raketenangriff auf die ukrainische Stadt Sumy mit vielen zivilen Opfern. Die Kommentatoren, ob Politiker oder Journalisten, verschärfen entsprechend den Ton der Empörung und fordern noch entschiedener wirksame militärische Vergeltung für diesen „Terror“, dieses „barbarische Verbrechen“. Friedrich Merz, der künftige Bundeskanzler, bringt mit schneidender Stimme, Feldwebelstimme, erneut den „Marschflugkörper Taurus“ als die einzig angemessene Antwort ins Spiel. Um die Abschussrampen des Aggressors auf dessen Territorium auszuschalten, so drängen unisono auch die hiesigen Wehrexperten und Militärs, zweifellos die effektivste Waffe, sprich Angriffswaffe in der Funktion einer Verteidigungswaffe.
Wie geht es mir dabei? Den nur wenige Sekunden langen Originalton der Reportage aus Sumy über den Einschlag der Raketen, finde ich so unerträglich, wie ich die zu einer sofortigen „angemessenen Reaktion“ auffordernde Kommentierung entsetzlich finde. In der ich nichts anderes denn eine wohlfeile, ja selbstgerechte Affektabfuhr erkennen kann. Die natürlich verführerisch ist, zumal gerade bei einem so abscheulichen Kriegsgeschehen wie diesem, das unsere moralische Emotion förmlich in Aufruhr versetzt, der Kategorienfehler besonders leicht verfängt, von der mikrologisch lebensweltlichen Erfahrung auf die Makroebene der Gesellschaft und der internationalen Politik zu schließen, zu denken, „es ist im Kleinen wie im Großen“. „Der Politiker, der ein anderes Land überfällt und dessen Einwohnern das Leben zur Hölle macht, ist er nicht dem bösen Nachbarn vergleichbar, der andere in seiner Umgebung verbal attackiert, sie mobbt und ihnen das Leben vor Ort vergällt?“ „Was, wenn man im einen wie im anderen Fall den Übeltäter nicht mit gütlichen, friedlichen Mitteln stoppen, von seinem bösartigen Verhalten abbringen kann?“
„Dass sozusagen in beiden Welten am Ende der gefährlichste und bösartigste Mensch gewinnt, weil niemand einschreitet, weil keiner hilft, alle untätig zuschauen und es geschehen lassen“ – dies ist die Sorge einer Bekannten, die meine kriegskritischen Stellungnahmen und meine Vorbehalte gegen bewaffnete Maßnahmen kennt und mich fragt, worin meine Lösung besteht. Das Nachdenken über eine alternative Lösung, so möchte ich ihr antworten, beginnt mit einer kontraintuitiven Prämisse, einer Zumutung mithin. Der nämlich, die zunächst so einleuchtende alltagspsychologische Parallele fallen zu lassen, sie erweist sich für die politische und zwischenstaatliche Ebene als untauglich, irreführend. Die Kontexte von Alltagswelt und internationaler Politik sind entstehungsgeschichtlich und in ihrer Beziehungsdynamik gänzlich verschieden. Polizeiliche Intervention zur Beilegung zivilgesellschaftlicher Konflikte lässt sich eben nicht mit militärischer Konfliktaustragung zwischen Staaten vergleichen. Wie auch das Scheitern einer polizeilichen oder juristischen Streitschlichtung nicht vergleichbar ist mit den Risiken und Konsequenzen kriegerischer Eskalation, gar der Gefahr wechselseitiger atomarer Vernichtung. – Nach meiner „Lösung“ gefragt, plädiere ich infolgedessen für ein Nachdenken, das sich in seinem Ausgangspunkt von jener schlichten alltagspsychologischen Parallelisierung verabschiedet hat. Das Ergebnis eines solchen Nachdenkens, das öffentlich kaum begonnen hat, kann ich nicht vorwegnehmen, es muss als das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Projekts jener Intellektuellen abgewartet werden, die sich dem konformistischen Tross derer nicht anschließen, die sich momentan lautstark am Abriss der postheroischen Mentalität beteiligen.
In der angedeuteten Rolle des intellektuellen Dissidenten – desjenigen, der sich dem hysterischen Konsens, “ uns sofort in die Lage versetzen, dieses Land und seine Freiheit mit der Waffe verteidigen zu können“, verweigert –, einer undankbaren Rolle in einer Situation von hohem politischem Handlungsdruck, gerate ich in eine doppelte Verlegenheit. Zum einen vermag ich nicht auf Anhieb eine alternative Handlungsstrategie auf den Tisch zu legen; mein Vorschlag zu einem „Sondervermögen Nachdenken“, um nach anderen Wegen als den in katastrophische Sackgassen führenden zu suchen, ist „politisch nicht darstellbar“, wie man heute sagt. Und zum anderen bringt mich meine Verweigerungshaltung, mein NEIN zum „Zurückschießen“, gegenüber Menschen in Rechtfertigungsnot, deren Leib und Leben unmittelbar von den Waffen eines Angreifers bedroht ist und die im wörtlichen Sinne „unter Beschuss stehen“ . – Insbesondere diese zweite, aus meiner Verweigerungshaltung entstehende Misslichkeit bekümmert und schmerzt mich. Weil ich den Vorwurf eines Mangels an Mitgefühl, Empathie, seitens der Betroffenen verstehen kann, ohne ihn jedoch für sie emotional nachvollziehbar ausräumen zu können, folglich den schmerzhaften Bruch dieser Differenz aushalten muss, ihren Zorn auf Leute wie mich. Wie mit dem quälenden Zwiespalt im Innern leben, helfen zu wollen, ihnen in existenzieller Bedrohung beizustehen und dennoch eine bestimmte Hilfe aus verantwortungsethisch fundierten Gewissensgründen zu verweigern, weil diese Art von Beistand, die der Lebensbedrohung und Existenznot zugrunde liegende soziale und politische Heillosigkeit vermehrt und sie perpetuiert.
