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Mentaler Immunschutz durch Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit

Hans-Willi Weis im Joga Schneidersitz
Der Buddha aus dem Hinterstädtchen meldet sich wieder zu Wort mit einem Lehrvortrag über spirituellen Immunschutz (Dosierung: eine Übung täglich)
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet) Weltweit ein zivilisatorischer Rückfall in mythisches Denken und konventionelle Stammesmoral. Mit dieser beunruhigenden Diagnose endete meine vorhergehende Kolumne. Bleibt die Frage, wie umgehen mit unserer Beunruhigung, den Ängsten, der Verzweiflung, möglicherweise Panik? Angesichts dessen, was da auf uns zukommt, den bevorstehenden Krisen und Katastrophen? Und sobald Verleugnen und Verdrängen nicht länger möglich ist. Worin bestünde ein mentaler Immunschutz, der den Geist und die Psyche bewahrt vor Erschöpfung und Lähmung, Flucht in infantile Rettungsfantasien, irrationale Schuldzuweisung und Feindbildprojektion, in pathologische und selbstzerstörerische Reaktionsweisen jedweder Art. – Beantwortbare Fragen? Ich denke schon und möchte meine Immunschutzfavoriten vorstellen, Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit.

„Wir zuerst“ und „unsere Erzählung der Maßstab aller Dinge“

Zuvor ein prüfender Blick auf die beunruhigende Diagnose. Was ist das zivilisatorisch Bedrohliche an konventioneller Stammesmoral und mythischem Denken? Das, wodurch die globale Krisen- und Katastrophentendenz nicht gestoppt, sondern beschleunigt wird. – Schematisch verkürzt bezeichnet „mythisches Denken“ den geschichtlichen und zivilisatorischen Vorläufer des rationalen Denkens, das mit Begriffen und Argumenten (Vernunftgründen) operiert und seine Aussagen und Urteile über die Wirklichkeit am Kriterium universell gültiger und nachprüfbarer Wahrheit orientiert. Mythisches Denken, das demgegenüber hauptsächlich mit Bildern und Erzählungen operiert – d.h. den Werdegang und das Schicksal eines partikularen (ethnischen oder nationalen) Kollektivs darstellenden Geschichten – , macht die gruppenbezogene Interessendienlichkeit und Vorteilhaftigkeit seiner Wirklichkeitsauslegung zum Maßstab aller Dinge. – „Wir zuerst“ (z.B. Trumps „America first“) bringt daher die Sozialmoral mythischen Denkens plausibel auf den Punkt. „Konventionelle Stammesmoral“, wie sie in einer Vielzahl unterschiedlicher (teilweise einander bekriegender) Ausprägungen auftritt, wurde zivilisationsgeschichtlich und bewußtseinsevolutionär abgelöst von der einen „postkonventionellen Moral“, die universalistische Standards von menschlicher Gleichheit und Prinzipien der Gerechtigkeit für verbindlich erklärt. Erleben wir nicht zur Zeit, wie die Menschheit allenthalben hinter diesen selbstgesetzten Humanitätsanspruch zurückfällt?

Wenn dies menschheitlich, bezüglich unserer Spezies als dem geforderten Handlungssubjekt, auf der Ebene des Geistes und der emotionalen Verfasstheit die Ausgangslage ist: Wie steht es dann um die Aussicht auf ein solidarisches Handeln zur globalen Krisenbewältigung (der Klimakrise an erster Stelle) sowie auf ein die Lasten gerecht verteilendes Katastrophenmanagement? Schlecht. Die ökonomisch Starken und die politisch Mächtigen unter den konkurrierenden National- und Gruppenegoismen werden rücksichtslos gemäß eigenem Vorteil handeln und bei den Schwachen und Ohnmächtigen wird die verzweifelte Handlungsmaxime „Rette sich wer kann“ Platz greifen. – Dies in aller Kürze die Konsequenzen der Einflusszunahme mythischen Denkens und konventioneller Stammesmoral, was die zu erwartenden und bereits beobachtbaren Reaktionen anlangt in Anbetracht historisch einzigartiger Krisen und Katastrophen. Konfrontiert mit der Wahrscheinlichkeit des „Scheiterns unserer Spezies“ nähern wir uns (analog zum klimatischen und ökologischen Geschehen) auch auf mentaler Ebene „psychologischen Kipppunkten“ (so der Philosoph, Kognitionswissenschaftler und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger: https://www.youtube.com/watch?v=WwqsHxlgs_A&t=2s).

