Villmar - Weyer (kobinet)
Lang, lieb und lustig!
Auf Einladung von Ralph Milewski schreibt Stephan Laux im 6. Teil dieser Serie über das Thema Stigmatisierung anhand von eigenen Erfahrungen und seinen Erfahrungen als Mitarbeiter in der Behindertenhilfe.Wie ich schon in einem früheren Beitrag offenbart habe, war ich in Bezug auf meine sexuelle Entwicklung ein Spätzünder. Das führte dazu, dass ich im jungen Erwachsenenalter ziemlich viele beste Freundinnen hatte. Das veranlasste mich zu einer repräsentativen Umfrage unter ebendiesen rein platonischen Freundinnen: „Wenn Dich jemand nach Stephan Laux fragen würde, was würdest Du antworten?“ Das Ergebnis dieser Umfrage fiel erschreckend einstimmig aus: „Der Stephan Laux? Das ist doch der Lange! Der ist ein ganz lieber! Und der ist lustig!“
Lang, lieb und lustig, waren nicht gerade die Stigmata, die ich mir als Fast-Mann, von etwa 16 Jahren, in diesem Zusammenhang erhofft hatte.
„Stephan Laux! Das ist doch dieser große, gut aussehende und sportliche Mann. Ist der nicht schon 21? Also so wie der redet…“ so was in der Art hätte mein pubertär geschundenes Selbstwertgefühl erfreut.
Das Attribut lang hat mich schon ab meinem 14. Lebensjahr gestört, als ich plötzlich morgens aufwachte und nicht mehr in mein 1,90 m Jugendbett passte. Meiner Ansicht nach gibt es einen wesentlichen, sozial- und sprachwissenschaftlichen Unterschied zwischen den Bezeichnungen groß und lang. Ich wollte lieber groß sein, was aber seinerzeit, bei einem Gewicht von 75 kg und spindeldürren, Beinen und Armen im Zusammenspiel mit einer Körpergröße von 2 Metern, für den Betrachter wenig nahe lag.
Dass ich in bestimmten Frauenkreisen als lieb bezeichnet wurde, mag daran gelegen haben, dass ich in meinen platonischen Beziehungen wohl als guter Zuhörer galt und Nächte lang redend mit ihnen zubrachte, dabei meine eigentlichen Absichten tunlichst verbarg und mich dazu noch als Kavalier übte.
Meine Lustigkeit resultierte wohl daraus, dass ich während meiner Schulzeit, im Unterricht die ein oder andere zündende Pointe gesetzt habe. Darüber habe ich in meiner Kolumne „Aus dem Tagebuch eines Nestbeschmutzers“ berichtet.
Nun ja! Nach 6 Jahren auf dem Bau und meiner Zuwendung zum Leistungssport, war ich mein LangLiebLustig Image los. Als ich in der Behindertenhilfe anfing, wog ich 105 kg, war immer noch 2 Meter groß und hatte sogar schon ein paar Schlägereien hinter mich gebracht.
Mein damaliger Chef stellte mich mal einer Abteilung mit den Worten vor: „Das ist Stephan Laux. Seine herausragenden Fähigkeiten sind: Er ist Heilerziehungspfleger, wiegt 2 Zentner und ist 2 Meter groß.“
Was für eine gequirlte Kacke! Aber tatsächlich entsprach ich Anfang der 80er Jahre weitestgehend einem Profil an Betreuern, das damals dort gefragt war.
Einige Einrichtungen jener Zeit waren geprägt von den schrecklichen Zuständen vor der Psychiatriereform. Gewalt war ein vorherrschendes, wenn auch oft nicht ausgesprochenes und aufgearbeitetes Thema. Klient*innen waren traumatisiert von diesen Zuständen und wussten sich oft nur durch gewalttätiges Verhalten zu behaupten. Manche von Ihnen wurden fixiert oder mit starken Psychopharmaka ruhig gestellt. Junge und hoch engagierte Erzieherinnen und Sonderpädagoginnen versuchten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden pädagogischen Mitteln die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und fingen sich dabei auch immer wieder Verletzungen ein.
Wenn in solchen Gewaltsituationen ehemalige Kollegen wie Jens, Jörg, Abbi, Stefan (die ich an dieser Stelle einmal stellvertretend für viele andere herzlich grüßen möchte) oder ich mit einer beeindruckenden, vielleicht sogar Furcht einflößenden Gestalt im Türrahmen standen, wurde es dunkler.