Erst neoliberale Entsolidarisierung der Gesellschaft – dann aber zu Solidarität bei der Landesverteidigung auffordern
Eine Heillosigkeit, die sich im Grunde auf die Gesamtheit heutiger weltgesellschaftlicher Verhältnisse erstreckt, auf innerstaatliche Herrschaftsverhältnisse wie auch auf den Zustand des internationalen politischen Systems. Sozioökonomisch und zivilgesellschaftlich unterscheiden sich die nationalen Gesellschaften lediglich nach dem Grad der Rücksichtslosigkeit oder Brutalität, mit der sich der neoliberal deregulierte Kapitalismus und seine extreme Ungleichheit der Reichtums-und Einflussverteilung im Innern durchgesetzt haben. Zwischen den Individuen, den vereinzelten Einzelnen, ist ein gnadenloser Wettbewerb um Status, Prestige und Anerkennung entbrannt. Und zwischen den Staaten bzw. den Bündnisgruppierungen des multipolaren Weltsystems herrscht eine machtpolitische, auf militärische Stärke setzende Konkurrenz, die gewaltsame Konfrontation und kriegerische Konfliktaustragung immer weniger ausschließt. – Wie lauter isolierte, einander abstoßende Elementarteilchen, verloren durch einen dreifach (zwischenmenschlich, innerstaatlich und transnational) entsolidarisierten Kosmos vagabundierend, werden wir plötzlich von den Regierenden und ihren Stichwortgebern in den Leitmedien im Ton höchster Dringlichkeit an Solidaritätspflichten gegenüber „unserem Gemeinwesen“ erinnert. Dem wir die von uns so selbstverständlich genommenen Segnungen von „Freiheit und Demokratie“ verdankten. Und die wir nun gefälligst solidarisch unter Einsatz unseres Lebens gegen einen aggressiven äußeren Feind verteidigen sollen.
Jener zwecks Kriegsertüchtigung verteidigungspolitisch erzwungene Salto Mortale in Sachen Solidarität, ultimativ gefordert, ja regelrecht moralisch erpresst von der Masse der wirtschaftlich Besitzlosen, den ökonomisch eigentumslosen neoliberalen Wetttbewerbersubjekten, kommt nicht ohne schwülstige Beschwörung von „Phantombesitz“ aus (ein von der Philosophin Eva von Redeker eingeführter Terminus für fiktive Eigentumstitel). Die alltäglich im beinharten Konkurrenzkampf gegeneinander agierenden wirtschaftlichen Habenichtse sollen sich mit einem Mal als solidarisches Kollektiv begreifen – fingieren wäre das korrekte Wort dafür – und sich als „Phantombesitzer“ eines staatlich verfassten demokratischen Gemeinwesens fühlen. Für dessen militärische Verteidigung ihnen mit Fug und Recht (es geht um die Sicherung ihres Eigentums, die Erhaltung ihres Phantombesitzes) wenn nötig ein „hoher Blutzoll“ (so der Militärexperte Carlo Masala) abverlangt werden darf. – Werden unsere besitzerstolzen, phantombesitzerstolzen Bundesbürger auf die perfide Paralogik der „sozioökonomisch Entsolidarisierten“ verteidigungspolitisch Solidarischen hereinfallen? Oder werden sie die infame Überredungskunst der Regierenden durchschauen? Vermutlich weder das eine noch das andere. Worauf ich stattdessen hoffe – die bange Hoffnung desjenigen, der inzwischen mit dem Schlimmsten rechnet –, ein gesunder Egoismus individueller Lebenszugewandtheit, wie er der postheroischen Mentalität in den westlich liberalen Zivilgesellschaften nun einmal zu eigen ist, werde sie vor allzu großen Dummheiten bewahren. Die moralisch vielleicht nicht besonders erbauliche, weil nicht selten von einem egoistischen Selbsterhaltungsinteresse geleitete Zivilisiertheit der Mehrheitsbevölkerung in den europäischen Staaten (den Ländern der Europäischen Union) könnte sich als Sand im Getriebe erweisen in der Mechanik einer Verteidigungs- und Kriegsmaschinerie, einer Höllenmaschine im wahrsten Sinne des Wortes, wie sie die Gesellschaftsoberen und ihre Funktionseliten im Begriff sind in Gang zu setzen.
Einen Staat, ein Land, „mein Land“, „meine Heimat“ verteidigen, bewaffnet verteidigen, ungeachtet der Tatsache, dass sich seine Demokratie mehr und mehr in eine Plutokratie verwandelt, in eine Herrschaft des Geldes, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit rapide zunehmen und der gesellschaftliche Alltag zu einer Kampfzone aller gegen alle mutiert? Eine Zumutung, ein verteidigungspolitisches Solidaritätsverlangen, dem sich sozial und politisch verantwortlich denkende und handelnde Menschen meines Erachtens zurecht verweigern! – Wie müsste demgegenüber ein humanes und demokratisches Gemeinwesen beschaffen sein, dessen Bürger und Treuhänder (und also nicht lediglich Phantombesitzer) es guten Gewissens auch gegen innere und äußere Zerstörungskräfte verteidigen würden? Verteidigen freilich auf andere Weise als die heute militärisch übliche, mit „einer Megamaschine Krieg“, die Angreifer wie Verteidiger in den Abgrund, in einen alles zerstörenden Gewaltstrudel reißt. Ich mag mich jedenfalls nicht von dem Gedanken verabschieden, mag er auch gegenwärtig mehr denn je utopisch erscheinen, dass eine substantiell demokratische und wirklich solidarische Gesellschaft (und wahrscheinlich nur sie) auch die Entschlossenheit, die Energie und Widerstandskraft besäße, sich wirksam gegen Feinde zu verteidigen, ohne zu diesem Zweck eine unberechenbare Höllenmaschine in Bewegung zu setzen. Eine wirklich demokratische und solidarische Gesellschaft und ihre Lebensweise, so wage ich zu behaupten, würde selbst unter einer ihr militärisch aufgezwungenen autokratischen Herrschaft nicht dauerhaft in die Knie gehen. Was sagt es über die Verfasstheit unserer derzeitigen Demokratie und ihre neoliberal konditionierte Freiheit aus, wenn den Regierenden verteidigungspolitisch nichts besseres einfällt, als sich mit der Autokratenüberzeugung gemein zu machen, „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“ (Mao Tse Dong). Und sie ihre Bürger nötigen, sich diese Überzeugung ebenfalls zu eigen zu machen und ihr gemäß zu handeln.
