Staufen (kobinet) Ideologiezertrümmerung als mentaler Befreiungsakt, der Sprengung einer uns der Freiheit beraubenden Gefängnismauer vergleichbar – so könnte ich den Primärimpuls fast aller meiner Kolumnen auf den Punkt bringen. Zertrümmerung von Ideologemen, die das Denken und die Beweggründe behinderter Menschen ganz besonders fest im Griff halten. Mit an vorderster Stelle das Leistungsideologem.
„Keep your mind on the money“ (Tina Turner, „Private Dancer“)
Auf dem Börsenparkett ist jeder und jede ein Private Dancer, ein Einzelkämpfer, „a dancer for money“. Von einem neugebackenen Investmentbanker heißt es in Evan Osnos amerikanischem Bestseller „Mein wütendes Land“ ( original „Wildland, the making of Americas fury“): Das meiste, was er über seinen neuen Job wusste, hatte er auch dem Buch „Getting started in hedge fonds“ gelernt. „Er fand rasch heraus, dass es das Klügste sein werde, möglichst wenig zu sprechen und er stellte fest, dass er großzügig bezahlt wurde. Wenn du keine Ergebnisse lieferst, bist du raus, erklärte er mir. Es ist vorbei, es gibt kein du hast dich bemüht, guter Versuch, nur die Leistung zählt, wichtig sind nur die Ergebnisse.“ – Sprich, Leistung meint Geld und Geld bestätigt Leistung. Money makes the world go around.
Nicht Leistung, Leistungsideologie ist der Stein des Anstoßes
Zu der Klarstellung, dass für mich nicht Leistung der Stein des Anstoßes ist, sondern die Leistungsideologie, der „geheime Lehrplan“ oder die versteckte Indoktrinationsabsicht beim permanenten Beschwören „unserer Leistungsgesellschaft“ (wobei das naive Hereinfallen auf das Hantieren mit dem einschüchternden Leistungsargument schon der Beleg für den Wirksamkeitserfolg der Leistungsideologie und ihrer perfiden Absicht ist) – zu dieser Klarstellung hat mich Jennifers Reaktion auf mein Gedankenspiel in der Neujahrskolumne bewogen. Sie stimmt meinem deprimierenden Befund zu: Dass für behinderte Menschen die Realisierung und Respektierung ihrer Menschenwürde in der Gestalt gesellschaftlicher Inklusion leider gerade nicht bedingungslos erfolgt. Als Vorbedingung menschenwürdiger Inklusion stellt sich heraus, ihr müsst Leistung bringen. „Inklusion meint Leistung“, so Jennifer und oft genug sogar Übererfüllung einer vorgegebenen Norm, „wir müssen zehnmal besser sein“ (dazu ausführlich ihr Podcastgespräch mit Sascha Lang zu diesem Thema in IGEL trifft Sonntag). Nur – und dies wird gewöhnlich nicht in den Blick genommen – trifft der Umkehrschluss nicht zu, wenn Inklusion Leistung meint, kann daraus nicht geschlossen werden, dass umgekehrt Leistung Inklusion bedeutet bzw. mit Inklusion belohnt wird. Die große Mehrzahl von uns Behinderten leistet erstaunlich viel, um ihren Alltag in dieser Gesellschaft überhaupt auf elementarster Stufe zu bestehen und zu bewältigen. Damit verdienen sie sich aber kein zur Inklusion berechtigendes Leistungszertifikat. Worin an sich bereits ein derartiges Skandalon liegt, um auf der Stelle das wohlfeile Leistungsgerede nicht länger ernst zu nehmen.
Doch um zum zentralen Thematisierungskontext von Leistung und Inklusion zu kommen, dem Tanzplatz ums Goldene Kalb namens Arbeitsmarkt: Behinderten Menschen werden Rehamaßnahmen und -leistungen gewährt, damit sie auf dem Arbeitsmarkt der durchschnittlichen Leistungsanforderung oder Produktivitätsnorm gewachsen sind und mithalten können. Jennifer fasst dies in die Kurzformel, „Reha bringt auf Augenhöhe“. Und das Zauberwort, das nun als nächstes fällig ist, lautet „Chancengleichheit“. Darauf reduziert sich in der Regel, was mit der Rede von „gleicher Teilhabe“ im behindertenpolitischen Zusammenhang gemeint ist, Chancengleichheit. Noch so ein schönfärberisches Ideologem zur Vernebelung der Köpfe und mithin ein weiterer Kandidat für Ideologiedekonstruktion. Ich lasse es jetzt mal links liegen und bleibe beim Thema Leistung und Leistungsideologie.
Zwischenglieder und manch interessante Einzelheit lasse ich beiseite und mache es kurz, mich auf das Wesentliche beschränkend. Was würde sein, wenn wir Behinderte uns endlich gleichberechtigte Teilhabe im Sinne von Chancengleichheit erobert hätten? Es hieße, nicht viel anders als zuvor: Alle zum Wettlauf an den Start, auf die Plätze fertig los! Teilnehmen an der nunmehr inklusiven „Rat Race“, eins werden mit dem ubiquitären neoliberalen Rattenrennen. Auf allen Güter- und Finanzmärkten, den Dienstleistungs- und Aufmerksamkeitsmärkten. Profitmaximierung, mal in Geld, mal in Klickzahlen gemessen. Der ungehemmte Überbietungswettbewerb, zu dem die Individuen gegeneinander antreten, wird als Leistungswettbewerb und Leistungsvergleich gelabelt.
