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Bis jetzt dreimal lebenslänglich

Rollstuhlfahrer mit dunkler Hotes und Weste, weißem Hemd und rötlich gemustertem Schlips vor Ferkhäusern
Dr. Karsten Lippmann in den Straßen seiner Heimatstadt Halberstadt
Foto: Julia Bornkessel

HALBERSTADT (kobinet) Der bevorstehende Welttag für Menschen mit Behinderungen steht kurz bevor. Für viele Menschen, insbesondere jene, die in ihrem Leben Behinderungen erfahren, ist dieser Tag ein Anlass für intensive Gespräche zu den Themen "Behinderung" und "Inklusion" sowie für die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen für Inklusion und  mehr Barrierefreiheit. Dr. Karsten Lippmann, der Vorsitzende des ABiD-Instituts Behinderung & Partizipation (IB&P) wird ebenfalls zum Welttag für Menschen mit Behinderungen zu Demonstrationen gehen. Er hat sich jedoch auch die Zeit genommen, einen Beitrag für die Alice-Salomon-Hochschule (ASH) zu schreiben, der sich mit der Bedeutung der Physiotherapie für diesen Personenkreis der Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Mit seinem persönlichen Blick auf die Zukunft des Studienangebotes für Ergo- und Physiotherapeuten an der ASH Berlin gibt er zugleich einen Einblick in seine persönlichen Erfahrungen als schwerbehinderter Mensch. Unter der Überschrift „Bis jetzt dreimal lebenslänglich: Plädoyer eines Dauer-Patienten für die Weiterentwicklung eines Berufsfeldes – Erfahrungen aus 45 Jahren Physiotherapie“ beschäftigt er sich darin mit der Bedeutung der Physiotherapie für diesen Personenkreis, auch mit Blick auf die Zukunft des Studienangebotes für Ergo- und Physiotherapeuten an der ASH Berlin und er gibt Einblick in seine persönlichen Erfahrungen als schwerbehinderter Mensch. Karsten Lippmann hat diesen Beitrag den "kobinet-Nachrichten" zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt und wir tun das, vor  allem, weil persönliche Erfahrungen mit dem Behindertsein / Behindertwerden gerade am Welttag für Menschen mit Behinderungen ein wichtiges Thema sind.

„Deine Hochschule“, sagte sie lachend, „bildet übrigens auch Physiotherapeuten aus. Meinen Glückwunsch!“
„Wer tut was?“, fragte ich. Ich war noch nicht ganz wach, wie manchmal, morgens kurz nach acht Uhr. – Ist aber auch nicht unbedingt nötig. Sie hatte gerade mein Arbeitszimmer betreten,
ich hatte mich bereits auf den Boden gelegt.
Seit Jahrzehnten der ungefähr selbe Ablauf, zur ungefähr selben Uhrzeit. Nur die Therapeut*innen wechseln, selten, aber immer noch öfter als mir lieb ist.
„Was machen wir heute?“, hatte sie gefragt. – „Der rechte Arm ist besonders spastisch. Viel Schreiberei.“ – „Selbst schuld“, seufzte sie, leicht genervt. „Ich habe Dir schon so oft gesagt …“
„Nicht meckern, durchbewegen, bitte.“, unterbrach ich.
„Schade.“, antwortete sie, „Ich kann durchbewegen und dabei meckern. Das ist Multi-Tasking.“ Sie begann mit kleinen Bewegungen meines Armes und wechselte wieder das Thema: „Jedenfalls habe ich nachgelesen: Deine Alice-Salomon-Hochschule bietet auch ein Studium für Physiotherapeuten als berufsbegleitenden Bachelor an. Klingt interessant. Vielleicht bewerbe ich mich.“
Langsam wurde ich wacher. „Erstens“, sagte ich, „ist das nicht ‚meine‘ Hochschule. Ich bin lediglich der Vorsitzende des ABiD-Instituts Behinderung & Partizipation“. Das ist ein An-Institut der ASH Berlin. Und der Vorsitz ist ein Ehrenamt.“
„Na trotzdem, immerhin.“
„Ja, ich weiß, ich bin ein Glückspilz. – Aber zweitens: Du bist doch schon Physiotherapeutin. Oder hätte ich mir Deine Zeugnisse zeigen lassen sollen?“
„Die kann ich Dir gerne mitbringen, nächste Woche. – Aber, im Ernst: In dem Studium geht es um andere Dinge. Moderne Physiotherapie, das ist auch Management und Interessenvertretung, z. B. in Verbänden und Kammern …
„…über die Du Dich hier schon oft aufgeregt hast …“
„… Und mit dem Studienabschluss könnte ich dann selbst mitarbeiten, damit sich andere Leute über mich aufregen.“