Nicht leicht, argumentativ anzukommen gegen lange verfestigte Vorurteile, ich weiß. Die ganze Zeit, während ich an diesem ideologiekritischen Text gearbeitet habe, hat der öffentliche Leitmedienbetrieb seine maoistische Indoktrination („Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“) hochtourig fortgesetzt. Politische Inhalte und Reflexionen wie die meinigen sollen aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht werden, für die bewaffnete Landesverteidigung „dysfunktionaler Content“ und seine „Sprachcodes“ müssten „überschrieben“ werden. Explizit fragt die TV-Talkshow-Moderatorin Caren Miosga ihre zur „Koalition der Willigen“ zählenden Gäste, „wie dieser Code noch rascher überschrieben werden kann“. Wann hat man das letzte Mal derart unverblümt und schamlos eine journalistische Aufforderung an prominente Kolleginnen und Kollegen vernommen, sich an einer vom parlamentarisch politischen Mehrheitsblock gewünschten öffentlichen Gehirnwäsche zu beteiligen.
Zugeeignet Martin Theben.

Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet)
Europa im verteidigungspolitischen Fieberwahn – Intellektuelle desavouieren "postheroische Zivilisiertheit" durch Moralisierung des Militärischen
Ungläubiges Staunen, das sich in blankes Entsetzen verwandelt, diese Worte beschreiben vielleicht am ehesten, was ich dieser Tage empfinde, höre ich in den Medien die um die Schlagworte "Sicherheit" und "Verteidigung" kreisenden Nachrichten und Kommentare. Mein Entsetzen darüber, wie in einer 180-Gradwendung bislang Gültiges an politischen und humanen Standards gleichsam über Nacht abgeräumt wird, geht einher mit der Fassungslosigkeit desjenigen, der in einer Nachkriegszeit aufwuchs und sozialisiert wurde, für die ein Bewusstsein vom Mörderischen eines jeden Krieges bestimmend und prägend war. Mithin ein Bewusstsein auch vom unbezweifelbaren und unbedingt bewahrenswerten zivilisatorischen Fortschritt eines postheroischen Selbstverständnisses in Gesellschaft und Politik. Ein Bewusstsein, dem eine Wiederkehr oder Rückkehr des Krieges ein quasi absolutes politisches und moralisches No-Go erscheint. Ungläubiges Augenreiben nicht zuletzt und besonders in den zurückliegenden Tagen über das Tempo und die Nonchalence der vollständigen Abkehr von diesem Bewusstsein. Als deren beredte Fürsprecher in der medialen Öffentlichkeit sich ausgerechnet – was für jemanden für mich, der sich mit Hannah Arendt zu sprechen dem "Leben des Geistes" verbunden fühlt, dem Ganzen sozusagen die Krone aufsetzt – linksliberale Intellektuelle zu Wort melden und sich beflissen in die geistige Mentorenrolle der epochalen Kehre begeben. Ihrer meines Erachtens fatalen Argumentation möchte ich in dieser Fortsetzung meiner vorangegangenen Überlegungen ("Unseren Masters of War ins Wort fallen", mein Essay in der vorigen Literaturbeilage) abermals nachdrücklich widersprechen.Publizistische Stimmen unterfüttern die Remilitarisierung mit moralischer Legitimität
Exemplarisch für die breite Legitimierungskampagne in den deutschen Leitmedien ein Artikel der SZ-Journalistin Sonja Zekri von Anfang März diesen Jahres. Darin wird sie grundsätzlich: „Wer heute die Verteidigungsausgaben nicht erhöhen will, riskiert die Demokratie. Noch immer spürt man ein tiefes Misstrauen gegenüber allem Militärischen, das sich durch die gesamte bundesrepublikanische Geschichte zieht und bis heute nachwirkt. Die schockierende Wahrheit lautet, dass Deutschland, dass sich Europa nicht nur schnell und umfassend bewaffnen muss, um sich zu verteidigen, es muss sich bewaffnen, um nicht erpressbar zu sein. Die US-Regierung und golden Boy Elon Musk haben auf der Seite der AFD Wahlkampf gemacht, in einer modernen Spielart amerikanischer Hinterhofpolitik versuchen sie, den immer noch zu 70 bis 80 Prozent demokratischen Deutschen eine in Teilen rechtsextreme Partei aufzunötigen.“ Zitatende.
– Die Moralistin in Sachen militärischer Raison beschwört in diesen Zeilen eine Art Zweifrontenkrieg.Von vorn, sprich von Osten stößt Putin vor, im Westen fällt uns Trump in den Rücken mit einem Frontalangriff auf unsere Demokratie. Indem er einen bereits in unserem Land stehenden inneren Feind (nämlich die AfD nach Zekri) munitioniert. Für wie moralisch zweifelhaft, um nicht zu sagen verkommen muss man folglich diejenigen erachten, die jetzt noch immer Vorbehalte dem Militärischen gegenüber hegen und damit in dieser Stunde existenzieller Selbstbehauptung eine Selbstbewaffnung sabotieren, ohne die kein Überleben möglich ist.
Eine andere Stimme im publizistischen Chor der Normalisierer und Moralisierer des Militärischen scheut sich nicht, die Verabschiedung vom gesellschaftlichen und politischen Ethos postheroischer Zivilisiertheit mit einer ausdrücklichen Evokation des Heroischen abzurunden. In seiner Generalabrechnung mit dem Pazifismus – seinem „Frontalangriff“, hätte ich vor kurzem in Anbetracht der sprachlichen Unschuld kriegerischer Metaphern noch guten Gewissens geschrieben – in dieser seiner Abrechnung bescheinigt der ZEIT-Feuilletonist Jens Jessen Pazifisten eine moralische Restlegitimation, solange sie sich darauf beschränken, bei sich selbst „den Verlust von Freiheit oder Leben hinzunehmen, um nicht selber zur Waffe zu greifen“. Die „moralisch brisante Frage“ laute daher eher, so Jessen, „wäre der Pazifist auch bereit, die Zerstörung von Leben und Freiheit anderer hinzunehmen, um in frommer Unschuld verharren zu können?“ Wie dem auch sei, so Jessens Pointe, „verdienen Soldaten viel von dem, was ihren Einsatz von Leib und Leben im Erstfall überhaupt nur kompensieren kann, Anerkennung und Sympathie und vielleicht sogar Bewunderung“. – Ein Sound, der, so sehr ich seiner inzwischen gewärtig bin, mir nach wie vor im ersten Moment die Sprache verschlägt, so dass es einige Augenblicke braucht, um mich gedanklich zu berappeln und wieder artikulieren zu können.
