Staufen (kobinet) Inklusionstheater, so schrieb ich in meiner Oktoberkolumne, tut so, als befände man sich hierzulande mit dem behindertenpolitischen Anliegen „Inklusion“ auf bestem Wege. Schließlich sei auch die Mehrheit der Mehrheitsgesellschaft (und die Mehrheit ihrer politischen Repräsentanten) „für Inklusion“ und wolle „nur das Beste für behinderte Menschen“. Womit realpolitische Interessens- und Machtunterschiede schon unterschlagen, aus dem Spiel sind. Deren gesellschaftlich nicht zu leugnende Tatsache für den Fortbestand von Exklusion und Diskriminierung sorgt. – Wer von und Behinderten hat Bock darauf bei diesem Inklusionstheater mitzuspielen und sich dadurch ins eigene Fleisch zu schneiden? Der nächste Veranstaltungstermin von „Inklusionstheater live“ steht uns nämlich bereits die erste Novemberwoche ins Haus.
Komparsen gesucht, ein Bundesministerium lädt ein
Komparsen für eine Inklusionstheater-Aufführung. Komparsen aus der Behindertenpopulation, speziell solche mit behindertenpolitischem Aktivismushintergrund. Der Veranstalter, der zum Theaterspiel einlädt, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Anlass zum inklusionstheatralischen Feiern ist ihm der 4. November, der 30. Jahrestag zur
Grundgesetzergänzung „niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ sowie 15 Jahre Beitritt zur UN-Behindertenrechtskonvention. Die Bühne, der Veranstaltungsort, das Gasometer in Berlin.
Er wisse nicht, an wen persönlich aus dem Aktivismusspektrum alles eine ministerielle Einladung ergangen sei, so Ottmar Miles-Paul von den kobinet-nachrichten im behindertenpolitischen Monatsrückblick mit Sascha Lang (ihr September-Podcast). Keine Ahnung, wer auf dem Podium sitzen werde, man wolle Aktivisten würdigen, heiße es. „Ich bin mal gespannt, was daraus wird, ich sag mal, gewagt“, so die erste Einschätzung durch Ottmar Miles-Paul. Und weiter: „Sehr schätzenswert vom Ministerium, das zu begehen, aber wenn sie dann mit leeren Händen dastehen, was die Umsetzung des Koalitionsvertrags angeht, oh je.“ – Die Gretchenfrage: „Wie geht man mit so einer Veranstaltung um?“ Ottmar stellt sie, ohne uns seine Antwort zu verraten. Er habe sich jedenfalls schon mal angemeldet.
Abgesehen davon, dass an mich in meiner Eigenschaft als kobinet-Kolumnist bislang keine Einladung aus dem Ministerium ergangen ist, hätte ich keinerlei Lust, an dieser symbolpolitischen Selbstbeweihräucherungsfestvität in der Komparsen- oder Claquersrolle teilzunehmen. Und mich befällt auch kein Gefühl der Fremdscham über die Ministeriumsoberen, keine ihrer behindertenpolitischen Zusagen erfüllt zu haben und die Verratenen und an der Nase Herumgeführten – eine Unverschämtheit – dann auch noch zum Feiern einzuladen. So verhält es sich eben mit der Arroganz der Regierungsmächtigen. Die Frage für uns Regierte lautet ganz nüchtern, machen wir da mit, spielen wir die uns zugedachte Rolle in dem von ihnen initiierten Inklusionstheater mit? – So leicht mir verständlicherweise in dieser Angelegenheit die eigene Entscheidung fällt, so schwer mögen sich aus dem Aktivistenspektrum diejenigen damit tun, die als unsere Interessenrepräsentanten in der Funktion von politischen Mandatsträgern (Landtags- und Bundestagsabgeordnete oder Behindertenbeauftragte) auch formell in die politische Klasse kooptiert worden sind. Sie sind daher stets ein Stück weit mit diesem Machtbetrieb identifiziert und gelangen immer wieder einmal in Loyalitätskonflikte zwischen den Funktionsimperativen und Priorisierungen des Regierungsapparats einerseits und den originären Anliegen und Interessen der von ihnen vertretenen Community, der „Basis“. Ein gar nicht zu vermeidendes Spannungsverhältnis, das nicht tabuisiert, sondern angesprochen und dialogisch ausgetragen werden sollte.