Meistens genügte ein „Jetzt ist aber mal Ruhe hier!“, um die Situation zu deeskalieren. Manchmal mussten wir aber auch unsere Kolleg*innen beschützen. Die genannten Kollegen waren allesamt einfühlsame, sensible und pädagogisch kompetente Mitarbeiter. Pädagogische Kompetenz hatten aber die betreffenden Kolleginnen in solchen Situationen schon reichlich ausgereizt. (liebe Grüße stellvertretend an Melanie, Sonja, Birgit und Ulrike. Ihr wart pädagogisch bedeutend geschickter als ich!)
Manchmal wurden wir für unser Einschreiten gefeiert. Dabei brauchte es unser durchaus vorhandenes, fachliches Geschick weniger. Es war unser Erscheinungsbild und unser entschiedenes Auftreten, das Kolleg*innen dazu veranlasste, uns zur Unterstützung zu rufen. Uns haftete das Stigma an, dass wir zu den großen, kräftigen, durchsetzungsstarken Erziehern gehörten, die man rief, wenn es brenzlig wurde.
Damals gab es so etwas wie Supervision in unserer Einrichtung nicht.
Niemand fragte uns große, kräftige Männer, wie wir uns in und nach solchen Grenzsituationen fühlten. Und um für mich zu sprechen: Ich fühlte mich auf Dauer nach solchen Einsätzen nicht gut. Mir war es auch außerhalb meiner beruflichen Tätigkeit schon öfter widerfahren, dass z.B. Kleinkinder Angst vor mir hatten, wenn ich einen Raum betrat. Sie schauten mich mit geweiteten Pupillen an und fingen an zu weinen.
Wie musste das erst für unsere Klient*innen sein? Keiner von uns „Schränken“ hatte den Betreuten jemals körperliche Gewalt angetan und dennoch fürchteten sie sich vor uns. Alleine durch unsere körperliche Präsenz. Dabei litten die meisten von Ihnen unter ihrer eigenen Stigmatisierung weit mehr als wir unter unserem Bad Cop Image.
Als ich begann, in Wohnheimen der Behindertenhilfe zu arbeiten, wurden mir deren Bewohner*innen grundsätzlich in Verbindung mit den ihnen zugeordneten Stigmata vorgestellt.
Das ist Wolfgang. Er klaut gerne. Das ist Yvonne. Sie kann sehr dickköpfig sein. Hier haben wir Klaus. Achtung! Er ist aggressiv. Er hat schon mal… ( In diesem Zusammenhang: stellvertretende Grüße an Wolfgang, Yvonne und Klaus. Ihr seid großartig!)
Selbst vor Mitarbeitenden, die von einer Abteilung, in die unsere wechselten, machte diese Stigmatisierung nicht halt. „Nächsten Monat fängt der Jürgen bei uns an. Er war als Kampftaucher Zeitsoldat bei der Bundeswehr, und das merkt man auch.“ Wahrscheinlich hatte auch ich ein entsprechendes Stigma. Stephan Laux. Ein Besserwisser, der gerne Sprüche klopft.
Wenn wir Bewohner*innen in andere Abteilungen oder Einrichtungen verlegten, hatten sie nicht nur ihre Habseligkeiten, sondern auch ihre Stigmata im Gepäck.
Ich selbst nehme mich da nicht aus. Ich habe mich vehement dafür eingesetzt, dass die beiden Bereiche unserer Einrichtung, Wohnen und Gestaltung des Tages Zugriff auf die Dokumentation des jeweils anderen hatten. Einer der größten Fehler meiner beruflichen Laufbahn. Er führte dazu, dass Bewohner*innen täglich, schon bevor sie in den anderen Bereich wechselten, mit einem Stigma versehen waren. Das wäre in etwa so, als hätte meine Frau meine Kolleg*innen vor meinem Dienstantritt gewarnt: „Vorsicht! Mein Mann hatte heute schon beim Frühstück schlechte Laune“.
Es ist natürlich legitim, seine Kolleg*innen vor eventuell auftretenden Verhaltensauffälligkeiten zu warnen. Ich habe Mitarbeiter*innen jahrzehntelang unter Zuhilfenahme solcher Warnhinweise eingearbeitet. In der Annahme, die Verhaltensoriginalität der Bewohner*innen sei der Grund für ihre Unterbringung in einer Sondereinrichtung.