Artikulationshilfe kam just dieser Tage von gewissermaßen allerhöchster Stelle, der intellektuellen Autorität schlechthin in diesen Dingen, vom Philosophen Jürgen Habermas. Mit seinen bald 96 Jahren ist er der bekannteste und auch anerkannteste „öffentliche Intellektuelle“ der Bundesrepublik und dementsprechend hat sein Wort sachlich wie moralisch Gewicht. Sein Gastbeitrag in der SZ vom 22. März liest sich wie eine Replik auf Sekris verteidigungspolitischen Alarmismus im selben Blatt zu Monatsbeginn. Und setzt gewissermaßen den fälligen Kontrapunkt zum Sound bellizistischer Aufgeregtheit, der die Arenen der politischen Öffentlichkeit hierzulande flächendeckend beschallt. – Habermas zeigt sich bestürzt über die kriegsrhetorische Mobilmachung, deren Triumphalismus und die darin zum Ausdruck kommende Geschichtsvergessenheit. Zitat: „Für einen halbwegs aufgeklärten Zeitgenossen meiner Generation“, schreibt er und spricht somit ausdrücklich nicht nur für sich, „war der selbstzufriedene Triumph über die Einheit des Westen“ und die „Handlungsfähigkeit der NATO gespenstisch.“ Und er beklagt generell die Indolenz der in diesem Kontext zutage tretenden Mentalität. „Irritierend“ für Ihn bereits mit Beginn des Ukrainekriegs, „war überhaupt die Unempfindlichkeit über den Ausbruch militärischer Gewalt in Europa. Verschwunden schien jedes Gefühl für die abschreckende Gewalt von Kriegen, wie auch für die Tatsache, dass Kriege leicht entstehen, aber schwer zu beenden sind.“
„Und zwar stoßen in dieses Horn“, so fährt Habermas fort, „nicht nur die üblichen Verdächtigen, die den historisch längst überwundenen Nationalismus als eine zeitlose Tugend feiern, sondern auch die Politiker, die eine aus guten Gründen postheroische Jugend mit der Wiederbelebung der Wehrpflicht aufmöbeln wollen. Und das inmitten von Staaten, die aus guten Gründen fast alle die Wehrpflicht längst abgeschafft oder ausgesetzt haben. In dieser Abschaffung der Wehrpflicht spiegelt sich ein weltgeschichtlicher Lernprozess, nämlich die auf den Schlachtfeldern und in den Kellern des Zweiten Weltkriegs gewachsene Einsicht, dass diese mörderische Gewaltausübung menschenunwürdig ist.“ – Bedarf es noch einer deutlicheren Mahnung (nicht zuletzt auch an die Adresse der Stimmen aus dem von mir sogenannten „moralisch-militärischen Komplex“) vor der Preisgabe jenes „weltgeschichtlichen Lernprozesses“, der sich als humane Norm in der Mentalität postheroischer Zivilisiertheit niedergeschlagen hat?
Und schließlich, ich zitiere ein letztes Mal Habermas: „Mich erschreckt von welchen Seiten die deutsche Regierung, die sich nun zu einer beispiellosen Aufrüstung des Landes anschickt, gedankenlos oder gar ausdrücklich mit dem Ziel der Wiederbelebung einer zurecht überwunden geglaubten militärischen Mentalität unterstützt wird.“ – Der Grandseigneur des hiesigen Linksliberalismus nennt keine Namen. Ich nehme an, er denkt an Unterstützer regierungsamtlicher Aufrüstungsanstrengungen und der „Wiederbelebung einer zurecht überwunden geglaubten militärischen Mentalität“, wie sie sich unlängst in einem „Aufruf“ von Wissenschaftlern („Augen geradeaus“ vom 12.März) geäußert haben. Öffentlich unterzeichnet etwa von dem Soziologen Armin Nassehi, der Gewalt-und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff, dem Politikwisssenschaftler Herfried Münkler, der Osteuropaforscherin Gwendolin Sasse und anderen mehr. Die Namensliste renommierter intellektueller Legitimatoren der Abkehr vom Postheroischen und einer stramm geradeaus blickenden Aufgeschlossenheit fürs Militärische ließe sich beliebig verlängern, sie umfasst beinahe die gesamte linksliberale Creme de la Creme. Gemessen an dem, was auf dem Spiel steht, scheint es mir durchaus nicht übertrieben, von einem „Verrat der Intellektuellen“ zu sprechen.
Von der Militarisierung der Köpfe zügig voran zur praktischen Umsetzung Theorie und Praxis – beides gehört verbunden, das theoretisch Gelernte in alltägliche Praxis umgesetzt. Sind die Köpfe erst ordentlich militarisiert, praktiziert sichs ungeniert, so ließe sich das bis in die feinsten Kapillaren der Gesellschaft allenthalben zu Beobachtende bündig zusammenfassen. Zum Beispiel – ein Sprung ins von der NATO beschützte Baltikum – was an lettischen Schulen vor sich geht und schneller als gedacht auch an deutschen Schulen gang und gäbe sein könnte. Wehrkunde als praktisches Unterrichtsfach in der zehnten und elften Klasse. Der von Tagesschau und Deutschlandfunk ausgestrahlte Bericht zeigt Zehnt- und Elftklässler in einer Turnhalle auf Matten kniend mit einem Gewehr in der Hand. Eine Ausbilderin leitet sie an, „hier kommt das Magazin rein, merkt euch das!“ Sie sollen lernen, wie ein Gewehr aufgebaut ist und wie man es bedient. Steht inzwischen verpflichtend im lettischen Lehrplan. Kommentar des Schuldirektors: „Um den Frieden zu sichern, müssen alle mit anpacken. Indem wir auch die Jungen ausbilden, senden wir das Signal, dass es hier nichts zu holen gibt, alle sind bereit.“
Bereit, nicht nur Minderjährige an der Waffe auszubilden (und, wenn Not am Mann oder der Frau ist, sie auch in den Kampf zu schicken, ins Gefecht). Bereit auch dazu, durch internationale Abkommen geächtete Waffentechnik dennoch anzuschaffen und zum Einsatz zu bringen, Anti-Personen-Minen und Streumunition. Nach den baltischen Staaten behauptet auch Polen, nur so westliche Freiheit und Werte und also Menschenrechte und Humanität effektiv verteidigen zu können. Mit Landminen, Splitterbomben und Kindersoldaten. – Worüber hartgesottene Waffentechnick-Nerds nur müde lächeln. Ihnen schwebt anderes vor. Keine Kinkerlitzchen, nicht kleckern, klotzen, lautet ihre Devise. Unter dem Motto „Die Bombe verstehen lernen“ betonen ein Historiker und ein Politikwissenschaftler Ende März in der FAZ die Präzision aktueller Atomwaffen und erklären, der Einsatz von Nuklearwaffen im Gefecht könnte der NATO zuletzt im Zug eines russischen Angriffs auf das Baltikum bevorstehen. In Ermangelung konventioneller Alternativen wäre in diesem Zusammenhang ein abgestufter Einsatz von Nuklearwaffen auf dem Gefechtsfeld naheliegend, unter bestimmten Umständen gar unvermeidlich.