Jüngstes Beispiel einer zwischen authentischer behindertenpolitischer Interessenartikulation und symbolpolitischem Inklusionstheater changierenden Manifestation
Was war das am 10. September? Die Demonstration in Berlin vor dem Reichstag, zu der Behindertenverbände, Selbstvertretungen und diverse aktivistische Gruppen aufgerufen hatten. Wieder einmal eine überschaubare Anzahl von Teilnehmenden, wenn da jetzt tausend Leute mehr dabei gewesen wären, hätte natürlich einen ganz anderen Eindruck gemacht, meint Ottmar rückblickend im Podcast. Und ich – „zwangsimmobilisiert“ mehr als durch Erblindung und Alter durch unsere ableistische Vorgeschichte am Wohnort – gebe ihm recht, ohne Mobilisierungsdruck von der Basis zeigt sich der politische Adressat gleich gar nicht beeindruckt. Selbst wenn das Fähnlein der Protestierenden eine fünf Meter hohe Freiheitsstatue im Schlepptau hat. Tags drauf dann der gnädige Kanzlerbesuch beim Behindertenbeauftragten. Mit Blick auf die koalitionsvertraglich versprochene und noch immer nicht gelieferte Novellierung von AGG und BGG ringt sich der Kanzler einen Konjunktiv ab, man vernimmt ein „könnte“ von seinen Lippen, an denen die Anwesenden erwartungsvoll hängen.
Mir selber liegt auf den Lippen zu kommentieren: Inklusionstheater vom Feinsten! Unsere „Bittgesandtschaft“ vor Ort, einschließlich Hausherr Dusel, spielen mit. Braver geht es nicht, oder sehe ich das falsch? – Auf Kobinet sind die Stellungnahmen von bei der Demo und der Kundgebung anwesenden BehindertenvertreterInnen dokumentiert. Soweit, so gut, darunter etliche, die widerständig-rebellischen Klartext reden. Und Raul Krauthausen gibt einsilbig zu erkennen, dass er eigentlich keinen Bock auf dieses Theater hat (belässt es inhaltlich aber bei einer Wortwiederholung des Bildungssoziologen Aladin El-Maafalani, „die Ampelregierung habe so wenige ihrer Versprechen eingelöst wie noch keine andere Regierung vor ihr“).
So hält einstweilen das Rätselraten an. Kommt noch was, kommt nichts mehr? Zumal auch vom Behindertenrätsel-Beauftragten der Bundesregierung Jürgen Dusel kein rätsellösendes Wort zu vernehmen ist. Nicht wenige unter uns wollen Justizminister Buschmann von der Kleinstpartei „Die FDP“ als den Hauptblockierer ausgemacht haben, als hätten sie noch nie gehört, dass die Richtlinienkompetenz der Regierungspolitik beim Kanzler liegt (hallo, 75 Jahre Grundgesetz!).
Am Morgen des dritten Oktober schreibt Ottmar in den kobinet-nachrichten (nachdem er einleitend 30 Jahre behindertenpolitischen Stillstand und „vertane“ Zeit beklagt hat): „Doch nun gehen wir ins 35. Jahr der Wiedervereinigung und die Hoffnung, dass wir entscheidende Schritte für mehr Barrierefreiheit erreichen, stirbt zuletzt – bleiben wir dran, vielleicht kämpfen endlich einmal ein paar zentrale AkteurInnen für gute Rahmenbedingungen für ein barrierefreies Deutschland.“ – Ach ja, vielleicht. Und vielleicht schmilzt mit dem Packeis der Polkappen demnächst auch die Arroganz der Regierungsmächtigen. Uns Ohnmächtigen bleibt derweil nichts als geduldiges Rätselraten und der Strohhalm einer immer als letztes sterbenden Hoffnung.
Beim vom Kolumnisten Hans-Willi Weis verwendeten Begriff „Inklusionstheater“ fielen mir sofort,als wäre es gestern, die Vorgänge um die offizielle Eröffnungsveranstaltung des UNO-Jahres der Behinderten 1981 ein, die am 24. und 25. Januar 1981 in der Dortmunder Westfalenhalle stattfanden und ich – auch die Bühne besetzend – war dabei. Hierüber wurde von kobinet unter https://kbnt.org/skmpsv3 ausführlich berichtet – und lässt sich durchaus 1 zu 1 auf die kommende – eher sehr verlogene und peinliche – „Veranstaltung“ übertragen.
Diese Kolumne kommt meinem Empfinden der momentanen Inklusionspraxis sehr nahe. Beim Lesen muss ich an Fritz Teufel denken, der 1986 im Fernsehen den Minister Hans Matthöfer mit Tinte bespritzt hat. Da war ich zu Besuch bei meinen Eltern und am Fernseher live dabei. Meine Eltern wussten nicht, wem sie Applaus spenden sollten, weil sie einerseits eingefleischte CDU-Wähler waren und Matthöfer bei der SPD und anderseits keinem Anarchisten Beifall klatschen konnten. Aber die Aktion beeindruckte nachhaltig.
Ich biete mich als Komparse an.
Hat jemand noch irgendwo Zaubertinte? Spritzpistole hätte ich. Die Enkelkinder würden mir eine ausleihen.
Das wäre mal ne Aktion fürs Inklusionstheater!
Stephan Laux