STUTTGART (kobinet) Im Vorfeld des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung kritisieren der Landesverband der Lebenshilfe und der Paritätischer Wohlfahrtsverband die Praxis der Stadt und Landkreise bei der Kostenübernahme von Hilfen vor Ort. Beide Verbände bemängeln die aktuelle Praxis in zahlreichen Stadt- und Landkreisen, Leistungen für den Hilfe- und Assistenzbedarf zur Freizeitgestaltung von Menschen mit Behinderung nicht zu finanzieren. Das stellt aus ihrer Sicht die Grundrechte von Menschen mit Behinderung auf Teilhabe infrage und gefährde die bestehenden Angebote der Träger Offener Hilfen-Dienste vor Ort. Die Verbände fordern Stadt- und Landkreise dazu auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Kosten für Freizeitaktivitäten in den Leistungskatalog der Eingliederungshilfe aufzunehmen sowie verbindliche Vergütungsvereinbarungen mit den Trägern vor Ort zu treffen. Nur so könnten Inklusion und soziale Teilhabe im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes nachhaltig gesichert werden.
Der Aufsichtsratsvorsitzender des Landesverbands Lebenshilfe Baden-Württemberg Peter Benzenhöfer ist selbst Mensch mit Behinderung. Er kritisiert diese Haltung scharf und berichtet: „Ich habe Freunde, die für Freizeitaktivitäten wie einen Stadionbesuch des VfB Stuttgart auf Assistenz angewiesen sind. Solche Angebote gehören in den Aufgabenbereich der Offenen Hilfen. Wenn jedoch die Mehrzahl der Stadt- und Landkreise sich weigert, diesen Bereich in die Eingliederungshilfe zu integrieren, wird soziale Teilhabe zunehmend unmöglich.“ Gleichzeitig hebt Benzenhöfer die Notwendigkeit einer personenzentrierten Unterstützung hervor, die Menschen mit Behinderung Aktivitäten ermöglicht, die ihren individuellen Interessen und Bedürfnissen entsprechen: „Uns geht es darum, vielfältige und individuelle Angebote wahrnehmen zu können. Als Rollstuhlfahrer habe ich beispielsweise nichts von einem Gruppenausflug zur Sommerrodelbahn. Jeder Mensch hat unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen.“
Ulf Hartmann, Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg, erklärt dazu: „Leider wird die Freizeitgestaltung in den Planungsgesprächen zur Ermittlung des individuellen Unterstützungsbedarfs zur gleichberechtigten Teilhabe in allen Lebensbereichen in vielen Fällen von den Stadt und Landkreisen als Leistungsträger in ihrer Bedeutung oftmals unterschätzt, nicht erfasst, wegdiskutiert oder in Zeiten knapper Kassen als „nice to have“ oder schlicht zu teuer angesehen. Menschen mit Behinderung haben einen Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe in der Freizeit. Den gilt es jetzt uneingeschränkt zu erfüllen. Die Offenen Hilfen-Dienste vor Ort stehen mit ihren Angeboten und Hilfen bereit, um die ganz konkrete Unterstützung anzubieten, die jemand benötigt, um die eigene Freizeit so zu gestalten, wie es jeder Einzelne für sich selbst möchte. Damit sie diese erbringen können, sind auskömmliche Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen mit den Stadt- und Landkreisen erforderlich. Diese gilt es jetzt endlich zu verhandeln.“
„Teilhabe an Freizeitaktivitäten ist kein Luxus“ beleuchtet eine wichtige Debatte: die fehlende Finanzierung von Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderungen. Doch bei aller berechtigten Kritik an Stadt- und Landkreisen möchte ich die Lebenshilfe selbst hinterfragen. Die Forderung nach finanzieller Unterstützung ist notwendig – doch wie sieht es mit der Umsetzung aus? Ist die Lebenshilfe tatsächlich bereit und in der Lage, den Willen des Einzelnen zu ermitteln und zu akzeptieren?
Der individuelle Wille als Maßstab
Die Lebenshilfe spricht von „personenzentrierter Unterstützung“ und „individuellen Angeboten“. Doch dies setzt voraus, dass der individuelle Wille der betroffenen Menschen nicht nur erfasst, sondern auch respektiert wird. Die Realität sieht oft anders aus:
Anspruch und Wirklichkeit
Die Lebenshilfe fordert berechtigterweise mehr finanzielle Mittel für die Freizeitgestaltung. Doch die zentrale Frage lautet: Wird die Lebenshilfe diese Mittel nutzen, um echte Selbstbestimmung zu fördern? Oder bleibt es bei vorgefertigten Lösungen, die auf Gruppenangebote statt auf individuelle Bedürfnisse setzen?
Immer wieder berichten Betroffene und Angehörige, dass Entscheidungen über Aktivitäten oft pauschal getroffen werden. Es fehlt an flexiblen Strukturen, die es ermöglichen, auf individuelle Wünsche einzugehen. Gruppenzwang und vorgefertigte Freizeitprogramme stehen der Inklusionsvision diametral entgegen.
Verantwortung der Lebenshilfe
Die Lebenshilfe hat die Verantwortung, nicht nur Forderungen zu stellen, sondern auch sicherzustellen, dass der individuelle Wille der Menschen im Zentrum steht:
Fazit: Der Wille des Einzelnen ist entscheidend
Die Forderung nach finanzieller Unterstützung ist ein wichtiger Schritt. Doch die Lebenshilfe steht in der Pflicht, zu beweisen, dass sie bereit ist, den Willen des Einzelnen konsequent zu ermitteln und zu akzeptieren. Ohne diesen grundlegenden Schritt bleibt jede Finanzierung ein bloßes Lippenbekenntnis zur Inklusion.