Menu Close

Offener Brief zu Kosteneinsparungen der bayerischen Bezirke bei Eingliederungshilfen

Wappen Bundesland Bayern
Wappen Bayern
Foto: Gemeinfrei, public domain

München (kobinet) in den letzten Monaten ging es auch bei Menschen mit Behinderung und der Eingliederungshilfe in Bayern immer wieder um das Thema Kosteneinsparungen. Holger Kiesel, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Thomas Bannasch, Geschäftsführer der LAG Selbsthilfe Bayern und Oliver Strauß, Sprecher der LAG Persönliches Budget haben dazu einen offenen Brief an die Staatsregierung und Bezirketagspräsident Löffler verfasst, welcher von einer breiten Gemeinschaft der Verbände der Menschen mit Behinderung und ihren Interessensvertretungen unterstützt wird.

Link zum Offenen Brief

Lesermeinungen

Bitte beachten Sie unsere Regeln in der Netiquette, unsere Nutzungsbestimmungen und unsere Datenschutzhinweise.

Sie müssen angemeldet sein, um eine Lesermeinung verfassen zu können. Sie können sich mit einem bereits existierenden Disqus-, Facebook-, Google-, Twitter-, Microsoft- oder Youtube-Account schnell und einfach anmelden. Oder Sie registrieren sich bei uns, dazu können Sie folgende Anleitung lesen: Link
5 Lesermeinungen
Neueste
Älteste
Inline Feedbacks
Alle Lesermeinungen ansehen
Ralph Milewski
22.03.2025 14:52

Der offene Brief vom 20.03.2025 mit dem Titel „Gerade in schwierigen Zeiten: Nichts über uns ohne uns!“ benennt zentrale Schwachstellen in der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bayern. Es wird auf bestehende Missstände hingewiesen: Das Wunsch- und Wahlrecht wird in der Praxis oft missachtet, personenzentrierte Leistungen werden gedeckelt, das Persönliche Budget bleibt durch bürokratische Hürden schwer zugänglich und die Beteiligung der Betroffenen wird vielerorts eher als Formalie behandelt denn als gleichberechtigte Mitgestaltung. Diese Beobachtungen sind richtig. Doch der Brief bleibt auf halbem Weg stehen, weil er sich scheut, das grundlegende Problem klar zu benennen: Es ist nicht allein die Exekutive, es sind nicht nur die Verwaltungen und Bezirke, die Rechte von Menschen mit Behinderung systematisch beschneiden – es ist das Versagen der dritten Gewalt, das diesen Zustand dauerhaft legitimiert und stabilisiert.

Die Judikative ist im Gewaltenteilungssystem des Rechtsstaates dazu da, Exekutive und Legislative zu kontrollieren. In der Realität, insbesondere im Bereich des Sozialrechts und der Teilhabeleistungen, versagt sie jedoch regelmäßig darin, diese Kontrollfunktion wahrzunehmen. Stattdessen bestätigen Sozialgerichte in Bayern immer wieder Verwaltungspraxis, selbst dann, wenn diese offensichtlich gegen die UN-BRK oder gegen das Bundesteilhabegesetz verstößt. Die Gerichte wägen Rechte wie das Wunsch- und Wahlrecht nach § 8 SGB IX regelmäßig gegen „wirtschaftliche Interessen“ der Kostenträger ab. Damit wird das Menschenrecht auf Selbstbestimmung, das durch Artikel 19 der UN-BRK und durch nationales Recht garantiert sein sollte, faktisch relativiert und entwertet.

Wenn ein Menschenrecht von der Haushaltslage abhängt, handelt es sich nicht mehr um ein Recht, sondern um eine freiwillige Leistung – gewährt, wenn es politisch oder finanziell opportun erscheint, verweigert, wenn es unbequem wird. Diese Praxis ist in Bayern kein Einzelfall, sondern systematisch angelegt. Die UN-BRK ist in Deutschland bisher nur einfaches Bundesrecht. Sie wird von der Justiz deshalb nicht als höherrangiges Recht angewandt, sondern nachrangig gegenüber nationalen Vorschriften, die „wirtschaftliche Vertretbarkeit“ und „Wirtschaftlichkeitsgebote“ beinhalten. Das öffnet Tür und Tor für Interpretationen, die den Kern der Konvention aushöhlen.

Besonders deutlich wird dies am Umgang mit dem Persönlichen Budget im Arbeitgebermodell. Dieses Instrument, das auf maximale Selbstbestimmung abzielt, wird nicht als Regellösung gefördert, sondern als Ausnahme behandelt, deren Umsetzung mit willkürlichen Deckelungen, Stundenkontingenten und restriktiven Auslegungen behindert wird. Menschen mit Behinderung, die ihr Recht auf Selbstbestimmung im Rahmen dieses Modells durchsetzen wollen, müssen sich in langwierige, zermürbende Verfahren begeben, deren Ausgang oft davon abhängt, wie viel Durchhaltevermögen sie besitzen – nicht davon, wie klar ihre Rechtsansprüche sind. Die Justiz schützt in diesen Verfahren nicht die Rechte der Antragsteller:innen, sondern bekräftigt häufig die Verwaltungspraxis der Bezirke, die auf Haushaltslogik und Systemwahrung ausgerichtet ist.

