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Rückblick auf die Sozialhilfereform von 1996 zu ambulanten Hilfen in §3a BSHG

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Berlin (kobinet) In seinem Bericht vom 12. Januar 2025 hat der kobinet-Historiker und Berliner Rechtsanwalt Dr. Martin Theben auf die Entwicklung der Pflegeversicherung vor 30 Jahren zurückgeblickt. Heute beschäftigt er sich mit der Neufassung bzw. Ergänzung des § 3a Bundessozialhilfegesetzes, die Mitte 1996 von der damaligen CDU/CSU-FDP-Regierung vorgenommen wurde und den Mehrkostenvorbehalt betraf. "Die Betroffenen erkannten sofort die Sprengkraft dieses Teils der Sozialhilfereform. Mussten sie doch nunmehr befürchten, dass sie unter Hinweis auf die unverhältnismäßigen Mehrkosten künftig damit rechnen müssten, auch gegen ihren Willen in Heime oder gleichartige Einrichtungen bzw. Anstalten verwiesen zu werden", schreibt Martin Theben dazu in seinem Bericht.

Die Sozialhilfereform 1996/97 und die Einführung des § 3a BSHG

Bericht von Dr. Martin Theben

Am 18. Juli 1995 trat der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) vor die Bundespressekonferenz, um das soeben im Bundeskabinett verabschiedete neueste Reformwerk der christlich/liberalen Bundesregierung vorzustellen. Der Minister befand sich erkennbar im Kampfmodus, musste er doch aufgrund der gefassten Beschlüsse mit erheblichem Widerstand rechnen. Konkret ging es um die Reform des Bundessozialhilfegesetzes. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sah unter anderem vor, die Regelsätze im Rahmen der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt neu zu fassen und ein sogenanntes „Lohnabstandsgebot“ anzufügen. Demnach musste ein prozentual festgelegter Abstand zwischen den Regelsätzen und den realen Nettolöhnen bestehen. Damit wollte der Gesetzgeber zum Ausdruck bringen, dass diejenigen, die einer geregelten Arbeit nachgingen immer mehr erhalten müssten, als jene, die auf staatliche Leistungen angewiesen seien. Ferner sah der Gesetzentwurf eine 25 %ige Kürzung des jeweiligen Regelsatzes vor, sofern ein Arbeitsloser eine ihm angebotene zumutbare Arbeit ablehnte. Der Minister begründete diese Regelung in seinen Ausführungen vor der Bundespressekonferenz unter anderem damit, es könne nicht sein, dass eine Reihe von Ausländern Arbeiten durchführen würden, die den bundesdeutschen Sozialhilfeempfängern offenbar nicht zumutbar erschienen. Einmalige Leistungen der Sozialhilfe sollten pauschaliert werden, was de facto eine Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip bedeutete. Das sollte in einer entsprechenden Verordnung geregelt werden. Allerdings sah der Gesetzentwurf auch (vermeintlich) Positives vor. So sollten die Entgelte in Werkstätten der Behinderten deutlich angehoben werden. Schließlich sollte auch der Status der in den Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderungen verbessert werden. Ihre behindertenpolitische Brisanz erhielt diese Sozialhilfereform jedoch erst durch eine gesetzliche Neuerung, die im Rahmen der parlamentarischen Ausschussberatungen in das Gesetz mit aufgenommen wurde.

Konkret ging es dabei um eine Neufassung bzw. Ergänzung des § 3a Bundessozialhilfegesetzes. Die Vorschrift lautete nunmehr: „§ 3a Vorrang der offenen Hilfe. Die erforderliche Hilfe ist soweit wie möglich außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen zu gewähren. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen eine stationäre Hilfe aus persönlichen, familiären oder örtlichen Umständen nicht zumutbar oder eine ambulante Hilfe nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist.“ Zur Begründung dieser Regelung wurde auf einen entsprechenden Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. August 1992 verwiesen, der durch diese Neufassung des Gesetzes lediglich bestätigt würde. Die Betroffenen hingegen erkannten sofort die Sprengkraft dieses Teils der Sozialhilfereform. Mussten sie doch nunmehr befürchten, dass sie unter Hinweis auf die unverhältnismäßigen Mehrkosten künftig damit rechnen müssten, auch gegen ihren Willen in Heime oder gleichartige Einrichtungen bzw. Anstalten verwiesen zu werden.