Was passiert hier gerade auf der massenmedialen Diskursebene, mit welcher Diskursdynamik sieht man sich in der Rezipientenrolle von Nachrichten und Kommentaren konfrontiert? Ich beobachte eine Interferenz zweier intentional unverträglicher Diskursstrategien. Ein teils geradezu frivoler expertokratischer Übertrumpfungsdiskurs (dessen extreme Szenearien einem die Haare zu Berge stehen lassen) und ein volks- oder massenpädagogisch intendierter Normalisierungsdiskurs (der uns an Militär, Verteidigung, Rüstung und Krieg als das „Normalste von der Welt“ gewöhnen soll) kommen einander in die Quere. Einerseits möchte man das Militärische vom Odium des „notwendigen Übels“ (mit Akzent auf dem Übel) befreien, ihm soll nicht länger der Ruch des moralisch Zweifelhaften, des Mörderischen anhaften. Junge Männer und Frauen lassen sich nur dann für die Bundeswehr begeistern, wenn „der Job Spaß macht“. Immer krassere militärstrategisch simulierte Horrorszenarien im Wechsel mit apokalyptischen Bildreportagen von den real existierenden Kriegsschauplätzen (in der Ukraine, in Gaza und anderswo) – was macht dieser entsetzliche Kuddelmuddel mit den strapazierten Hirnen all derer, die ihm alltäglich an den Bildschirmen ausgesetzt sind?
Das dichothome Begriffspaar „Rebellion oder Schicksalsergebenheit“ drängt sich mir auf als Sortiervorschlag für die mentalen Reflexe und Reaktionen auf eigentlich nicht zu bewältigende Stressoren. Die das menschliche Gehirn, sofern es sich noch nicht gänzlich gemäß normalitätspathologischer Anpassungszwänge hat konditionieren lassen nur auf diesen einen Anforderungsnenner bringen kann: Das denkbar Schrecklichste, Krieg, sich vorstellen, pobehandelnd antizipierend und sich praktisch darauf vorbereiten, weil einzig auf diese Weise dasselbe abgewendet werden könne, nur Kriegsvorbereitung den Krieg verhindere – und eben dadurch jenes unbedingt zu vermeidende Schreckliche womöglich erst recht heraufbeschwören, sein Eintreten desto wahrscheinlicher machen! – Wessen Gehirn dagegen rebelliert, wessen Vernunft sich sträubt, dieser fatalen Logik zu folgen, der oder die wird sich dieser unmöglichen Zumutung verweigern. Sich weigern, der uns abverlangten mentalen und handlungspraktischen Kriegsvorbereitung Folge zu leisten. Und die Schicksalsergebenen? Sie werden mitmachen, sich einreden, die bellizistisch Tonangebenden könnten so schrecklich oder grausam sich nicht irren. Und im übrigen hoffen sie, dass es gar so schlimm schon nicht kommen wird.
Von den „Gewehren der Frau Carrar“ zur massenvernichtenden „Megamaschine Krieg“
Betrachte ich die zurückliegenden Jahrzehnte meiner persönlichen Lebensgeschichte als zusammenhängenden politisch historischen Zeitraum, um ihn einer möglichen Urteilsbildung zugrunde zu legen – ich meine damit die Periode des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Ost-West-Konflikts 1989 plus die darauffolgenden 35 Jahre und also das erste Viertel des 21. Jahrhunderts –, so gelange ich am Ende in der Rolle des kritischen Beobachters und eines engagierten Intellektuellen zu dem für mich zwingenden Schluss, dass nunmehr auch aus verantwortungsethischen Gründen (und nicht mehr nur aufgrund eventuell gesinnungsethischer Grundsätze) Militär und Krieg bzw. bewaffnete Verteidigung als optionale Mittel der Politik ausscheiden oder nicht länger in Betracht kommen. Dies war für mich noch anders, als ich Mitte der 1970er Jahre – damals studierte ich Soziologie und Politikwissenschaft an der Uni Marburg und war dort mit meiner politisch linken, dezidiert marxistischen Gesinnung alles andere als allein – Brechts Theaterstück „Die Gewehre der Frau Carrar“ im Fernsehen sah. Brechts zwischen den beiden Weltkriegen geschriebenes proletarisch volkspädagogisches Lehrstück überzeugte mich seinerzeit von der Untauglichkeit einer pazifistischen Haltung für den Klassenkampf von unten, gegen eine bereits zum offenen Bürgerkrieg übergegangene herrschende Klasse.
Das Stück spielt im spanischen Bürgerkrieg, die verwitwete Fischersfrau Carrar, eine gläubige Katholikin, weigert sich unter Berufung auf das Bibelwort, „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“, zunächst dem Bruder ihres Mannes und einem ihrer Söhne, die im Haus versteckten Gewehre auszuhändigen, um sich – wie wir im heutigen Jargon sagen würden – gegen den Angriffskrieg Frankos zu verteidigen. Als der andere Sohn von ihr, von den Phalangisten beim Fischfang erschossen, in einer blutigen Plane ins Haus getragen wird, ändert sie ihren Sinn und gibt den Männern die Gewehre. Die von ihr gelernte Lektion, das Gute muss sich bisweilen der Gewalt bedienen, um sich gegen das Böse zu behaupten, zu verteidigen. Und es hätte ja durchaus sein können, dass die bewaffneten Republikaner ihren Verteidigungskrieg gegen Frankos Truppen gewinnen und damit die republikanische Volksherrschaft in Spanien für Jahrzehnte erhalten, statt wie umgekehrt geschehen, die faschistische Diktatur sich etabliert.