Solange die Gerichte das Wunsch- und Wahlrecht nur als „nachrangiges Ermessen“ interpretieren, bleibt das Versprechen der Inklusion ein leeres Versprechen. Die Gerichte wären die einzige Gewalt, die diesem systematischen Rechtsbruch wirksam entgegentreten könnte. Stattdessen stützen sie durch ihre Rechtsprechung die Simulation von Inklusion: ein System, in dem es gute Gesetzestexte gibt, aber keine strukturelle Durchsetzung.

Der offene Brief fordert einen Dialog. Doch ein Dialog kann nur dann zu Ergebnissen führen, wenn es eine Balance der Macht gibt. Diese Balance fehlt, wenn die Betroffenen ihre Rechte nicht durchsetzen können, weil die Justiz ihrer Schutzfunktion nicht nachkommt. Teilhabe bedeutet nicht, in einen Dialog eingeladen zu werden, sondern an den Entscheidungsprozessen selbst mitzuwirken. Genau das ist in Bayern nicht gegeben. Menschen mit Behinderung werden nach wie vor verwaltet, nicht gleichberechtigt eingebunden.

Die eigentliche Frage lautet: Warum duldet die Justiz, dass Menschenrechte unter Haushaltsvorbehalt gestellt werden? Warum gibt es keine Urteile, die eindeutig feststellen, dass die UN-BRK in ihrer menschenrechtlichen Substanz über den Wirtschaftlichkeitsgeboten steht? Warum scheitern so viele Klagen, obwohl die Rechtslage auf dem Papier eindeutig ist?

Der offene Brief weist zu Recht auf die Gefährdung mühsam erzielter Fortschritte hin. Doch er bleibt zu zahm. Es genügt nicht, immer wieder auf die Gesprächsbereitschaft der Politik oder Verwaltung zu hoffen. Es ist an der Zeit, die dritte Gewalt in die Verantwortung zu nehmen. Ein Rechtsstaat, dessen Gerichte Rechte nur dann anerkennen, wenn es dem System nicht schadet, ist kein funktionierender Rechtsstaat. Ohne eine unabhängige Judikative, die Exekutive und Verwaltung klare Grenzen setzt, bleibt das gesamte System der Teilhabe eine Illusion.

Der Ruf nach mehr Beteiligung ist richtig. Aber noch richtiger wäre es, die uneingeschränkte Geltung der Rechte konsequent einzufordern – gegenüber Politik, Verwaltung und insbesondere gegenüber der Justiz.

Klaus K
Antwort auf  Ralph Milewski
24.03.2025 11:14

Wenn die Gerichte in Bayern sich so verhalten wie dargestellt, dann würde mich interessieren, in wie weit die nächsten Instanzen reagiert haben.

Ich nenne dabei ein Beispiel: Würde ein Urteil gegen die UN-BRK verstoßen, dann wäre das in der nächsten Gerichtsinstanz zu klären. Sollte auch diese die UN-BRK nicht akzeptieren, bleibt immer noch das Bundesverfassungsgericht und in der nächsten Instanz der EU-GH.

Ich weiß, lange Wege, aber anders ist eine Rechtssicherheit gegenüber eines Rechtstaats, der scheinbar das Recht anders interpretiert als betroffene, nicht zu erlangen.

Am Ende gilt es nämlich den Beklagten, dass wäre bei diesen Vorwürfen die ausführende Gewalt, auch seine „Schuld“ nachzuweisen und zu belegen. Leider gibt es aber in der Interpretation, ab wann gegen bestimmte Regelungen verstoßen wird, immer wieder abweichende Rechtsauffassungen. Die UN-BRK ist dem eines Bundesgesetzes gleichgestellt. Interessant wäre daher, sie die Reaktionen und Begründungen der Gerichte aussehen, die in den dargestellten Fällen die UN-BRK als nicht verletzt ansehen.

Gibt es ggf. die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme und näherem Austausch?
Um welche Aktenzeichen handelt es sich?

Ralph Milewski
Antwort auf  Klaus K
24.03.2025 17:41

Danke für Ihren Beitrag, Klaus.

Sie beschreiben den klassischen Rechtsweg korrekt: In Deutschland besteht formal die Möglichkeit, bis zum Bundesverfassungsgericht oder zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen. Genau das versuchen viele Betroffene auch – sofern sie die Kraft dazu haben. Ein Blick in die Praxis zeigt jedoch, warum dieser Weg selten zu echter Teilhabe oder Rechtssicherheit führt.