Die Bewegungen meines Arms wurden größer. „Wenn es weh tut …“
„… Dann erfüllt es seinen Zweck.“, fiel ich ihr lächelnd ins Wort.
„Jetzt hör aber mal auf mit diesem Quatsch.“, ermahnte sie mich, etwas zu ernsthaft, für meinen Geschmack. „Ich habe meine Lehre im Jahr 2018 abgeschlossen, nicht 1850! Wenn Dehnungen richtig weh tun, bringt das gar nichts.“
Ich seufzte, nur halb im Scherz: „Das müssen diese modernen Zeiten sein, von denen immer
alle reden.“

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, dass ich jetzt seit 45 Jahren physiotherapeutischer Dauerpatient bin. Etwas mehr als 46,5 Jahre bin ich alt. Und auch die 1,5 Jahre Differenz zwischen beidem waren kein glücklicher Umstand, ganz im Gegenteil: „Vielleicht hätten wir mehr machen können, wenn man uns wenigstens gleich gesagt hätte, was los ist.“, stellen meine Eltern manchmal heute noch bedauernd fest. Und die Medizin gibt ihnen Recht: Hirnschäden, frühkindliche besonders, sollen möglichst umgehend therapiert werden, um die Folgen in Grenzen zu halten.
Davon, die Familien erst einmal anderthalb Jahre in Vertröstungen schmoren zu lassen und sie dann, nach einem der vielen Arztbesuche, ohne weitere Kommentare, mit einer Broschüre
nach Hause zu schicken, damit sie nachlesen, was wohl mit ihrem Kind los ist, ist sicher nirgends die Rede …
Meine Krankengeschichte ist eigentlich nicht aufregend, weil „die klassische“ einer spastischen Tetraplegie: Sauerstoffmangel während der, einen Monat zu früh erfolgten, Geburt. Als Folge eine spastische Lähmung, „wie sie im Buche steht“, und, das ist der eigentlich hier interessante Punkt, bis jetzt 45 Jahre Physiotherapie „aus Patientensicht“, halt dreimal lebenslänglich.
Ich hoffe. dass noch zwei bis dreimal 15 Jahre hinzukommen werden. Denn, bei allen Schwierigkeiten, aller Kritik und allem Sarkasmus: Ich bin meinen Physiotherapeutinnen (es
waren von Anfang an immer Frauen) sehr dankbar für ihren Einsatz. Sie werden mich wohl bis an mein Lebensende begleiten, so weit zumindest, wie die Gebührenordnungen der Krankenkassen das zulassen.

Nicht nur deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass die ASH Berlin ein berufsbegleitendes Studium für Physiotherapeuten nach der Modellklausel anbietet: Wenn die Möglichkeiten der
Physio- und Ergotherapeuten verbessert werden, ihr Berufsfeld mitzugestalten, ist das ganz im Sinne ihrer Patienten. Im ersten Schritt sollte daher der Zugang in das Studium über die
Modellklausel auch über das Jahr 2024 hinaus offengehalten werden. Mittelfristig ist zu empfehlen, diesen attraktiven und wichtigen Studiengang ins Curriculum der ASH Berlin zu
übernehmen.

Es wird wohl niemanden verwundern, dass „mein erstes Mal lebenslänglich“ Physiotherapie das schwerste war. Soll und will ich überhaupt darüber schreiben? – Vielleicht am ehesten
über Frau J., meine allererste Physiotherapeutin. Dabei erinnere ich mich gar nicht an sie, bzw. nur indirekt: Meine Mutter ging damals mit mir zu ihr.
Meine Mutter ist eine sehr freundliche, warmherzige, aber eigentlich keine sentimentale Person. Doch noch heute kann es passieren, dass sie mich zufällig irgendwelche Bewegungen oder Handgriffe machen sieht, bei denen sie plötzlich mit der Rührung kämpft und sagt: „Das hat Dir Frau J. damals beigebracht. Erinnerst Du Dich?“ Nein, Mama, ich war ja erst um die zwei Jahre alt. Aber wenn es Dich so bewegt, war es offensichtlich wichtig.

Und auch Nicht-Erinnern kann ein Kompliment sein. Es folgt dann nämlich eine Phase der Physiotherapie, aus der erinnere ich zu viel: Ein großer Saal im Internat, Schmerzen, Tränen
und Gebrüll der Therapeutinnen. Dass die Behandlungen weh tun müssen, angeblich oder tatsächlich, vertraten sie offensiv. Und sie behandelten auch so.