Die politischen Debatten zum § 3a BSHG

Dennoch versuchte die Politik hier diese Befürchtungen zu zerstreuen. So führte der CDU-Abgeordnete Ulf Fink, Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse und ehemaliger Berliner Senator für Gesundheit und Soziales während der Beratungen zur zweiten Lesung des Gesetzentwurfes im Deutschen Bundestag am 29. Februar 1996 zu der umstrittenen Neufassung aus: „Es hat viel Aufregung um § 3a gegeben. Wir sind vielleicht alle nicht ganz unschuldig an dieser Aufregung, die dabei verursacht worden ist, aber in Wirklichkeit brauchen die Behinderten überhaupt keine Sorgen zu haben. Denn es handelt sich nur um eine gesetzliche Klarstellung im Sinne dessen, was das Bundesverwaltungsgericht am 6. August 1992 beschlossen hat. Es braucht also kein Behinderter zu befürchten, in seinen Rechten geschmälert zu werden. Es ist nichts anderes als eine Klarstellung dessen, was bisher schon rechtens war.“

Hinsichtlich des durch die Neuregelung eingeführten Mehrkostenvorbehaltes wurde die sozialpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Gisela Babel dann allerdings schon deutlicher: „Schließlich noch eine Bemerkung zur Neuregelung des § 3a, also zur Sicherung des sogenannten Arbeitgebermodells. Anlässlich der Änderung des Pflegeversicherungsgesetzes gab es ja heftigen Wirbel. Ich glaube, dass das gefundene Ergebnis richtig ist. Es wird klargestellt, dass nur ausnahmsweise von dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ mit dem Kostenargument abgewichen werden darf, nämlich nur dann, wenn ein preiswerteres Angebot zur Verfügung steht und wenn personelle, familiäre und örtliche Umstände es zulassen, dem Behinderten zuzumuten, dass die Leistungen in diesem Bereich abgesenkt bzw. begrenzt werden können.“ Auf eine entsprechende Nachfrage der SPD-Abgeordneten Ulrike Mascher, zu dieser Zeit Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales und spätere Vorsitzende des VdK, die sich an der Formulierung „preiswert“ störte, ergänzte die Abgeordnete Gisela Babel: „Frau Mascher, erinnern Sie sich bitte: Als der Grundsatz „ambulant vor stationär“ formuliert worden ist, ist man davon ausgegangen, dass die ambulante Versorgung die preiswertere ist und die stationäre die teurere. Es hat sich erst im Zuge der Bewilligungen und der Rechtsprechung dazu ergeben, dass es ambulante Versorgungsformen in exorbitanter Höhe – 20.000,00 DM im Monat – gibt. So etwas kann einen Sozialhilfeträger natürlich in Bedrängnis bringen.“ In ihren weiteren Ausführungen wies die Abgeordnete Gisela Babel dann darauf hin, dass der Gesetzgeber hier die Aufgabe habe, entsprechende adäquate und sensible Abwägungen zwischen den Bedürfnissen des behinderten Menschen und „dem, was solidarisch zu leisten ist, zu finden.“ Dem widersprachen die Vertreter der Oppositionsfraktionen und griffen in ihren Beiträgen die Befürchtungen der Menschen mit Behinderungen auf.

