
Foto: Michael Gerr
Kassel (kobinet) Nach der Bundestagswahl deuten das Wahlergebnis und die politische Großwetterlage eindeutig auf eine Koalition aus CDU/CSU und SPD hin. Nicht dass die Behindertenbewegung diese Konstellation aus insgesamt 12 Jahren großer Koalitions seit 2005 schon kennt, doch stehen dieses Mal die Vorzeichen für eine fortschrittliche an den Menschenrechten orientierte Behindertenpolitik unter einem dunkleren Stern. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul macht in seinem Kommentar hierfür nicht nur der u.a. aus den USA wehende Wind gegen Diversität und Inklusion aus, der auch hierzulande auf furchtbaren Boden stößt, sondern auch die finanziellen Probleme, mit denen Deutschland nicht zuletzt aufgrund der wesentlich höheren Ausgaben für das Militär und die höhere Belastungen der Kommunen konfrontiert ist. Ein Blick ins Wahlprogramm der CDU/CSU lässt zudem eine Rolle rückwärts in der Behindertenpolitik erahnen.
Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul
Die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 wurde von vielen behinderten Menschen und ihren Verbänden mit großer Sorge erwartet – und dies zurecht. Vor allem der enorme Rechtsruck in unserer Gesellschaft machte und macht Angst. Am Wahlabend hat sich leider auch die enorme Stärkung der AfD bewahrheitet. Bewahrheitet hat sich nicht, dass die CDU/CSU ein Ergebnis weit im Bereich der 30er Prozente erreichen würde. Mit 28,5 Prozent hat diese zwar einige Prozentpunkt gegenüber der letzten Bundestagswahl zugelegt, blieb aber mit ihrem zweitschlechtesten Ergebnis in der Geschichte der Partei weit unter den lautstarken Erwartungen von Friedrich Merz zurück. Die Union konnte nicht einmal die hohen Verluste der FDP als Stimmenzugewinne aufsaugen. Der enorme Verlust der SPD mit ihrem schlechtesten Ergebnis in der Geschichte der Partei mit 16,4 Prozent wiegt demgegenüber schwer, auch wenn die Umfragen ein solches Ergebnis vorausgesagt hatten. Dass die FDP den Einzug in den Bundestag verpasst hat, das dürfte für viele behindertenpolitisch Engagierte, die die Blockade der FDP bei vielen behindertenpolitischen Themen mit enormem Unmut verfolgen mussten, Befriedigung auslösen. Die geschwächten Grünen und die erstarkte LINKE bietet nun ein Fundament für eine Opposition, die das Feld nicht nur der AfD überlassen werden, wenn es darum geht, die zukünftige Regierung zu kritisieren und herauszufordern.
So könnte man also trotz der bedrohlichen Stärkung der AfD im großen und ganzen Durchatmen, frei nach dem Motto, noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Auch wenn dieses Sprichwort bei der Betrachtung des blauen Ostens auf der Karte der Erststimmenverteilung äusserst bedrohlich und ernüchternd ist. Und nicht nur im Osten wurde kräftig AfD gewählt. Diese Wahlergebnisse und zu erwartenden Konstellationen im Bundestag sind nun also bis zur nächsten Bundestagswahl Fakt.
Fakt ist aber auch, dass nun neue Verhältnisse im Land herrschen und dass diejenigen, die die zukünftige Regierungskoalition stellen, den Ton angeben werden und die Politik maßgeblich gestalten. Und dies auch in der Behindertenpolitik, wo es darum geht, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention konsequent voranzutreiben, die Teilhabe behinderter Menschen entscheidend zu verbessern und leider auch Verschlechterungen zu verhindern. Dies hat uns 2023 bereits der Ausschuss der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei der Staatenprüfung Deutschlands ins Stammbuch geschrieben. Wie viel solche internationalen Übereinkommen und menschenrechtlichen Grundsätze im Zeitalter der zweiten Amtsperiode von Donald Trump wert sind, das muss nun die neue Bundesregierung beweisen. Fügen wir uns der Trump/Musk’schen Vielfaltsfeindlichkeit, die auch von der AfD unterstützt wird, oder bauen wir hiergegen eine Mauer für die Inklusion, Vielfalt und Nichtdiskriminierung auf.
Schaut man sich die Wahlprogramme der zukünftig voraussichtlich regierenden Parteien von CDU/CSU und SPD genauer an, dann stehen sich hier zwei verschiedene Philosophien gegenüber. Die SPD hat eine ganze Reihe der Vorhaben, die eigentlich in der Ampelkoalition umgesetzt werden sollten und nach wie vor gut und richtig sind, in ihr Regierungsprogramm aufgenommen. Dem steht ein Wahlprogramm der CDU/CSU gegenüber, das von Ja und Aber geprägt ist. Inklusive Bildung aufbauen, aber Förderschulen erhalten und stärken. Inklusion auf dem Arbeitsmarkt ausbauen, aber Werkstätten für behinderte Menschen erhalten und stärken. Wie sich zwischen diesen Polen eine Politik entwickeln lässt, die die Inklusion, die Selbstbestimmung und Nichtdiskriminierung in den Mittelpunkt einer zukünftigen Regierung stellt, darauf darf man gespannt sein. Die wöchentlichen Grüße aus München mit Jubelmeldungen über weitere Förderungen aus dem bayerischen Sozialministerium für Werkstätten für behinderte Menschen und eher traditionelle Wohnformen lassen das Schlimmste befürchten. Spätestens bei der Frage, ob private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten nun endlich zur Barrierefreiheit bzw. zu angemessenen Vorkehrungen verpflichtet werden, wird es zum Schwur kommen, wie ernst es die neue Regierung mit der Barrierefreiheit meint.
Für viele behinderte Menschen und ihre Verbände ist nach dem Scheitern der Ampelkoalition mit einem ursprünglich sehr guten Koalitionsvertrag eines klar: Großes Geschwätz, altbackenes verweisen auf die Barrieren in den Köpfen oder Wischi-Waschi-Regelungen ziehen nicht mehr. Fast 16 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention zählt nun, was konkret für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention getan wird und wie dadurch die Situation behinderter Menschen ernsthaft und zielstrebig verbessert wird. Lassen wir uns hier nicht mehr länger durch Sonntagsreden blenden. Das Engagement von behinderten Menschen und ihren Verbänden frei nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“ und im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ist zukünfitg also leider nötiger denn je.
Diese „Rolle Rückwärts“ wird vermutlich eine „Rolle des Stillstands“ …..
Was es jetzt braucht ist kein Aktivismus aus Forderungen, sondern aktives Mitwirken und gestalten, vielleicht auch etwas Mut, über eine Forderung hinaus zu gehen.
Special Olympics Word Games 2023 in Berlin, waren ein Brennglas dessen, was „Inklusion“ im öffentlichen Sinne bedeutet, während gleichzeitig hinter den Kulissen die Inklusion zur Exklusion wurde.
Vielleicht bekommen wir gemeinsam etwas hin, was über das Fordern hinaus geht, denn wie man Forderungen nach Inklusion erfolgreich umgesetzt bekommt, das haben wir 2008/2009 in Hamburg beweisen können.