In Brechts Stück steht das Gewehr, zeitgeschichtlich wirklichkeitsgetreu, sinnbildlich für den Krieg, es ist die paradigmatische Kriegswaffe, gleichermaßen für Angreifer und Verteidiger. Im Krieg gehen mit Gewehren bewaffnete Männer aufeinander los und wenn dies auch in militärischen Formationen, Kompanien etc. geschieht, so hat sich doch bis heute unser Vorstellungsbild von einzelnen Kombattanten erhalten, die mit der Waffe in der Hand in einem tödlichen Kampf miteinander stehen. Und die Niederlage und der Tod der einen den Sieg und das Überleben der anderen bedeutet. Handelt es sich bei den letzteren um die „Verteidiger“, so lässt sich daraus schlussfolgern, dass bewaffnete Verteidigung und Verteidigungskriege im Rahmen dieser politisch-militärischen Logik sinnvoll und rational sind. Und die zu Verteidigungszwecken erbrachten Opfer insofern gerechtfertigt sein und moralisch vertretbar erscheinen können.
Nach einem halben Jahrhundert erscheint mir meine damalige „Rezeption“ von Brechts Klassiker im heutigen Rückblick einer vergangenen Zeit, d.h. einer vergangenen Epoche von Kriegführung anzugehören. Mein Einwand unter dem Eindruck nicht erst der jüngsten Kriege und ihres „hochtechnisierten Ablaufgeschehens“ besagt, wir haben es mit einem völlig veränderten Paradigma zu tun. Die massenvernichtende „Megamaschine Krieg“ von heute, hochtechnologische, elektronisch gesteuerte Systeme aus technischen und organischen (menschlichen) Bauteilen in einem beliebig skalierbaren Verbund, hat ihrer destruktiven Effizienz nach kaum noch etwas gemein mit dem aus der Vergangenheit bekannten Kollektiv bewaffneter Kombattanten, das gegen ein anderes solches Kollektiv antritt. Wobei auf überschaubaren Gefechtsfeldern Entscheidungen herbeigeführt wurden, die in Summe idealerweise den Sieg oder die Niederlage einer Seite besiegelten. Ins aktuelle ideologische Framing übersetzt, sich das freie und demokratische Europa in einem erfolgreichen Verteidigungskrieg gegen den Aggressor Putin würde behaupten und letztendlich durchsetzen können. – Mit Verlaub, ich halte solch einen „erfolgreichen Verteidigungskrieg“ (in gesamteuropäischem Maßstab von NATO-Staaten gegen die russische Föderation ausgefochten) für ein gefährliches, um nicht zu sagen selbstmörderisches Phantasma. Das Risiko der Nichtsteuerbarkeit der im Aufeinanderprall beider Kriegsmaschinerien ausgelösten Dynamik, die Wahrscheinlich einer unkontrollierbaren Gewalt- und Eskalationsspirale, die in ein wechselseitiges Zerstörungsinferno unermesslichen Ausmaßes mündet, ist größer als alles andere. Was aber ist von einem militärischen Verteidigungsvorhaben zu halten, das Selbstvernichtung in Kauf nimmt?
Alltagspsychologische Plausibilisierung der militärischen Verteidigungsnotwendigkeit – ein Kategorienfehler, der verfängt
Ich nehme an, intelligente Bellizisten konzedieren ins geheim die Unkalkulierbarkeit militärischer Verteidigung im großen Maßstab (etwa dem eines auf Gesamt-Europa ausgedehnten Kriegs). Die derzeit beliebteste verteidigungspolitische Rechtfertigungsformel forcierter Aufrüstung, „civis pacem para bellum“ („wer Frieden will, bereitet den Krieg vor“), akzentuiert die militärische Verteidigungsfähigkeit bzw. Kriegsbereitschaft lediglich als Mittel oder Instrument einer guten Absicht, der Friedenserhaltung nämlich. Dass das Verteidigungsmittel auch seinen eigenen Zweck, nämlich die Freiheit und das Leben des oder der Angegriffenen zu verteidigen, erfüllen und nicht in ein letales Desaster münden wird, darüber schweigt die Formel. Darum setzen ihre Nachbeter konsequent auf das Prinzip Hoffnung. Gefragt, ob wir also vom Schlimmsten oder Schlechtesten ausgehen und dafür eigentlich bereit sein müssen, antwortet der Militärexperte Carlo Masala, „die grundlegende Logik ist, bereite dich immer auf das schlimmste Szenario vor und hoffe, dass es nicht eintritt.“ Kurz, wir müssten die Verteidigungsausgaben hochfahren, soweit soll das Publikum mitdenken. Danach ist mit dem Denken Schluss, dann heißt es, nurmehr hoffen und beten. Im Zweiten Weltkrieg nannte man unter Landsern wie unter Generälen vergleichbare Unternehmungen „Himmelfahrtskommando“.
Vom schwäbischen Schlitzohr Schäuble, Wolfgang Schäuble ist der überaus beruhigende Sinnspruch überliefert „Wir bereiten uns auf den Krieg vor, um ihn nicht führen zu müssen“. Nun lebt der legendäre Schwabe mittlerweile nicht mehr, aber es herrscht Krieg in Teilen Europas. Sodass wir ihn anders als erhofft, nolens volens führen müssen? Auf dass die Antwort nur „ja“ laute und niemand auf den dummen Gedanken kommt, über Alternativen zum „den Verteidigungskrieg nun führen zu müssen“ nachzudenken, greifen die Ideologen des Verteidigungskrieges nur allzu gern alltagspsychologische Rechtfertigungsanleihen auf. Der lebensweltliche Diskurs hält sie quasi parat und lässt sie naheliegend erscheinen, geradezu schlagend. „Wenn du auf der Straße angegriffen oder überfallen wirst, wehrst du dich doch auch oder eilst der oder dem Angegriffenen zu Hilfe. Auf keinen Fall lässt du alles mit dir machen. Sich verteidigen, zur Wehr setzen, ist das Selbstverständlichste und Legitimste von der Welt!“ Die Beispielpalette reicht von der nackten physischen Gewalttat bis hin zur subtilen seelischen Vergewaltigung, Mobbing und anderes mehr. – Während ich dies schreibe (auf mein Diktiergerät spreche) laufen im Radio die Nachrichten über einen russischen Raketenangriff auf die ukrainische Stadt Sumy mit vielen zivilen Opfern. Die Kommentatoren, ob Politiker oder Journalisten, verschärfen entsprechend den Ton der Empörung und fordern noch entschiedener wirksame militärische Vergeltung für diesen „Terror“, dieses „barbarische Verbrechen“. Friedrich Merz, der künftige Bundeskanzler, bringt mit schneidender Stimme, Feldwebelstimme, erneut den „Marschflugkörper Taurus“ als die einzig angemessene Antwort ins Spiel. Um die Abschussrampen des Aggressors auf dessen Territorium auszuschalten, so drängen unisono auch die hiesigen Wehrexperten und Militärs, zweifellos die effektivste Waffe, sprich Angriffswaffe in der Funktion einer Verteidigungswaffe.
