Menu Close

Das Doppelspaltexperiment und Inklusion: Eine unerwartete Parallele

Unscharfe Personen am Strand durch ein Loch einer Installation fotorafiert, schwarz-weiß Fotografie
Paradoxer Idealzustand von Inklusion
Foto: Ralph Milewski

Fladungen (kobinet)

In der Quantenphysik gibt es ein Experiment, das als eines der fundamentalen und zugleich faszinierendsten gilt: das Doppelspaltexperiment. Es zeigt auf, wie sich die Realität je nach Beobachtung verändert. Doch warum erinnert uns dieses Experiment an das Thema Inklusion? Was verbindet die Beobachtungen im Doppelspalt mit der Art und Weise, wie wir über Inklusion nachdenken und sprechen?

Das Doppelspaltexperiment stellt ein tiefgreifendes Paradox dar. In seiner einfachsten Form wird ein Elektronenstrahl auf eine Wand mit zwei engen Spalten gerichtet. Ohne Beobachtung verhält sich der Elektronenstrahl wie eine Welle, die beide Spalte gleichzeitig durchquert, was zu einem Interferenzmuster auf der dahinterstehenden Wand führt. Sobald jedoch ein Beobachter die Elektronen beobachtet, wird ihr Verhalten verändert: Sie verhalten sich nun wie Teilchen und gehen nur durch einen der beiden Spalte, was das Interferenzmuster zerstört.



Warum erinnert uns dieses Experiment an Inklusion?

Die Störung der Realität

Das Doppelspaltexperiment zeigt, wie die Beobachtung den Zustand der Elektronen verändert. Was zunächst eine fließende, wellenartige Realität war, wird durch das Eingreifen des Beobachters in eine festgelegte und begrenzte Realität umgewandelt. In ähnlicher Weise verändert das Hinterfragen und Beobachten von Inklusion die Wahrnehmung dessen, was Inklusion eigentlich bedeutet. Sobald wir beginnen, Inklusion zu beobachten und kritisch zu hinterfragen, stören wir den „fließenden Zustand“ der Integration und Gleichberechtigung, die sie eigentlich verkörpern sollte.

Inklusion ist in vielen Kontexten ein Begriff, der für Vielfalt und Gleichberechtigung steht, der jedoch durch die Art und Weise, wie er genutzt wird, immer wieder in Sonderprojekte oder isolierte Maßnahmen zerfällt. So wie die Beobachtung im Experiment die Elektronen in eine feste Form zwingt, führt das ständige Hinterfragen von Inklusion dazu, dass sie nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet wird, sondern als isolierte Maßnahme für bestimmte Gruppen – beispielsweise Menschen mit Behinderungen.

Beobachtung und Wahrnehmung von Unterschieden

Ein weiterer wichtiger Punkt im Doppelspaltexperiment ist, dass die Beobachtung nicht nur die Realität verändert, sondern auch dazu führt, dass die Unterschiede zwischen den Elektronen sichtbar werden: ohne Beobachtung als Welle, mit Beobachtung als Teilchen. Ebenso zeigt sich in der Gesellschaft, dass Inklusion – je mehr sie beobachtet und hinterfragt wird – dazu tendiert, die Unterschiede zwischen „normalen“ und „anderen“ Menschen hervorzuheben, anstatt sie zu überwinden. Die Unterscheidung zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen wird oft gerade durch die Bezeichnung „inklusiv“ betont, obwohl Inklusion eigentlich für das Gegenteil steht: für Integration ohne Trennung.

Inklusion sollte ein Konzept sein, das die Gleichwertigkeit aller Menschen vor der Trennung betont. Doch wie das Doppelspaltexperiment zeigt, führt die „Beobachtung“ und das ständige Eingreifen in die sozialen Strukturen dazu, dass die Menschen weiterhin in besondere Gruppen eingeteilt werden. Behindert und nicht-behindert bleiben dadurch ständig sichtbare Kategorien, die immer wieder als unterschiedlich wahrgenommen werden.

Der paradoxe Zustand von Inklusion

Ein weiteres faszinierendes Paradoxon des Doppelspaltexperiments ist der Wellen-Teilchen-Dualismus der Elektronen. Sie verhalten sich gleichzeitig wie Wellen und wie Teilchen, je nachdem, wie sie beobachtet werden. Dieser Dualismus kann auch als Metapher für den Zustand der Inklusion in der Gesellschaft verstanden werden: Wenn Inklusion nicht hinterfragt wird, erscheint sie als ein fließender Prozess, bei dem alle Menschen gleichwertig teilhaben können – eine Welle von Integration. Doch sobald wir darüber nachdenken oder eingreifen, wird sie zu einer Trennung und einem Teilchen von besonderen Programmen oder Maßnahmen, die nur bestimmte Menschen betreffen.

Inklusion, die als fließender Prozess ohne ständige Beobachtung existiert, wird durch den ständigen Eingriff und das Hinterfragen des Begriffs so fragmentiert und spezialisiert, dass sie die Trennung und Unterschiede zwischen den Menschen nur noch mehr betont. Diejenigen, die als „anders“ gelten, werden weiterhin als besondere Gruppen behandelt, was die eigentliche Zielsetzung von Inklusion – die Überwindung von Unterschieden – ins Wanken bringt.

Die Konsequenzen: Unbewusste Exklusion

Das ständige Beobachten von Inklusion führt dazu, dass wir uns immer mehr auf die Abgrenzung konzentrieren, anstatt die Integration von allen Menschen als selbstverständlich zu betrachten. Der Begriff „inklusiv“ wird so zu einem Label, das Projekte als „extra“ für bestimmte Menschen kennzeichnet, und verstärkt die Exklusion, die er eigentlich verhindern soll. Das Paradoxon entsteht, weil wir durch das ständige Hinterfragen und Beobachten von Inklusion die Barrieren und Trennlinien eher noch mehr betonen.

Schlussfolgerung: Der ideale Zustand

Der ideale Zustand der Inklusion, ähnlich der „unbeobachteten“ Welle im Doppelspalt, ist ein Zustand, in dem die Integration und Teilnahme aller als selbstverständlich betrachtet wird. Inklusion sollte keine Sondermaßnahme sein, sondern eine ganzheitliche Realität, in der niemand aufgrund von Besonderheiten oder Unterschieden eine besondere Kennzeichnung oder Behandlung erfährt.

Doch wie im Doppelspalt-Experiment zeigt uns die Beobachtung von Inklusion, dass wir durch unsere kritische Auseinandersetzung oft den Zustand, den wir eigentlich fördern wollen, stören. Die wahre Herausforderung besteht darin, Inklusion nicht als Projekt oder Maßnahme zu begreifen, sondern als einen fortlaufenden, natürlichen Prozess, der in allen Bereichen der Gesellschaft umgesetzt wird – ohne dass wir ihn als etwas Besonderes kennzeichnen müssen.

In diesem Zustand würde Inklusion wie eine Welle fließen, die für alle Menschen zugänglich und selbstverständlich ist, ohne dass wir ständig darauf hinweisen müssten.