
Foto: Ralph Milewski
Fladungen (kobinet) Der Videoclip „Hep Hep Hurra!“ - Ein Lied für Heilerziehungspfleger von Jan Schrödel mag auf den ersten Blick wie eine fröhliche Würdigung der Heilerziehungspflege wirken, ist jedoch ein Paradebeispiel dafür, wie sich die sogenannte Inklusions-Industrie in oberflächlicher Symbolik verliert. Anstatt echte Barrieren abzubauen, zementiert dieses Projekt bestehende Machtverhältnisse, Ableismus und die Segregation von Menschen mit Behinderung. Es wird deutlich: Hier geht es weniger um Inklusion als um Selbstinszenierung.
1. Heroisierung der Heilerziehungspfleger:innen
Die Zeile „Als Heilerziehungspfleger bist du der Held in unserer Welt“ glorifiziert den Beruf der Heilerziehungspflege und stellt ihn in ein heroisches Licht. Diese Darstellung führt jedoch zu einer problematischen Sichtweise, bei der Menschen mit Behinderung als „Objekte“ dieser heroischen Taten betrachtet werden – als wären sie eine Last oder Herausforderung, die es zu bewältigen gilt. Menschen mit Behinderung werden nicht als gleichwertige Subjekte wahrgenommen, sondern als etwas, das besonderen Einsatz oder Opfer erfordert.
Diese Narrative passen zur Logik der Inklusions-Industrie, die sich selbst als unverzichtbar und edel darstellt. Sie lebt davon, Menschen mit Behinderung als „Problem“ zu inszenieren, das nur von den „richtigen“ Profis – wie Heilerziehungspfleger:innen – „gelöst“ werden kann. Doch hier offenbart sich eine Ironie: Die Einrichtungen, in denen Heilerziehungspfleger:innen arbeiten, sind oft selbst die „Ränder der Gesellschaft“, in denen Menschen mit Behinderung isoliert werden. Die Trennung wird dadurch verstärkt, dass das Lied die Vorstellung vermittelt, Menschen mit Behinderung müssten aus diesen Randbereichen „in die Mitte der Gesellschaft“ geholt werden – ein Prozess, der nicht nur die Struktur dieser Einrichtungen widerspiegelt, sondern sie als die Lösung darstellt, statt echte Inklusion zu fördern.
Die Vorstellung, dass Menschen mit Behinderung „in die Mitte der Gesellschaft“ integriert werden müssen, ignoriert die Realität: Diese Menschen sind bereits Teil der Gesellschaft, doch die gesellschaftlichen Strukturen und die bestehenden Einrichtungen halten sie weiterhin an den „Rand“ gedrängt. Der Fokus sollte nicht auf der Eingliederung von Menschen in spezielle Einrichtungen liegen, sondern auf der Abschaffung der Barrieren, die diese Segregation aufrechterhalten. Inklusion erfordert nicht, Menschen in die „Mitte“ zu bringen, sondern die Gesellschaft selbst so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich und inklusiv ist.
2. Paternalismus in Reinform – Akquise durch Heroisierung
Die Zeile „Schau nicht weg und werde so wie ich“ lässt sich auch als subtile Akquise für zukünftige Heilerziehungspfleger:innen verstehen. Sie impliziert, dass nur die Heilerziehungspfleger:innen in der Lage sind, diese „Herausforderung“ zu verstehen und zu meistern. Dies verstärkt das Bild, dass Empathie auf den Beruf des HEP beschränkt ist und nur durch diesen Beruf erlangt werden kann.
Das ist problematisch, weil Empathie keinesfalls exklusiv für Heilerziehungspfleger:innen reserviert ist. Jeder Mensch, unabhängig von seiner beruflichen Ausrichtung, ist in der Lage, Empathie zu entwickeln. Diese Aussage trägt dazu bei, das Bild eines heroischen „Retters“ zu fördern, der von außen die „Probleme“ von Menschen mit Behinderung „bewältigen“ muss. Damit wird der Gedanke unterstützt, dass Menschen mit Behinderung auf die „gute Hilfe“ von außen angewiesen sind, anstatt als gleichwertige Akteure in die Gesellschaft integriert zu werden.
Die Zeile „Schau nicht weg und werde so wie ich“ unterstellt zudem, dass der Rest der Gesellschaft wegschaut und sich der Thematik nicht annimmt. Diese Unterstellung ist problematisch, weil sie unbegründet ist und die Realität der Menschen im Bereich der Heilerziehungspflege verzerrt. Tatsächlich sind es gerade viele der Menschen, die in diesen Systemen arbeiten, die selbst in den bestehenden Strukturen gefangen sind, die oft ihre Machtlosigkeit erleben, um wirkliche Veränderungen zu bewirken. Sie können oder wollen die Strukturen nicht hinterfragen, weil sie selbst Teil des Systems sind, das auf Segregation und Institutionalisierung basiert.