Wie geht es mir dabei? Den nur wenige Sekunden langen Originalton der Reportage aus Sumy über den Einschlag der Raketen, finde ich so unerträglich, wie ich die zu einer sofortigen „angemessenen Reaktion“ auffordernde Kommentierung entsetzlich finde. In der ich nichts anderes denn eine wohlfeile, ja selbstgerechte Affektabfuhr erkennen kann. Die natürlich verführerisch ist, zumal gerade bei einem so abscheulichen Kriegsgeschehen wie diesem, das unsere moralische Emotion förmlich in Aufruhr versetzt, der Kategorienfehler besonders leicht verfängt, von der mikrologisch lebensweltlichen Erfahrung auf die Makroebene der Gesellschaft und der internationalen Politik zu schließen, zu denken, „es ist im Kleinen wie im Großen“. „Der Politiker, der ein anderes Land überfällt und dessen Einwohnern das Leben zur Hölle macht, ist er nicht dem bösen Nachbarn vergleichbar, der andere in seiner Umgebung verbal attackiert, sie mobbt und ihnen das Leben vor Ort vergällt?“ „Was, wenn man im einen wie im anderen Fall den Übeltäter nicht mit gütlichen, friedlichen Mitteln stoppen, von seinem bösartigen Verhalten abbringen kann?“
„Dass sozusagen in beiden Welten am Ende der gefährlichste und bösartigste Mensch gewinnt, weil niemand einschreitet, weil keiner hilft, alle untätig zuschauen und es geschehen lassen“ – dies ist die Sorge einer Bekannten, die meine kriegskritischen Stellungnahmen und meine Vorbehalte gegen bewaffnete Maßnahmen kennt und mich fragt, worin meine Lösung besteht. Das Nachdenken über eine alternative Lösung, so möchte ich ihr antworten, beginnt mit einer kontraintuitiven Prämisse, einer Zumutung mithin. Der nämlich, die zunächst so einleuchtende alltagspsychologische Parallele fallen zu lassen, sie erweist sich für die politische und zwischenstaatliche Ebene als untauglich, irreführend. Die Kontexte von Alltagswelt und internationaler Politik sind entstehungsgeschichtlich und in ihrer Beziehungsdynamik gänzlich verschieden. Polizeiliche Intervention zur Beilegung zivilgesellschaftlicher Konflikte lässt sich eben nicht mit militärischer Konfliktaustragung zwischen Staaten vergleichen. Wie auch das Scheitern einer polizeilichen oder juristischen Streitschlichtung nicht vergleichbar ist mit den Risiken und Konsequenzen kriegerischer Eskalation, gar der Gefahr wechselseitiger atomarer Vernichtung. – Nach meiner „Lösung“ gefragt, plädiere ich infolgedessen für ein Nachdenken, das sich in seinem Ausgangspunkt von jener schlichten alltagspsychologischen Parallelisierung verabschiedet hat. Das Ergebnis eines solchen Nachdenkens, das öffentlich kaum begonnen hat, kann ich nicht vorwegnehmen, es muss als das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Projekts jener Intellektuellen abgewartet werden, die sich dem konformistischen Tross derer nicht anschließen, die sich momentan lautstark am Abriss der postheroischen Mentalität beteiligen.
In der angedeuteten Rolle des intellektuellen Dissidenten – desjenigen, der sich dem hysterischen Konsens, “ uns sofort in die Lage versetzen, dieses Land und seine Freiheit mit der Waffe verteidigen zu können“, verweigert –, einer undankbaren Rolle in einer Situation von hohem politischem Handlungsdruck, gerate ich in eine doppelte Verlegenheit. Zum einen vermag ich nicht auf Anhieb eine alternative Handlungsstrategie auf den Tisch zu legen; mein Vorschlag zu einem „Sondervermögen Nachdenken“, um nach anderen Wegen als den in katastrophische Sackgassen führenden zu suchen, ist „politisch nicht darstellbar“, wie man heute sagt. Und zum anderen bringt mich meine Verweigerungshaltung, mein NEIN zum „Zurückschießen“, gegenüber Menschen in Rechtfertigungsnot, deren Leib und Leben unmittelbar von den Waffen eines Angreifers bedroht ist und die im wörtlichen Sinne „unter Beschuss stehen“ . – Insbesondere diese zweite, aus meiner Verweigerungshaltung entstehende Misslichkeit bekümmert und schmerzt mich. Weil ich den Vorwurf eines Mangels an Mitgefühl, Empathie, seitens der Betroffenen verstehen kann, ohne ihn jedoch für sie emotional nachvollziehbar ausräumen zu können, folglich den schmerzhaften Bruch dieser Differenz aushalten muss, ihren Zorn auf Leute wie mich. Wie mit dem quälenden Zwiespalt im Innern leben, helfen zu wollen, ihnen in existenzieller Bedrohung beizustehen und dennoch eine bestimmte Hilfe aus verantwortungsethisch fundierten Gewissensgründen zu verweigern, weil diese Art von Beistand, die der Lebensbedrohung und Existenznot zugrunde liegende soziale und politische Heillosigkeit vermehrt und sie perpetuiert.
Erst neoliberale Entsolidarisierung der Gesellschaft – dann aber zu Solidarität bei der Landesverteidigung auffordern
Eine Heillosigkeit, die sich im Grunde auf die Gesamtheit heutiger weltgesellschaftlicher Verhältnisse erstreckt, auf innerstaatliche Herrschaftsverhältnisse wie auch auf den Zustand des internationalen politischen Systems. Sozioökonomisch und zivilgesellschaftlich unterscheiden sich die nationalen Gesellschaften lediglich nach dem Grad der Rücksichtslosigkeit oder Brutalität, mit der sich der neoliberal deregulierte Kapitalismus und seine extreme Ungleichheit der Reichtums-und Einflussverteilung im Innern durchgesetzt haben. Zwischen den Individuen, den vereinzelten Einzelnen, ist ein gnadenloser Wettbewerb um Status, Prestige und Anerkennung entbrannt. Und zwischen den Staaten bzw. den Bündnisgruppierungen des multipolaren Weltsystems herrscht eine machtpolitische, auf militärische Stärke setzende Konkurrenz, die gewaltsame Konfrontation und kriegerische Konfliktaustragung immer weniger ausschließt. – Wie lauter isolierte, einander abstoßende Elementarteilchen, verloren durch einen dreifach (zwischenmenschlich, innerstaatlich und transnational) entsolidarisierten Kosmos vagabundierend, werden wir plötzlich von den Regierenden und ihren Stichwortgebern in den Leitmedien im Ton höchster Dringlichkeit an Solidaritätspflichten gegenüber „unserem Gemeinwesen“ erinnert. Dem wir die von uns so selbstverständlich genommenen Segnungen von „Freiheit und Demokratie“ verdankten. Und die wir nun gefälligst solidarisch unter Einsatz unseres Lebens gegen einen aggressiven äußeren Feind verteidigen sollen.