Für die Bündnis Grünen argumentierte die Abgeordnete und spätere Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer: „Unsere gegenseitigen Interpretationen, was die Neuformulierung des § 3a BSHG anbelangen, gehen ja sehr weit auseinander. Wenn das nur eine Klarstellung ist, wie Sie sagen – wofür betreiben Sie dann diesen Aufwand? Die Sozialämter prüfen doch schon heute jeden Pfennig, den sie ausgeben. Sie tun ja gerade so, als würden die das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausschmeißen.“ An dieser Stelle verzeichnete das stenografische Protokoll einen Zwischenruf des CDU-Abgeordneten Heiner Geißler: „So ist es!“

Die Abgeordnete Andrea Fischer betonte dann im Laufe ihres Beitrages den zunehmenden Kostendruck der Sozialämter und verwies nochmals auf die Befürchtungen der Betroffenen auf Zwangseinweisungen. Schließlich fasste sie ihre Kritik an der Neuregelung wie folgt zusammen: „Hier geht es darum: Wie können Behinderte und nicht Behinderte zusammen leben? Emanzipation von Behinderten heißt Recht auf Wahl der Leistungen. Ich sage Ihnen: Wir leben wirklich in einer reichen Gesellschaft. Es ist für mich keine Standortfrage, es ist für mich eine grundlegende moralische Frage, dass man in einem so reichen Land wie unserem in der Lage sein muss, behinderten Menschen, die Unterstützung zu geben, die sie zu einer selbständigen Lebensführung brauchen.“

Die PDS-Abgeordnete Heidi Knake-Werner, spätere Sozialsenatorin in Berlin, resümierte in ihrem Beitrag hinsichtlich der Neuregelung des § 3a BSHG: „Ich erinnere nur an das unwürdige Gezerre im Gesundheitsausschuss darüber, wie man am Geschicktesten verpacken kann, dass mit dem neuen § 3a BSHG vom Prinzip „ambulant vor stationär“ Abstand genommen wird, wenn es zu teuer wird, und damit verschleiert, dass das Selbstbestimmungsrecht der behinderten und pflegebedürftigen Menschen über den Deister ergeht.“ Im Anschluss darin verteidigte der zuständige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer seinen Entwurf. Ohne direkt auf § 3a BSHG einzugehen, betonte er, dass die Ausgabensteigerung hinsichtlich der Hilfe in besonderen Lebenslagen und „hier insbesondere für Pflegebedürftige und Behinderte in Einrichtungen.“ Diese Ausgaben hätten sich seit 1989 jahresdurchschnittlich um 12 % massiv verstärkt. Dies alles sei jedoch kein Hinweis auf eine gestiegene Armut, sondern Zeuge vielmehr von der Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen.

Es blieb dann schließlich dem langjährigen saarländischen Justizminister Arno Walter während der abschließenden Beratungen des Gesetzentwurfes im Bundesrat am 5. Juli 1996 vorbehalten, die Befürchtungen der Betroffenen noch einmal deutlich und sicher auch in redlicher Absicht, zu entkräften. Der Minister führte in der Sitzung aus: „Die ambulante Hilfe entfällt nicht schon dann, wenn im Verhältnis zur stationären Hilfe erhebliche Mehrkosten entstehen, sondern wenn – kumulativ – die stationäre Hilfe unter angemessener Berücksichtigung der persönlichen, der familiären und der örtlichen Umstände auch zumutbar ist. Damit sind, zumindest teilweise, die Befürchtungen gegenstandslos – die insbesondere von den Behindertenverbände an uns herangetragen wurden -, dass Behinderte allein mit dem Kostenargument zukünftig immer in Heime abgedrängt werden sollen.“ Schließlich wies der Minister dann auch auf die Besitzstandsklausel für diejenigen hin, die nach dem Assistenten- oder Arbeitgebermodell aufgrund von Vereinbarungen mit den Kostenträgern Helfer selbst beschäftigen würden. Sie seien von der Regelung nicht betroffen. Neben der für einen Juristen sehr dankenswerten Auslegung, wonach die Zumutbarkeit eben neben (kumulativ!) den möglicherweise erheblichen Mehrkosten zu prüfen seien, sollte sich jedoch bald zeigen, vor welchen Schwierigkeiten jene Betroffenen stehen, die aus einer stationären in eine ambulante Hilfeform nach dem Assistentenmodell wechseln wollten. Zuvor lohnt jedoch ein näherer Blick darauf, wovon der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. August 1992, mit dem die Änderung des § 3a BSHG ja begründet wurde, tatsächlich ausging. Die FDP-Abgeordnete Gisela Babel hatte ja bereits in ihren Ausführungen während der zweiten Lesung des Gesetzentwurfes darauf verwiesen, dass zu diesem Zeitpunkt die ambulanten Ausgaben im Gegensatz zu stationären Aufwendungen als niedriger galten. Um all dies genauer bewerten zu können, muss jedoch die konkrete Gesetzeslage in den Blick genommen werden.

