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Koalitionsverhandlungen: UN-Behindertenrechtskonvention muss Richtschnur sein

Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul
Foto: Irina Tischer

Berlin (kobinet) Wenn Vertreter*innen verschiedender Arbeitsgruppen zwischen CDU, CSU und SPD in diesen Tagen in Berlin den Koalitionsvertrag verhandeln, dann geht es in Sachen Behindertenpolitik entscheidend darum, ob die Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention, die mit der Ratifizierung von 2009 geltendes Recht in Deutschland sind, die Richtschnur für die Ziele und Formulierungen im Koalitionsvertrag sind oder ob sich die Aussonderungslobby von Förderschul-, Wohneinrichtungs- und Werkstattbetreibern sowie Barrierenbeharrer wieder einmal für den Erhalt ihrer Systeme und Strukturen gegen die Förderung der Selbstbestimmung, Barrierefreiheit und Inklusion durchsetzen. So bringt es kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem Kommentar zu den laufenden Verhandlungen für den Koalitionsvertrag der zukünftigen Bundesregierung auf den Punkt.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Das Wort „Inklusion“ führen mittlerweile fast alle im Munde, nur leider häufig nicht mit der Bedeutung und Überzeugung, wofür die Behindertenbewegung streitet und wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorgibt. Inklusion ist dabei ein guter Begriff, die Behindertenbewegung kämpft immer noch und bisher leider vergeblich dafür, dass die deutsche Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention endlich durch die Verwendung des Begriffs „Inklusion“ statt wie bisher „Integration“ angepasst wird. Und was läge näher, das englische Wort „inclusion“ mit „Inklusion“ statt mit „Integration“ zu übersetzen, bzw. was hat die Verantwortlichen dazu veranlasst, dies anders zu übersetzen. Und warum geht in Österreich das, was hier nicht möglich zu sein scheint, wo die Übersetzung der Konvention längst angepasst wurde? Wie bei vielem liegen dabei klare Interessen zu Grunde, denn es gibt Menschen, die wollen Inklusion und Menschen, die wollen es nicht oder nicht wirklich, vielleicht auch nur ein ganz klein bisschen. Und diese Gegensätze dürften auch bei den derzeitigen Koalitionsverhandlungen aufeinander treffen. Leider ist dabei die Lobby derjenigen, die es mit einer echten Inklusion nicht so ernst nehmen, bzw. vom derzeitigen Aussonderungssystem gut leben, um einiges stärker als die Lobby der Selbstvertretung behinderter Menschen und denjenigen, die für echte Inklusion sowie für echte Selbstbestimmung und Teilhabe eintreten. Und dann gibt es noch die handfesten Interessen, Geld zu sparen und bestehende Rechte behinderter Menschen für ein selbstbestimmtes Leben einzuschränken.

Denn bei allem Gerede, das in der Behindertenarbeit und -politik zum Teil inflationär um sich gegriffen hat und weiter greift, geht es schlichtweg um eindeutige Interessen der verschiedenen Akteur*innen. Vorne herum wird schön getan, nette kleine Initiativen durchgeführt, Preise ausgeschrieben, sich im Lichte der Politiker*innen gesonnt und diese lassen sich gerne bescheinen. Im Kern geht es aber meist darum, die Förderschule, die Wohneinrichtung oder die Werkstatt zu erhalten und am besten sogar noch auszubauen, sie „schöner“ und größer zu machen. Mehr Einfluss zu bekommen, noch mehr Arbeitsplätze in den Aussonderungssystemen zu binden. Behinderte Menschen, die sich unter dem Dach dieser Aussonderungsmaschinerie nicht (mehr) wohlfühlen, die in eine reguläre Schule gehen und dort die nötige Unterstützung bekommen wollen, die in einer normalen Wohnung mit Assistenz leben oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, statt in einer Werkstatt mit durchschnittlicher Entlohnung von 226 Euro pro Monat, arbeiten wollen, die müssen sich mühsam abstrampeln. Sie sind darauf angewiesen, dass ihnen ein Projektchen hilft, dass sie das Glück haben, engagierte Leute zu treffen, die echte Inklusion unterstützen. Aber das Aussonderungssystem läuft weiterhin munter weiter und alle sind damit beschäftigt, dieses mit weiteren Milliarden anzufüttern, als gezielt Alternativen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zu schaffen. Und selbst beim Thema Barrierefreiheit, für das eigentlich alle sein müssten, nur diejenigen halt nicht, die eine Barriere abbauen müssten, ist die Entwicklung in Deutschland eine Schnecke. Würde jedes Gremientreffen, jede Äußerung dazu, zum Abbau einer Barriere führen, würde die Welt anders ausschen.

All diese Entwicklungen, Machtverhältnisse und Voraussetzungen treffen nun auch bei den Koalitionsverhandlungen aufeinander. Die LIGA Selbstvertretung hat klare Vorschläge für einen Koalitionsvertrag im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gemacht. Der Deutsche Behindertenrat hat ein umfassendes Papier zu den Bundestagswahlen und den Forderungen der Verbände entwickelt und viele andere mehr oder weniger gute Papiere geistern durch die Republik. Ob und welche die Verhandelnden wirklich erreichen, mit wem diese vorrangig sprechen, für was sie bei den Verhandlungen eintreten, das kann man sich ausmalen. Bei den Selbstvertretungsorganisationen gehen jedenfalls nicht viele Anrufe ein, bzw. schweigt das Telefon meist bedenklich still. Andere, die mehr Geld, mehr Verankerung in der Politik, eine ausgebaute Lobby haben, die mit ihrem Verständnis zum Thema Behinderung in der meist von Nichtbehinderten dominierten politischen Kreisen auf offene Ohren und viel Verständis stoßen, prägen meist die Musik, die gespielt wird. Und Verbandelungen von Politik und Aussonderungseinrichtungen gibt es noch und nöcher.

So darf man gespannt sein, was im nächsten Koalitionsvertrag zum Thema Behinderung, Inklusion, Barrierefreiheit etc stehen wird. Dabei wird man sehr gut unterscheiden müssen zwischen Platitüden, die man lyrisch reinschreibt und dem, was wirklich konkret getan werden soll. Das „Inklusion Ja“, gefolgt von einem „Aber“ durch das schnell mal Förderschulen inklusiv genannt werden, Wohneinrichtungen inklusiv ausgerichtet sein sollen und Werkstätten anscheinend Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes sind, und die alle ja so wichtige Arbeit leisten, blendet uns schon seit Jahrzehnten. Das soll behinderte Menschen und ihre Verbände aber nicht davon abhalten, diesen anhaltenden Streit und Kampf für Selbstbestimmung, echte Inklusion und echte Teilhabe weiterzuführen. Denn im Geflecht der verschiedenen Interessen wollen und werden wir nicht einfach klein beigeben, so schwer das ist.

Link zu den Formulierungsvorschlägen der LIGA Selbstvertretung für den Koalitionsvertrag

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Uwe Heineker
19.03.2025 10:24

Aufgrund eigener Erfahrung und Beobachtung sage ich voraus, dass bei den Parteien, die die nächste Regierungskoalition bilden wollen, keine echten demokratischen Fortschritte in Sachen Inklusion zu erwarten sind. Dafür ist deren Politik seit Jahrzehnten Beweis genug …