Fachlich war die Physiotherapie in dem Internat allerdings gut. Ich wurde dort später nach Vojta behandelt, was Ende der 1980er Jahre sehr fortschrittlich war, auch international gesehen. Da ich kein Säugling mehr war, waren die bis heute geführten Debatten, ob Babys unter dieser Therapie irgendwie leiden, da sie dabei häufig weinen, in meinem Fall überflüssig. Die Behandlung empfand ich als anstrengend, aber auch als angenehm. Letzteres schon deshalb, weil es immer hieß: „Vojta braucht Ruhe.“ Also war Ruhe. Die Therapeutinnen, die ich sonst vor allem brüllend kannte, was ich hasste, brüllten nicht.

Ob die Vojta-Therapie sonst positive Auswirkungen auf mich hatte, kann ich nicht genau sagen. Das Laufen brachte sie mir nicht bei. Allerdings war ich eben kein Baby mehr und konnte mich gar nicht an die Empfehlung halten, nach jeder Sitzung mindestens 2 Stunden zu schlafen. Ich war Schüler. Meistens ging ich in den Unterricht zurück oder machte Hausaufgaben. Irgendein Absacken meiner schulischen Leistungen wollte ich nicht akzeptieren und sie sackten auch nicht ab.
Käme ich heute ohne Rollstuhl zurecht, wenn ich zweieinhalb Jahre nur für Vojta gelebt hätte? Keine Ahnung. – Aber garantieren wollte mir das, verständlicherweise, keiner.

Es mag für Physiotherapeuten und Angehörige aller Heilberufe frustrierend sein, wenn die Patienten sich nicht völlig an ihre Anweisungen halten. Aber vergessen Sie bitte nie: Eine
Empfehlung ist schnell ausgesprochen, wenn sie nicht geholfen hat, ist das ggf. auch schnell konstatiert. Es ist der Patient, der „zwischendurch“ sein Leben ändern soll.

Viel könnte ich jetzt noch über Physiotherapie schreiben. Über ihre Wichtigkeit, gerade für Menschen mit Behinderung. Über ihre Grenzen, in eben demselben Fall. Doch hoffe ich,
mein Standpunkt ist klargeworden, mein Dank angekommen.

Gut ausgebildet waren die Therapeutinnen, in „meinem“ Internat, das hatte ich ja schon geschrieben. Spätestens mit der Wende besserten sich dann auch ihre Umgangsformen.
Aber nicht nur das: Die lauteste und brutalste unter ihnen war plötzlich weg. Es veränderte sich viel in jenen Jahren und das Verschwinden dieser Frau erlöste uns wohl alle.
Ca. 3 Jahre vergingen. Dann rief man mich aus dem Unterricht in die Therapie-Räume. Das war sehr ungewöhnlich. – Schon von weitem glaubte ich, ihre Stimme zu erkennen. Ungewohnt war sie trotzdem. Sie schrie nicht. Früher hatte sie diesen Ton manchmal gehabt, weil sie es lustig fand, unvermittelt zu schreien. Den Ruhe-Ton hielt sie dann aber höchstens eine Minute durch. Jetzt horchte ich schon 5 Minuten, unschlüssig, ob ich nicht doch „wegrennen“ sollte. Ich fand aber, das sei kein angemessenes Verhalten, für einen Achtklässler. Vielleicht war sie es gar nicht? Konnte ja auch nicht sein.

Ich bog um die Ecke und spürte das Entsetzen auf meinem Gesicht: „Na, da freut sich aber einer, mich zu sehen.“ Sie lächelte demonstrativ. „Nicht wirklich, Frau X.“, antwortete ich.
„Na, na, wer wird denn so nachtragend sein? Ich gehe auch heute Nachmittag wieder. Ich will meinen Kolleginnen nur was zeigen. Dich habe ich dafür holen lassen, weil wir uns
schon kennen. „Allerdings.“, bestätigte ich, bemüht, dabei unerschrocken zu klingen. Dann beturnte sie mich und war dabei die Höflichkeit in Person: „Würdest Du bitte … Ja, danke
sehr gut.“ Den Zwischengesprächen mit ihren Kolleginnen nach zu urteilen, hatte sie jetzt eine eigene Praxis, irgendwo im Westen. – Offensichtlich schätzten es die Eltern dort nicht,
wenn man ihre Kinder zusammenbrüllte.
Wir alle lernen dazu, lebenslänglich

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