Die Entstehungsgeschichte und Wandelung des Grundsatzes „ ambulant vor stationär „

Der ursprüngliche § 3a wurde gemeinsam mit einer Neufassung des § 3a Abs. 2 des Bundessozialhilfegesetzes, ebenfalls aufgrund von Ergänzungen durch den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages in der zehnten Wahlperiode als Artikel 21 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 in das Bundessozialhilfegesetz eingefügt.

Die Neufassung des § 3 Abs. 2 lautete: „Wünschen des Hilfeempfängers, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, soll entsprochen werden, soweit sie angemessen sind. Wünschen des Hilfeempfängers, die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung zu erhalten, soll nur entsprochen werden, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalles erforderlich ist, weil andere Hilfen nicht möglich sind oder nicht ausreichend. Der Kläger der Sozialhilfe braucht Wünschen nicht zu entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. Ergänzend hierzu lautete § 3a BSHG Vorrang der offenen Hilfe. Der Träger der Sozialhilfe soll darauf hinwirken, dass die erforderliche Hilfe soweit wie möglich außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen gewährt werden kann.“

Betrachtet man beide Neuregelungen in einer Gesamtschau, stellt man zunächst fest, dass die ursprüngliche Fassung des § 3a allein den Vorrang der, wie es damals hieß, offenen Hilfe regelte. Der Mehrkostenvorbehalt fand sich dort konkret nicht, sondern wurde im Rahmen des allgemeinen Wahlrechtes bezogen auf alle Leistungsarten des Bundessozialhilfegesetzes in § 3 Abs. 2 verankert. Darüber hinaus ging die Neufassung des § 3 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetzes tatsächlich davon aus, dass Leistungen in Heimen oder anderen Einrichtungen eher teurer seien und insofern nur im Ausnahmefall zu gewähren seien. Tatsächlich bestanden zu dieser Zeit Leistungsformen nach dem Assistenz- bzw. Arbeitgebermodell noch nicht in einem Maße, wie zwölf Jahre später zum Zeitpunkt der Ergänzung des § 3a BSHG um den Mehrkostenvorbehalt. Nunmehr lass sich die Regelung ebenso, dass nicht der stationäre, sondern die ambulante Hilfeform die Ausnahme sei.