Gerade im Bereich der Eingliederungshilfe oder des Persönlichen Budgets ziehen sich Verfahren häufig über mehrere Jahre. Eine Verfassungsbeschwerde erfordert zusätzliche Zeit, wenn sie überhaupt zur Entscheidung angenommen wird. Für Menschen, die auf diese Leistungen angewiesen sind, ist diese Dauer existenziell bedrohlich. Ein Recht, das erst weit in der Zukunft durchgesetzt werden kann, bleibt im Bereich existenzieller Teilhabeleistungen faktisch wertlos.

Hinzu kommt die systemische Zermürbung: Die Verfahren sind psychisch, finanziell und zeitlich so belastend, dass viele Betroffene aufgeben, bevor sie überhaupt eine Entscheidung in höherer Instanz erreichen. Diese Erschöpfung ist einkalkuliert. Verwaltungen wissen, dass sich viele Menschen auf langwierige Prozesse nicht einlassen können. Recht wird so zu einer Frage von Ressourcen – und das ist kein Rechtsstaat mehr, sondern die Verwaltung von Ansprüchen nach Haushaltslage.

Ihre Annahme, dass Gerichte die UN-BRK nur als einfaches Bundesrecht behandeln, trifft formal zu, blendet aber Entscheidendes aus. Die Konvention begründet menschenrechtliche Schutzpflichten. Deutsche Gerichte wenden sie jedoch nicht vorrangig an, sondern relativieren sie regelmäßig zugunsten von Wirtschaftlichkeitsgeboten. So wird der menschenrechtliche Anspruch auf Selbstbestimmung entwertet – nicht durch rechtliche Unsicherheiten, sondern durch systematisches Versagen, Menschenrechte effektiv zu schützen.

Eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, die das Wunsch- und Wahlrecht nach § 8 SGB IX oder das Arbeitgebermodell des Persönlichen Budgets konsequent stärkt, fehlt bis heute. Das hat zur Folge, dass Rechte in der Praxis kaum durchgesetzt werden, obwohl sie auf dem Papier bestehen. Menschenrechte werden so nicht als uneingeschränkt garantiert behandelt, sondern als „Ermessensspielräume“ unter Haushaltsvorbehalt gestellt.

Der Hinweis auf den Instanzenzug mag juristisch korrekt sein, ändert aber nichts am Grundproblem: Ein Menschenrecht, das man sich erst durch langwierige Verfahren erkämpfen muss, ist kein Recht – es ist ein Privileg für diejenigen, die den langen Atem und die nötigen Mittel haben, es durchzusetzen.

Klaus, wenn das, was ich beschreibe, für Sie nicht nachvollziehbar oder stimmig ist, steht es Ihnen natürlich frei, meine Darstellung als persönliche Meinung zu sehen. Diese Möglichkeit hat jeder – auch das ist Teil einer offenen Debatte. Aber es wäre ein Missverständnis, zu glauben, dass die systemischen Probleme, die ich anspreche, sich damit erledigt hätten.

Meine Analyse basiert auf strukturellen Mustern, die viele Betroffene immer wieder erleben – unabhängig von individuellen Verfahren oder Aktenzeichen. Dass jemand diese Realität nicht teilt oder sie anders bewertet, ist legitim. Doch das ändert nichts daran, dass die systemische Verweigerung von Rechten im Bereich der Eingliederungshilfe und des Persönlichen Budgets existiert.

Ich beschreibe hier keine Einzelfälle, sondern strukturelle Fehlentwicklungen. Wer das als Meinung abtun möchte, kann das tun – das ändert nichts an der Realität, auf die ich hinweise.

Klaus K
Antwort auf  Ralph Milewski
27.03.2025 13:09

Vielen Dank für die ausführliche Rückmeldung, der ich inhaltlich nur zustimmen kann.

Meine Frage bezieht sich eher auf eine noch komplexere Thematik. Daher auch die Nachfrage nach ggf. Aktenzeichen zu entsprechenden Klagen.

Insbesondere interessieren mich die Klageschriften, denn (das ist nur eine „gefühlte“ Einschätzung) ich vermute, dass bei Klagen oft das Thema Menschenrechte nicht mit eingebracht wird.

Gerade § 8 SGB IX zeigt doch im Absatz 1 eine klare Vorgabe wie zu verfahren ist. Dieser nicht nachzukommen ist, so meine Vermutung, dann auch Bestandteil der Klageschrift. Wenn ja, wäre es interessant, wie Gerichte diesen Absatz bewerten und ggf. „aussetzen“. Letztendlich sollte der § 8 SGB IX das selbstbestimmte Leben sicherstellen, doch wie wird genau dieses von den Gerichten bewertet und wie begründen Gerichte, auch unter der Berücksichtigung der UN-BRK, diesen Paragraphen? – Eine Frage die ich gerne näher untersuchen würde um dann daraus auch mediale Öffentlichkeit erzielen zu können.

Hubertus Thomasius
Antwort auf  Klaus K
27.03.2025 14:41

Hier möchte ich auch auf ForseA verweisen. Gerhard Bartz sammelt Urteile schon seid mehreren Jahren: https://www.forsea.de/content-126-liste_interessanter_urteile.html .
Beste Grüße von kobinet Hubertus Thomasius