Jener zwecks Kriegsertüchtigung verteidigungspolitisch erzwungene Salto Mortale in Sachen Solidarität, ultimativ gefordert, ja regelrecht moralisch erpresst von der Masse der wirtschaftlich Besitzlosen, den ökonomisch eigentumslosen neoliberalen Wetttbewerbersubjekten, kommt nicht ohne schwülstige Beschwörung von „Phantombesitz“ aus (ein von der Philosophin Eva von Redeker eingeführter Terminus für fiktive Eigentumstitel). Die alltäglich im beinharten Konkurrenzkampf gegeneinander agierenden wirtschaftlichen Habenichtse sollen sich mit einem Mal als solidarisches Kollektiv begreifen – fingieren wäre das korrekte Wort dafür – und sich als „Phantombesitzer“ eines staatlich verfassten demokratischen Gemeinwesens fühlen. Für dessen militärische Verteidigung ihnen mit Fug und Recht (es geht um die Sicherung ihres Eigentums, die Erhaltung ihres Phantombesitzes) wenn nötig ein „hoher Blutzoll“ (so der Militärexperte Carlo Masala) abverlangt werden darf. – Werden unsere besitzerstolzen, phantombesitzerstolzen Bundesbürger auf die perfide Paralogik der „sozioökonomisch Entsolidarisierten“ verteidigungspolitisch Solidarischen hereinfallen? Oder werden sie die infame Überredungskunst der Regierenden durchschauen? Vermutlich weder das eine noch das andere. Worauf ich stattdessen hoffe – die bange Hoffnung desjenigen, der inzwischen mit dem Schlimmsten rechnet –, ein gesunder Egoismus individueller Lebenszugewandtheit, wie er der postheroischen Mentalität in den westlich liberalen Zivilgesellschaften nun einmal zu eigen ist, werde sie vor allzu großen Dummheiten bewahren. Die moralisch vielleicht nicht besonders erbauliche, weil nicht selten von einem egoistischen Selbsterhaltungsinteresse geleitete Zivilisiertheit der Mehrheitsbevölkerung in den europäischen Staaten (den Ländern der Europäischen Union) könnte sich als Sand im Getriebe erweisen in der Mechanik einer Verteidigungs- und Kriegsmaschinerie, einer Höllenmaschine im wahrsten Sinne des Wortes, wie sie die Gesellschaftsoberen und ihre Funktionseliten im Begriff sind in Gang zu setzen.
Einen Staat, ein Land, „mein Land“, „meine Heimat“ verteidigen, bewaffnet verteidigen, ungeachtet der Tatsache, dass sich seine Demokratie mehr und mehr in eine Plutokratie verwandelt, in eine Herrschaft des Geldes, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit rapide zunehmen und der gesellschaftliche Alltag zu einer Kampfzone aller gegen alle mutiert? Eine Zumutung, ein verteidigungspolitisches Solidaritätsverlangen, dem sich sozial und politisch verantwortlich denkende und handelnde Menschen meines Erachtens zurecht verweigern! – Wie müsste demgegenüber ein humanes und demokratisches Gemeinwesen beschaffen sein, dessen Bürger und Treuhänder (und also nicht lediglich Phantombesitzer) es guten Gewissens auch gegen innere und äußere Zerstörungskräfte verteidigen würden? Verteidigen freilich auf andere Weise als die heute militärisch übliche, mit „einer Megamaschine Krieg“, die Angreifer wie Verteidiger in den Abgrund, in einen alles zerstörenden Gewaltstrudel reißt. Ich mag mich jedenfalls nicht von dem Gedanken verabschieden, mag er auch gegenwärtig mehr denn je utopisch erscheinen, dass eine substantiell demokratische und wirklich solidarische Gesellschaft (und wahrscheinlich nur sie) auch die Entschlossenheit, die Energie und Widerstandskraft besäße, sich wirksam gegen Feinde zu verteidigen, ohne zu diesem Zweck eine unberechenbare Höllenmaschine in Bewegung zu setzen. Eine wirklich demokratische und solidarische Gesellschaft und ihre Lebensweise, so wage ich zu behaupten, würde selbst unter einer ihr militärisch aufgezwungenen autokratischen Herrschaft nicht dauerhaft in die Knie gehen. Was sagt es über die Verfasstheit unserer derzeitigen Demokratie und ihre neoliberal konditionierte Freiheit aus, wenn den Regierenden verteidigungspolitisch nichts besseres einfällt, als sich mit der Autokratenüberzeugung gemein zu machen, „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“ (Mao Tse Dong). Und sie ihre Bürger nötigen, sich diese Überzeugung ebenfalls zu eigen zu machen und ihr gemäß zu handeln.
Nicht leicht, argumentativ anzukommen gegen lange verfestigte Vorurteile, ich weiß. Die ganze Zeit, während ich an diesem ideologiekritischen Text gearbeitet habe, hat der öffentliche Leitmedienbetrieb seine maoistische Indoktrination („Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“) hochtourig fortgesetzt. Politische Inhalte und Reflexionen wie die meinigen sollen aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht werden, für die bewaffnete Landesverteidigung „dysfunktionaler Content“ und seine „Sprachcodes“ müssten „überschrieben“ werden. Explizit fragt die TV-Talkshow-Moderatorin Caren Miosga ihre zur „Koalition der Willigen“ zählenden Gäste, „wie dieser Code noch rascher überschrieben werden kann“. Wann hat man das letzte Mal derart unverblümt und schamlos eine journalistische Aufforderung an prominente Kolleginnen und Kollegen vernommen, sich an einer vom parlamentarisch politischen Mehrheitsblock gewünschten öffentlichen Gehirnwäsche zu beteiligen.
Zugeeignet Martin Theben.