Das Lied vermittelt den Eindruck, dass nur Heilerziehungspfleger:innen dazu in der Lage sind, Empathie zu zeigen und die „Herausforderungen“ zu meistern, was die eigentliche Bedeutung der Inklusion verzerrt. Empathie und Mitgefühl sind keine exklusiven Eigenschaften einer Berufsgruppe, sondern sollten von der gesamten Gesellschaft getragen werden.
3. Der Text des Liedes – Symbolik statt echter Inklusion
Der Liedtext versucht, eine inklusive Botschaft zu vermitteln, doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass er die bestehenden Barrieren und die Segregation von Menschen mit Behinderung nicht hinterfragt. Das Lied wurde von Jan Schrödel und seiner Klasse HEP 11 der ARS Limburg a.d. Lahn geschrieben und in Zusammenarbeit mit der Band „Jukebox“ der Lebenshilfe Limburg Diez verfilmt. Doch trotz der wohlgemeinten Absicht bleibt der Text problematisch:
„Egal, wo du herkommst, egal, wie du aussiehst, welche Fähigkeiten du auch hast,
du bist Mensch auf dieser Welt.
Du gehörst in unsere Mitte und nicht an den Rand der Gesellschaft.
Du lebst genauso wie ich und trägst ein Lächeln im Gesicht.
Hep hep hurra! Wir brennen für unsere Berufung.
Du als Mensch im Mittelpunkt.
Wir zeigen Herz und auch Gefühle.
Hep hep hurra! Wir brennen für unsere Berufung.
Du als Mensch im Mittelpunkt.
Als Heilerziehungspfleger bist du der Held in unserer Welt.
Wir tragen unser Herz am rechten Fleck und in der Mitte der Gesellschaft.
Schau nicht weg und werde so wie ich – HEP
Was morgen ist die Qual daran,
Es kann auch dich einmal betreffen,
Handicap im Mittelpunkt.
Menschlichkeit in unserem Herzen.“
Obwohl der Text die Idee von „Menschlichkeit“ und „Herz am rechten Fleck“ anspricht, bleibt die Realität unangetastet: Menschen mit Behinderung werden weiterhin in isolierte Strukturen wie Werkstätten oder Pflegeeinrichtungen gesteckt und nicht in die Mitte der Gesellschaft integriert. Der Text verschleiert die existierenden Probleme und reduziert die Inklusion auf eine symbolische Geste, die das bestehende System aufrecht erhält.
4. Ablenkung durch Symbolik
„Wir tragen unser Herz am rechten Fleck“ und „Menschlichkeit in unserem Herzen“ sind typische Floskeln der Inklusions-Industrie. Sie klingen warm und einladend, sagen aber nichts über die Realität. In Wahrheit bleibt alles beim Alten: Menschen mit Behinderung werden weiterhin in separaten Einrichtungen betreut, fernab einer inklusiven Gesellschaft. Diese Symbolik dient dazu, unangenehme Fragen zu vermeiden:
- Warum gibt es immer noch keine flächendeckende Barrierefreiheit?
- Warum werden Menschen mit Behinderung in Werkstätten und Einrichtungen isoliert, anstatt sie in den allgemeinen Arbeitsmarkt einzubinden?
- Warum wird ihre Selbstbestimmung so oft ignoriert?
5. Das Geschäft mit der Inklusion
Die Inklusions-Industrie hat ein starkes Eigeninteresse daran, den Status quo zu bewahren. Denn echte Inklusion würde bedeuten, dass viele dieser Strukturen überflüssig werden. Menschen mit Behinderung wären selbstverständlich Teil der Gesellschaft, ohne dass es spezielle Einrichtungen oder Programme bräuchte. Doch das ist nicht im Interesse derjenigen, die von diesen Strukturen profitieren.
„Hep Hep Hurra!“ fügt sich perfekt in diese Logik ein. Es geht weniger darum, Menschen mit Behinderung gleichberechtigt zu machen, als darum, das Image der Institutionen und Pflegenden zu polieren. Es ist ein Projekt, das nicht die Menschen mit Behinderung feiert, sondern diejenigen, die vorgeben, ihnen zu helfen.
6. Einflussmöglichkeiten der Heilerziehungspfleger:innen – eine differenzierte Sicht
Der Text des Liedes suggeriert eine bedeutende gesellschaftliche Rolle der Heilerziehungspfleger:innen im Rahmen der Inklusion, indem sie als „Helden“ gefeiert werden. Doch diese Idealvorstellung von HEPs als „Retter“ blendet die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten und Herausforderungen im Alltag der Heilerziehungspflege aus. Heilerziehungspfleger:innen arbeiten im oft schwierigen Spannungsfeld zwischen dem, was sie in der Praxis tatsächlich umsetzen können, und dem, was als gesellschaftliche Aufgabe der Inklusion übergeordnete Institutionen, politische Akteure oder die Gesellschaft im Allgemeinen betreffen. Die Realität ist, dass HEPs – trotz ihrer wertvollen Arbeit – innerhalb eines Systems agieren, das nach wie vor strukturelle Barrieren aufrechterhält. Es sind nicht die HEPs, die Barrierefreiheit oder vollständige Inklusion herbeiführen können – diese müssen durch politische, gesellschaftliche und institutionelle Veränderungen erreicht werden.
