Berlin (kobinet) Die befürchteten Tendenzen in der deutschen Rechtsprechung, die rechtliche Zulässigkeit auf medizinische Zwangsmaßnahmen auf Lebensbereiche außerhalb eines stationären Krankenhauses auszuweiten, geben Anlass die Expertise verschiedener menschenrechtlicher Fachkreise in den Blick zu nehmen. Es soll aufgezeigt werden, dass die mögliche Ausweitung des Eingriffs in die Grund- und Menschenrechte nur als rückschrittlich verstanden werden kann.
Die Menschenrechte am Leben zu halten und durchzusetzen kann nur bedeuten, diese Tendenzen kritisch zu betrachten und gegen sie anzukämpfen. Sieben zentrale Menschenrechtserfordernisse des folgenden Textes werden diesen Appell untermauern und zahlreiche Unterstützungsformen vorgestellt, die in schweren Krisensituationen ohne den Einsatz von Zwang auskommen.
1. Die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der psychosozialen Versorgung
Der UN-Menschenrechtsrat, das UN-Menschenrechtskommisariat, der UN-Fachausschuss CRPD, die UN-Sonderberichterstatter für Gesundheit, zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen und über Folter fordern die Staaten nachdringlich auf, einen Paradigmenwechsel im Bereich der psychosozialen Versorgungsstrukturen zu veranlassen. Dieser betrifft sowohl die klinische Praxis als auch politische Entscheidungen sowie die Wissenschaft und die medizinische Ausbildung. Der UN-Menschenrechtsrat ermahnt die Staaten in einer Resolution von 2020 nachdrücklich, sich mit den grundlegenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Determinanten von Gesundheit zu befassen und die Bandbreite an Barrieren, die sich aus Ungleichheit und Diskriminierung ergeben und die uneingeschränkte Wahrnehmung der Menschenrechte im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit behindern, ganzheitlich anzugehen (A/HRC/RES/43/13, Abs. 10).
Grundsätzlich kritisieren diese menschenrechtlichen Fachkreise, dass die Fokussierung auf medizinische und neurobiologische Ursachenerklärungen für die Entstehung von Krisen nicht nur einseitige Behandlungskonzepte – oft unter massivem Gebrauch von Psychopharmaka – fördert, sondern dadurch auch die finanziellen Mittel zu einseitig in institutionalisierte Behandlungskonzepte und Einrichtungen fließen. Dies verschärft das Ungleichgewicht in den Ressourcen weiter. Dabei wird außer Acht gelassen, dass viele Teile des Gesundheitssystems, z. B. Pflegeheime und psychiatrische Kliniken, allzu oft selbst Kulturen der Gewalt, Stigmatisierung und Hilflosigkeit hervorbringen, die wiederum Diskriminierung, Zwang und Übermedikalisierung in der psychiatrischen Versorgung verstärkt haben.
Wohnortnahe, flächendeckende, niedrigschwellige und menschenrechtskonforme – also ohne Zwang auskommende – Versorgungsangebote sind grundlegend, um Menschen in starken Krisensituationen ohne sozialen, physischen oder emotionalen Zwang zu begegnen.
2. Schutz der freien und informierten Einwilligung als unveräußerliches Menschenrecht
Die Garantie der freien und informierten Einwilligung ist grundlegend, um die Achtung der Autonomie, der Selbstbestimmung und der Menschenwürde der/des Einzelnen zu schützen. Verschiedene Menschenrechte, die unteilbar, voneinander abhängig und miteinander verknüpft sind, werden von der freien und informierten Einwilligung in Bezug auf die eigene Gesundheit berührt:
– das Recht auf Gesundheit
– das Recht auf Selbstbestimmung
– das Recht auf Freiheit vor Diskriminierung, Sicherheit und Würde
– die Anerkennung vor der Justiz
– das Recht auf Meinungs- und Ausdrucksfreiheit (UN-Sonderberichterstatter für Gesundheit 2009, A/64/272, Abs. 19).
Auf den UN-Sonderberichterstatter für Gesundheit berufend, legt der Bericht Mental Health and Human Rights des UN-Hochkommissariats aus, dass eine informierte Einwilligung sich als Entscheidungsprozess darstellt, der die Autonomie der Patient*innen anerkannt und schützt. Das heißt, die*der Patient*in ist maßgebend in der medizinischen Entscheidungsfindung, und die für die Entscheidung notwendigen medizinischen Fähigkeiten werden durch professionell Tätige gewährleistet (A/HRC/34/32 2017, Abs. 17).