Bis ich begriff, dass es die Unfähigkeit und Überforderung der Gesellschaft ist, mit solchem Verhalten umzugehen, die diese Menschen in die Sondereinrichtungen gebracht hat. Und dass es die vornehmliche Aufgabe der Behindertenhilfe und der dort tätigen Menschen sein muss, Betroffene von ihren fremd zugewiesenen Stigmata zu befreien. Behinderung ist keine Eigenschaft! Gerade noch mal die Kurve gekriegt. Die Behindertenhilfe versucht das aktuell auch, indem sie sich bemüht, von der Defizitorientierung zur Ressourcenorientierung zu switchen. Bisher gelingt es ihr nicht.
Hilfreich könnte Ralph Milewskis Serie zur Identitätsfalle der Behinderung sein. Die Frage nach Selbstbild und Fremdzuschreibung ist entscheidend, wenn es um das Gelingen echter Inklusion geht. Die Serie ist deshalb so wertvoll, weil Ralph Milewski aus eigener Erfahrung schreibt. Meine Erfahrung mit Ralph Milewski ist die Erkenntnis: „Ralph Milewski ist nicht an den Rollstuhl gefesselt. Er entfesselt den Rollstuhl!“
Den rollstuhlfahrenden, behinderten Fotokünstler Ralph Milewski gibt es nicht.
Es gibt Ralph Milewski den Familienvater.
Es gibt Ralph Milewski den Aktivisten.
Es gibt Ralph Milewski den Fotografen.
Es gibt Ralph Milewski den Kolumnisten.
Es gibt Ralph Milewski den Freund.
Usw.
Lange, liebe und lustige Grüße Stephan Laux Januar 2025
Lieber Stepahn,
inzwischen verstehe ich, dass Stigma nicht nur auf angeblich negative Eigenschaften bezogen werden kann, sondern dass auch eigentlich positive Merkmale in bestimmten situativen Kontexten als negativ wahrgenommen werden können, was zu stigmatisierenden Auswirkungen führt.
Du hast treffend beschrieben, wie die Zuschreibung von „lang, lieb und lustig“ in deiner Jugend als Stigma empfunden wurde. Diese Merkmale passten nicht zu dem Bild, das du dir von Männlichkeit und Erwachsensein gemacht hast. Später, durch körperliche und persönliche Veränderung, nahm sich diese Wahrnehmung jedoch in deinem beruflichen Kontext als Heilerziehungspfleger ganz anders aus.
In deiner Arbeit zeigst du auf, dass deine körperliche Präsenz als „stark“ und „durchsetzungsfähig“ wahrgenommen wurde, was zu einer deeskalierenden Wirkung beiträgt und sogar hilft, Frieden zu stiften. Zum einen ist es sehr bequem, einfach nur durch Präsenz deeskalierend zu wirken, aber in Wirklichkeit passiert dies auch durch subtile Bedrohung und letztlich durch Angst und psychische Gewalt. Wieder ein kontextabhängiges Stigma: „Laux der Bedrohliche.“
Aber es gab auch Laux, den attraktiven, großen, starken Mann. Auch ein Stigma?
Auf jeden Fall verdeutlicht es, dass Stigmatisierung nicht nur eine negative Zuschreibung von Eigenschaften ist, sondern auch positive Merkmale in bestimmten Kontexten als problematisch wahrgenommen und stigmatisiert werden können. Es hängt ganz vom sozialen Kontext, den Erwartungen und der Wahrnehmung der Umgebung ab, wie bestimmte Merkmale gedeutet werden.
Danke für deine wertvollen Gedanken, die mir geholfen haben, die Dynamik von Stigmatisierung noch differenzierter zu betrachten.
Lieber Stephan,
ich danke dir sehr für deine einfühlsamen und nachdenklichen Worte. Deine Freundschaft bedeutet mir viel, und ich schätze sie sehr.
Es gibt auch Stephan
den Familienvater,
den Aktivisten,
den Musiker,
den Kolumnisten,
den Freund.
Und das trotz seiner Länge, Liebenswürdigkeit und lustigen Art – kaum zu glauben!