Dessen Genotyp, die Matrix aller übrigen neoliberalen Gewinnspiele, ist die spekulative Finanzbranche. Ihr Schmiermittel die Gier, sich möglichst schnell, möglichst viel unter den Nagel zu reißen. Dessen Menge, Geldmenge, als Maßstab der erbrachten Leistung genommen wird.
Zum Beispiel, um von der Finanzspekulation in die Plattformökonomie zu wechseln – zum Beispiel Jeff Besos, der Amazongründer. Schon vor Jahren las ich irgendwo, er verdient in der Stunde 145 000 Dollar und noch was. Woraus wir durchschnittlichen „Rat Racer“ schlussfolgern dürfen, es ist schier unglaublich, was dieser Mann leistet! Und wer daran etwas auszusetzen hat, den oder die treibt natürlich der pure Neid; denn wer von uns möchte sich nicht auch öfters eine neue Yacht kaufen oder mal ein neues Raumschiff und ein paar extra Runden im Orbit drehen. – Doch im Ernst, man muss nicht das Stunden- oder Jahreseinkommen von quasi Außerirdischen wie Musk und Konsorten bemühen, es genügt der Blick auf die x-fachen Gehälter von „ganz normalen“ Managern oder CEOs im Verhältnis zu den Löhnen ihrer Angestellten, um die herrschende Leistungsideologie zu dekonstruieren und all dieses Leistungsgefasel ein für alle mal mit einem befreienden Gelächter zu quittieren. Ein mentaler Befreiungsschlag.
Was leichter gesagt als getan ist. Die Nebelmaschine der Leistungsideologie läuft gesellschaftlich allerorten und in sämtliche sozialen Milieus ausstrahlend auf Hochtouren. Das Gift der Gehirnkonditionierung und Bewusstseinsprogrammierung gemäß der Motiv- und Affekt-Trias von „Gier, Neid und Dominanzstreben“ (so die Formel des Kognitionswissenschaftlers und Neurophilosophen Thomas Metzinger, eines intellektuellen Peers und Bekannten von mir) träufelt einer Infusionslösung vergleichbar unablässig in unsere Köpfe, „steter Tropfen höhlt den Stein“ gewissermaßen. Dieses neoliberal noch einmal mächtig getriggerte Mindset (dessen moderne Version seit gut 250 Jahren als kapitalistischer Antriebs- und Steigerungsmechanismus soziokulturell installiert und somit in und außerhalb von uns entsprechend strukturell verankert ist) verstrickt uns alle in eine ultimative Erschöpfung und den absehbaren Ruin und macht uns zu Komplizen der Zerstörung unser geschöpflichen Mitwelt und des Planeten.
Diejenigen von uns, die, behinderungsbedingt gezwungenermaßen in gesellschaftlich randständige Bezirke abgedrängt, sich dort oft noch in einer trügerischen Normalität (auch ihres Arbeitsplatzes, sofern sie einen haben) bewegen, unterliegen dadurch einmal mehr der Versuchung, ihren Kopf vermeintlich schützend in den Sand zu stecken. Ideologiezertrümmerung bleibt daher innerhalb unserer Community eine desto dringlichere Aufgabe. Ohne diesen Akt mentaler Selbstbefreiung läuft meines Erachtens auch Behindertenpolitik letztlich auf ein illusionäres Unterfangen hinaus.
P.S. Zugeeignet Jennifer Sonntag und ihrem echt leistungsstarken Pfotenpiloten Paulchen. –
Dank auch an Ralph Milewski für den ausführlichen Kommentar zu meiner Neujahrskolumne, seine analytische Vertiefung der Problematik trägt auf ihre Weise zur Entnebelung der Köpfe derer bei, die an einer illusionsfreien Behindertenpolitik interessiert sind.
Hans-Willi Weis‘ Kolumne zur „Ideologiezertrümmerung“ erinnert mich in vielen Punkten an die Wertkritik, insbesondere in seiner scharfsinnigen Kritik an der Leistungsideologie, die die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft in einen ständigen Wettlauf um Anerkennung zwingt. Genau wie die Wertkritik, die das Kapital als ein „automatisches Subjekt“ beschreibt, das die Menschen in seinem System von Verwertungszwängen gefangen hält, zeigt Weis auf, wie der Kapitalismus die Menschen zu bloßen Objekten in einem immerwährenden Wettbewerb degradiert. Beide Perspektiven kritisieren, dass die Menschen in diesem System nur dann als „wertvoll“ anerkannt werden, wenn sie durch außergewöhnliche Leistungen und den Austausch von Arbeit gegen Geld einen Mehrwert schaffen.
Weis‘ Forderung nach einer Ideologiezertrümmerung, die den Menschen befreit und ihnen ermöglicht, sich aus diesem System der Leistungsideologie zu lösen, erinnert stark an die Visionen der Wertkritik, die eine Gesellschaft anstrebt, in der die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nicht über Arbeit, Wert und Geld vermittelt wird. In beiden Ansätzen wird der Kapitalismus als ein System verstanden, das die individuelle Freiheit einschränkt und die Menschen zu Komplizen einer zerstörerischen Dynamik macht, die nicht nur ihre eigene Erschöpfung fördert, sondern auch die Zerstörung des Planeten.
Insofern ist die Kolumne von Weis nicht nur eine scharfe Analyse der Leistungsgesellschaft, sondern auch ein Plädoyer für eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung, die jenseits von Leistung und Kapitalverwertung auf der Grundlage echter Teilhabe und Freiheit basiert – eine Idee, die auch die Wertkritik verfolgt.