Soweit in den Plenardebatten des Bundestages und des Bundesrates zur Begründung der Neufassung des § 3 BSHG auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. August 1992 Bezug genommen wird, ist dies zumindest irreführend. Die dortigen Ausführungen basierten auf der alten Gesetzeslage in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1984. In jenem Beschluss vom 6. August 1992, Az. 5 B 97.91, ging es um eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Bayern. In der Sache finden sich unter Rz. 3 des Beschlusses auch Ausführungen zu den §§ 3 bzw. 3 a BSHG. Allerdings wird dort eine Abwägung ambulant vor stationär unter Berücksichtigung eines Mehrkostenvorbehaltes gar nicht vorgenommen. Die entsprechenden Darlegungen erschöpfen sich vielmehr allein darin, auf den Ermessensspielraum des jeweiligen Sozialhilfeträgers hinzuweisen, der diesem bei der Frage zukommt, ob dem Vorrang der offenen Hilfe gem. § 3 a BSHG stattgegeben wird oder nicht. Dies gelte insbesondere auch bei der Frage, ob ein Leistungsempfänger häusliche Pflege in der eigenen Wohnung oder außerhalb in einer Wohngemeinschaft oder gleichartigen Anstalt in Anspruch nimmt. Auf einen konkreten Mehrkostenvorbehalt, der vor diesem Hintergrund so im Gesetz ja eben auch nicht vorgesehen war, geht das Gericht gar nicht ein. Insofern taugte diese Entscheidung nicht unbedingt dazu, die Gesetzesänderung des § 3 a und die Hinzufügung des Mehrkostenvorbehaltes zum Vorrang der ambulanten Hilfe, wie es nunmehr hieß, zu legitimieren.

Deutlich wird dieses auch an einer weiteren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1993. In seinem Urteil vom 30. September 1993, Az. 5 C 51.91[1], führte das Gesetz zur alten Rechtslage unter Verweis auf die entsprechenden Gesetzesmaterialien zunächst aus, auch die Regelungen der §§ 3 Abs. 2 bzw. 3a BSHG in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 seien auf Vorschläge des Bundesrates zurückzuführen. Ziel sei es die zum damaligen Zeitpunkt erkennbare Tendenz zur kostenintensiven stationären Unterbringung zu begrenzen. Der Vorrang der offenen Hilfe sah also nach dieser Rechtsprechung vor, Heimunterbringungen möglichst zu vermeiden.

Nunmehr aber sollte der Trend umgekehrt werden. Durch die erhöhte Nachfrage ambulanter Versorgungsstrukturen und der stärkeren Inanspruchnahme des Arbeitgebermodells hatte sich scheinbar, so jedenfalls wurde es „propagiert“, die finanzielle Waagschale zu Lasten des ambulanten Vorranges geneigt. Daher erhielt dieser Vorrang nunmehr mit dem Mehrkostenvorbehalt einen Riegel vorgeschoben. Die Betroffenen wurden in den politischen Debatten unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. August 1992 beruhigt, obwohl, wie aufgezeigt, diese Entscheidung zu diesem Problem gar nichts aussagt.

Die Auswirkungen des § 3a BSHG auf die Betroffenen

Trotz aller Beschwichtigungsversuche der Politik formierte sich Widerstand. In Berlin gründete sich, auch aus Anlass der Pflegeversicherung, das Bündnis selbstbestimmt Leben, welches noch heute aktiv ist. In der Randschau 2/1996 berichtete Ursula Aurien von dem Versuch des Bündnisses, der zuständigen Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU) am 16. April 1996 eine Protestresolution zu überreichen. Doch sie wurden von der Polizei nicht vorgelassen. Der Text der Resolution forderte die Senatorin auf, im Bundesrat nicht für § 3a BSHG zu stimmen und wurde in der gleichen Ausgabe abgedruckt. Die Taz Berlin berichtete dann in ihrer Ausgabe vom 3. Dezember 1996 dem UNO-Welttag der Menschen mit Behinderungen von einem Gespräch bei der damaligen Staatsekretärin Verena Butalikakis (CDU), die zeitweilig auch die Funktion der Landesbehindertenbeauftragten übernommen hatte. An diesem Gespräch, dass nach Meinung der Staatsekretärin unter Ausschluss der Presse stattfinden sollte, nahm auch der Autor dieses Textes noch unter seinem Geburtsnamen Martin Eisermann teil. Dabei redete er sich so in Rage, dass er den Namen der Staatsekretärin ständig falsch aussprach und dafür hinterher von einem langjährigen Mitarbeiter der Verwaltung  – auch zu recht – väterlich gerügt wurde. Die Betroffenen brachten auch hier ihre Sorge zum Ausdruck, dass die Bezirksämter verstärkt zur Heimeinweisung drängen würden und forderten ein klarstellendes Rundschreiben der Verwaltung.