7. Ableismus und das Märchen der Inklusion
Die Inklusions-Industrie hat es geschafft, den Begriff „Inklusion“ zu kapern und ihn zu ihrem eigenen Vorteil umzudeuten. Statt echter Teilhabe propagiert sie eine Integration, bei der Menschen mit Behinderung „in die Mitte geholt“ werden – natürlich zu den Bedingungen der Mehrheit. Solange Projekte wie „Hep Hep Hurra!“ die Machtverhältnisse nicht hinterfragen, bleibt Inklusion ein Märchen.
Ableismus durchzieht dieses System wie ein unsichtbares Netz. Er manifestiert sich in:
- Narrativen, die Menschen mit Behinderung als Last darstellen.
- Der Glorifizierung von Pflegearbeit, die nicht auf Augenhöhe stattfindet.
- Der Reduktion von Menschen mit Behinderung auf ihr „Handicap“.
Ein Appell an die Realität: Stephan Laux‘ Expertise
Anstatt flache Schlager und YouTube-Videos zu produzieren, wäre es sinnvoll, sich mit der tatsächlichen Realität der Behindertenhilfe auseinanderzusetzen. Hier bietet die Arbeit von Stephan Laux, einem erfahrenen Praktiker und scharfsinnigen Kritiker der Inklusions-Industrie, eine wertvolle Grundlage. In seinen Büchern, wie „Bei geschlossener Schranke bitte anhalten!“ und seinen Kolumnen beleuchtet Laux die Abgründe zwischen dem Anspruch der Inklusion und der Realität, die oft durch Segregation und paternalistische Strukturen geprägt ist.
Laux zeigt eindrucksvoll, dass es nicht reicht, Menschen mit Behinderung „in die Mitte der Gesellschaft zu rücken“, wie es im Liedtext heißt. Vielmehr geht es darum, die Gesellschaft so zu gestalten, dass Menschen mit Behinderung selbstverständlich Teil von ihr sind – ohne heroische Gesten oder paternalistische Hilfe. Seine Texte sind ein Aufruf zur Selbstreflexion und eine klare Kritik an einer Branche, die oft mehr auf Selbstdarstellung als auf tatsächliche Veränderung bedacht ist.
Fazit: Ein Lied, das sich selbst entlarvt
„Hep Hep Hurra!“ ist ein Symptom eines größeren Problems: der Inklusions-Industrie, die von gut gemeinter, aber schlecht gemachter Symbolik lebt. Es perpetuiert die Abhängigkeit von Menschen mit Behinderung, glorifiziert die Pflegenden und ignoriert die eigentlichen Barrieren, die Teilhabe verhindern.
Echte Inklusion sieht anders aus. Sie bedeutet:
- Die Abschaffung separater Strukturen.
- Barrierefreiheit in allen Bereichen des Lebens.
- Gleichberechtigte Mitbestimmung statt Paternalismus.
Solange Projekte wie dieses gefeiert werden, bleibt Inklusion ein leeres Versprechen, das bestehende Machtverhältnisse zementiert – zum Nachteil der Menschen, die es vorgibt zu fördern.
Nachwort:
Wenn das Selbstbild von Heilerziehungspfleger:innen (HEP) in der Ausbildung auf heroischen Narrative basiert, ist es wenig überraschend, dass viele in ihrem späteren Berufsleben diese Sichtweise übernehmen. Wenn zukünftige HEPs schon in der Schule als „Helden“ dargestellt werden, die die „Probleme“ von Menschen mit Behinderung lösen, dann wird dieser Paternalismus in ihrer Praxis fortgeführt. Das Bild des HEP als Retter in einem heroischen Licht trägt nicht nur zur Verzerrung der Realität bei, sondern verhindert auch, dass die eigentlichen Barrieren für echte Inklusion thematisiert und angegangen werden.
Es ist entscheidend, dass die Ausbildung nicht nur auf Fachkompetenz, sondern auch auf kritische Reflexion und Selbstwahrnehmung setzt. Nur wenn HEPs in der Ausbildung lernen, sich als Mitgestalter einer inklusiven Gesellschaft zu verstehen, statt als „Helfer“, können sie ihre Arbeit wirklich verändern und zu einer gleichberechtigten, inklusiven Welt beitragen.
Inklusion bedeutet nicht, Menschen mit Behinderung zu „integrieren“ oder sie aus ihren bestehenden Strukturen herauszuholen, sondern diese Strukturen selbst zu verändern. Der Fokus muss darauf liegen, die gesellschaftlichen Bedingungen so zu gestalten, dass echte Teilhabe für alle möglich wird, ohne dass Menschen mit Behinderung weiterhin in isolierte Systeme gepresst werden.
Die Verantwortung für Inklusion liegt nicht nur bei den Heilerziehungspfleger:innen, sondern bei der gesamten Gesellschaft, die diese Strukturen aktiv gestalten muss, um die echten Barrieren abzubauen.