Mentaler Immunschutz Spiritualität

Stellen wir uns realistischer Weise darauf ein, dass kumulative katastrophische Entwicklungen (ökologische, gesellschaftliche, politische) in naher Zukunft Menschen überall auf der Welt an den „Panikpunkt“ bringen (Thomas Metzinger): Was könnte ihnen dabei helfen in einer Situation, in der das für existentielle Bedrohungsmomente in ihnen evolutionär angelegte Überlebensprogramm von „Flucht oder Kampf“ keinen praktikablen Ausweg mehr darstellt, nicht den Kopf oder ihren Verstand zu verlieren? Sobald selbst „sich totstellen“ (was für behinderte Menschen, die weder flüchten noch kämpfen können, sich am ehesten anböte) keine Chance auf Überleben mehr verspricht, durchzudrehen und aufeinander loszugehen? Oder mythischem Reaktionsmuster folgend „Sündenböcke“ zu benennen und zu attackieren? Also nicht „verrückt“ oder „irre“ zu werden und Mitgefühl mit den anderen und auch mit sich zu empfinden. – Dies ermöglichen und dabei helfen, eine entsprechende Resilienz aufrecht zu erhalten, dies könnte eine Praxis oder Übung wacher und konzentrierter Selbstbeobachtung ohne wertendes Urteilen. Nicht erst in der sich dem Panikpunkt nähernden Stresssituation praktiziert (da könnte es zu spät sein), sondern früh genug über lange Zeit methodisch geübt, durch täglich regelmäßige Alltagsunterbrechung und Rückzug in meditative Abgeschiedenheit. Das allmähliche Zur-Ruhe-Kommen gedanklicher und emotionaler Turbulenzen und eines unentwegten Denkens lässt eine innere Stille und eine Klarheit oder Reinheit des Geistes erfahrbar werden, eine von Gier, Neid, Hass und Aggression freie Bewusstheit. Was schließlich ein völlig verändertes Selbst- und Weltverhältnis der Meditierenden zur Folge hat. Einsicht in einen Gewalt und Leiden verursachenden Begehrensautomatismus des menschlichen Ego und als dessen Kontrast die Erfahrung von Friede, beglückender Sinnfülle, der Unbewegtheit und offenen Weite des Geistes. Was wiederum nicht Weltabkehr und Ignoranz dem Tun und Leiden anderer gegenüber bedeutet, vielmehr mit Mitgefühl und Weltverantwortung einhergeht.

Erst recht in existenzbedrohlichen Krisenlagen und katastrophischer Zeit beweist und bewährt sich, was dran ist an diesem Versprechen radikaler Selbstveränderung durch meditative Praxis. Und damit, ob es etwas gibt, das den Namen „gelebte Spiritualität“ verdient. Die immun macht gegen die Regressionsversuchung, wie sie von mythischem Denken und partikularer Stammesmoral während des gegenwärtigen weltweiten Zusteuerns auf „Panikpunkte“ ausgeht. – Spiritualität, so wie ich den Begriff und das durch ihn Bezeichnete verstehe, bedeutet mithin eines nicht, womit man sie all zu oft verwechselt, ein Narkotikum oder Betäubungsmittel, das den Schmerz der Welt und die Trübsal der Wirklichkeit vergessen macht. Wie dies die ungezählten Spielarten der Esoterik versuchen (etwa mit positiv denkerischen Sprüchen wie „Das Universum hat dich im Leben an diesen Platz gestellt“, was mich sarkastisch zu kommentieren reizt, die einen in Krieg und Folterkammer, die anderen in den Konsumrausch und ein Nickerchen in der Hollywoodschaukel). Spiritualität unterscheidet sich auch von Religion, insofern diese aus Tröstungs- und Realitätsverleugnungsprogrammen besteht. Und nicht zuletzt setzt sich echte Spiritualität ab von missbräuchlicher Verwendung einzelner ihrer Praktiken zu Zwecken der Selbstoptimierung (Achtsamkeitstraining im Business-Coaching, „Mac Mindfulness“ in allen denkbaren Verpackungen).

Klingt ganz schön streng, muss das sein?

Jeden Tag eine halbe Stunde (oder besser eine volle Stunde) „Sitzen in Stille“, dabei „nicht denken, nur atmen“ praktizieren – ist ein solches Maß an Selbstdisziplin und Beharrlichkeit erforderlich? Meines Erachtens und mehr noch meiner Erfahrung nach, ja. Auf spirituellem Terrain scheint es besonders verführerisch, sich selber etwas vorzumachen, daher die notwendige Strenge, mein Beharren auf Authentizität und Aufrichtigkeit. Eine zumutbare Strenge, zumal in Anbetracht der nicht vergleichbaren Unerbittlichkeit dessen, was auf uns zukommt, womit sich Menschen an vielen Orten der Erde demnächst werden konfrontiert sehen. – Darum soll es mit den Kapiteln über zivilisatorischen Rückschritt und spirituellen Immunschutz für diesmal genügen, der Brocken will erst einmal verdaut sein. In ein paar Tagen geht es dann mit dem zweiten Kolumnenteil weiter, mit der Bedeutung von „intellektueller Redlichkeit“ für den mentalen Immunschutz in Zeiten wie diesen.

P.S. Noch eine Lese- und eine Hörempfehlung. Zum einen das Buch von meinem Wissenschaftspeer Thomas Metzinger, „Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und planetare Krise“ (München 2024, Tb). – Zum Hören mein Radioessay „Denken, Schweigen, Übung – eine Philosophie des Geringfügigen“ (2013 gesendet auf SWR Kultur) https://share.ard-zdf-box.de/s/ZqZJ6x5aJZPPgyP

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