Doch die Bezirksämter in Berlin ließen ihren Ankündigungen Taten folgen. 1997 konnten die Leser*innen beispielsweise der Taz Berlin und der Berliner Zeitung den zunächst untauglichen Versuch Annemarie Stickels mitverfolgen, aus einem Heim am Rande der Stadt mit Unterstützung der Ambulanten Dienste e.V. in die eigenen vier Wände zu ziehen. Sowohl das Bezirksamt Spandau, als auch zuvor Reinickendorf lehnten die Kosten für die Assistenz unter Verweis auf § 3a BSHG ab. Was folgte war eine wahre Odyssee durch diverse Heime und Kleinstheime/WGs ein erfolgloses Eilrechtsverfahren und diverse Proteste von vielen Unterstützer*innen die befürchten mussten, ihnen würde es bald ähnlich ergehen. Höhepunkt der Protestkampagne war eine zweitägige Besetzung des Rathauses in Spandau in der Woche vor Pfingsten 1997. Die Besetzer*innen, einige mit Pflegebett und Beatmungsmaschine ließen sich vor den Amtsräumen des damaligen und vor knapp zehn Jahren verstorbenen Bezirksbürgermeisters Konrad Birkholz (CDU) nieder und betrieben quasi ein Protestcamp. Die Besetzer*innen erfuhren viel Solidarität von Bürgern, Politikern und anderen Behindertenorganisationen, darunter auch aufmunternde Solidaritätsbekundungen via Telefon von Ottmar Miles Paul, damals im Namen von ISL e.V. In einer ZDF-Reportage über Matthias Vernaldi wird auch über die Proteste in Spandau berichtet. Schließlich zog Annemarie Stickel in einen anderen Bezirk, der sich bereit fand, die Kosten zu tragen.

Die Zeit vergeht- der K(r)ampf geht weiter

Die Jahre gingen ins Land. Die UN-Behindertenrechtskonvention trat in Kraft. Aus § 3a BSHG wurde § 13 SGB XII und schließlich wurde 2017 mit dem Bundesteilhabegesetz § 104 SGB IX eingeführt. Diese Vorschrift sollte Artikel 19 UN-BRK Rechnung tragen, wonach Niemand gezwungen werden dürfe in besonderen Wohnformen, eine etwas euphemistische Umschreibung für Heim, zu leben. In der Tat wird dem selbstbestimmten Wohnen mit persönlicher Assistenz deutlicher als sonst der Vorrang eingeräumt, aber einen Mehrkostenvorbehalt gibt es eben auch in dieser Vorschrift. Einige Zeit nach in Krafttreten des BTHGs konnte man u.a. bei kobinet und in den sozialen Medien, aber auch beim SWR den bis dahin über dreijährigen Freiheitskampf des Markus Igel in Rheinland-Pfalz mitverfolgen. Auch er wollte mittels des Arbeitgeber*innenmodells außerhalb eines Heimes in eigener Wohnung leben. Doch die Behörden leisteten sukzessive immer weniger, stellten die Leistungen zeitweilig ganz ein und verwiesen ihn auf Pflegekräfte aus Osteuropa – quasi staatlich verordnetes Lohndumping. Es folgte hier ein wahrer Prozessmarathon unterstützt durch den renommierten Menschenrechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein, einem Aktivisten der ersten Stunde in Zeiten der Krüppelbewegung Anfang der 80ziger Jahre, der für seinen Mandanten zweimal sogar das Bundesverfassungsgericht bemühen musste, um die Fachgerichte in ihre Schranken zu weisen. Juristisch wurde Schritt für Schritt Boden gut gemacht. Überwältigend die politische Solidarität etwa durch Ability Watch, den Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel oder die seit Jahren sehr engagierte Bundestagsabgeordnete Corrina Rüffer (Bündnis 90/Die Grünen).

Aber das Grundproblem bleibt bestehen. Entgegen der UN-Behindertenrechtskonvention können staatliche Behörden die Lebensentwürfe von Menschen mit Behinderungen aus Kostengründen konterkarieren.

Von Menschen und Maurern – ein Schlusswort

Während der Besetzung des Rathauses Spandau stellte Roman Deserno, der in der DDR lange Jahre unter erniedrigenden Umständen in einem Pflegeheim „lebte“ die rhetorische Frage:

Warum sollen Menschen zusammen wohnen weil sie behindert sind, Maurer wohnen doch auch nicht mit Maurern zusammen…..

Berichte über Annemarie Stickel

Traum vom selbstbestimmten Leben | taz.de

Behinderte Frau geht vor Gericht

Filmbericht zur Besetzung des Rathaus Spandau

Totgesagte leben lieber – Das ertrotzte Glück des Matthias V. ab 18:43

Berichte über Markus Igel

Erste Einschätzung des Urteils zur Assistenz von Markus Igel | kobinet-nachrichten

[1] https://www.jurion.de/urteile/bverwg/1993-09-30/bverwg-5-c-4191/ Rz. 13

Lesermeinungen

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Ralph Milewski
19.01.2025 15:43

Die Gesetze wie das BSHG, BTHG, RISG und zuletzt das IPReG zeigen vor allem eines: ein Muster aus leeren Versprechungen und politischer Augenwischerei, das Menschen mit Behinderungen mehr schadet als nützt. Obwohl sie oft als Reformen oder Fortschritte verkauft werden, stehen dahinter meist Sparmaßnahmen und Einschränkungen, die die Lebensrealität der Betroffenen ignorieren. Begriffe wie „Stärkung“, „Selbstbestimmung“ oder „Teilhabe“ klingen zwar gut, entpuppen sich aber bei genauerem Hinsehen als Euphemismen, die über die tatsächlichen Ziele hinwegtäuschen.

Diese Gesetze dienen in erster Linie der Kostenkontrolle. Die angebliche Priorisierung von ambulanten vor stationären Hilfen oder die Stärkung der Selbstbestimmung wird durch zahlreiche Vorbehalte und Einschränkungen unterlaufen, die den Betroffenen keine echte Wahlfreiheit lassen. Statt Inklusion zu fördern, zementieren diese Regelungen bestehende Barrieren und verlagern die Verantwortung von der Politik auf die Betroffenen selbst. Sie werden gezwungen, sich durch einen Dschungel aus Paragraphen, Zuständigkeiten und bürokratischen Hürden zu kämpfen, während die eigentlichen Probleme ungelöst bleiben.

Die Realität zeigt, dass Reformen wie das IPReG weniger mit einer Verbesserung der Intensivpflege zu tun haben als mit einer gezielten Förderung stationärer Unterbringung, die kostengünstiger, aber auch weniger selbstbestimmt ist. Ähnlich verhält es sich mit dem BTHG, das trotz großer Ankündigungen vor allem neue bürokratische Hürden schafft und dabei grundlegende Probleme wie die mangelhafte Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ignoriert. Diese Gesetze sind keine Fortschritte, sondern lediglich kosmetische Maßnahmen, die die strukturellen Defizite des Systems kaschieren sollen.

Die Botschaft hinter all diesen vermeintlichen Reformen ist klar: Menschen mit Behinderungen werden weiterhin als Kostenfaktor betrachtet, und ihre Rechte werden den wirtschaftlichen Interessen der Kostenträger untergeordnet. Solange sich daran nichts ändert, bleibt Inklusion ein leeres Versprechen. Was es braucht, sind keine neuen Euphemismen oder Pseudoreformen, sondern echte Maßnahmen, die Barrieren abbauen, die Selbstbestimmung fördern und die Rechte der Betroffenen konsequent in den Mittelpunkt stellen. Alles andere ist nichts als Täuschung – und die sollte sich die Politik wirklich selbst antun.