Die Einwilligung in eine Behandlung ist nur frei und informiert, wenn 1. vollständige Informationen zur Behandlung vorliegen, d. h. über die Art und Weise, die Folgen, den Nutzen und die Risiken und die mit der Behandlung verbundenen möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen (unerwünschte Wirkungen) aufgeklärt und 2. ausführlich auf die Möglichkeiten und Verfügbarkeit von Alternativen hingewiesen wurde (A/64/272 2009, Abs. 19). Der UN-Sonderberichterstatter für Gesundheit legt im gleichen Bericht die wesentlichen Kriterien einer informierten Einwilligung fest:
1. die uneingeschränkte Anerkennung der rechtlichen Handlungsfähigkeit
2. die uneingeschränkte Anerkennung der persönlichen Autonomie und
3. Vollständigkeit der Informationen (A/64/272 2009, Abs. 10-23)
In einer Resolution des UN-Menschenrechtsrats (A/HRC/RES/43/13) von 2020 wird außerdem festgehalten, dass für die Garantie einer freien und informierten, autonomen Entscheidungsfindung staatlicherseits eine Vielfalt von Unterstützungsangeboten zu gewährleisten ist (A/HRC/RES/43/13, Abs. 7). Genügend ohne Zwang auskommende Ideen, Ansätze, Erfahrungen, Praktiken gibt es! (Siehe unten im Text)
3. Schutz vor Misshandlung und Zwang
Der Sonderberichterstatter über Folter fordert 2013 ein absolutes Verbot aller erzwungenen und nicht einvernehmlichen medizinischen Behandlungen und Eingriffe gegen Menschen mit Behinderungen. Dies schließt die nicht einvernehmliche Verabreichung bewusstseinsverändernder Psychopharmaka mit ein. Die Verpflichtung, psychiatrische Zwangseingriffe zu beenden, gilt sofort, und fehlende finanzielle Mittel rechtfertigen keinen Aufschub (A/HRC/22/53, Abs. 89. (b), 2013). [1]
Die Anmerkungen des UN-Generalsekretärs zu Folter und anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen oder Bestrafungen betonen, dass bei fahrlässigem Verhalten zwar der nach Artikel 1 UN-Folterkonvention erforderliche Vorsatz nicht vorliegt, dennoch kann es der Misshandlung gleichkommen, wenn medizinische Maßnahmen zu starken Schmerzen und Leiden führen (A/63/175, 2008, Abs. 49).
4. Das Recht auf Leben in der Gemeinschaft
Das Leben in der Gemeinschaft für Menschen psychosozialen Nöten umfasst mehr als nur den physischen Wohnort. Zum Leben in der Gemeinschaft, Inklusion gehören:
– Niedrigschwellige soziale Unterstützungsmöglichkeiten (z.B. assistiertes Wohnen)
– Zugängliche und kostenfreie Gesundheitsversorgung
– Sichere finanzielle Lebenssituation und Unterstützung dabei
– Zugang zu Freizeit, Bildung und Arbeit (WHO und Weltbank, Report on Disability 2011, S. 148).
5. Beendigung der Diskriminierung durch Gefährdungsannahmen
Der Bericht des UN-Sonderberichterstatters für Gesundheit 2019 kritisiert die Konstruktion der Gefährdungsannahme bei Menschen mit bestimmten psychiatrischen Diagnosen. Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass Personen mit bestimmten Diagnosen ein hohes Gewaltpotenzial aufwiesen. Dennoch untermauert dieser Mythos nach wie vor die Legitimation diskriminierender Psychiatriegesetze (A/HRC/41/34, Abs. 50).
6. Die „medizinischen Notwendigkeit“ ist kein Freibrief für Zwangsmaßnahmen
Die Doktrin der „medizinischen Notwendigkeit“ ist nach wie vor ein Hindernis für den Schutz vor willkürlichen Missbrauch im Gesundheitswesen. Es ist daher wichtig klarzustellen, dass eine Behandlung, die unter Verstoß gegen die UN-BRK – sei es durch Zwang oder Diskriminierung – erbracht wird, nicht durch die Doktrin der medizinischen Notwendigkeit legitim oder gerechtfertigt sein kann (A/HRC/22/532013, Abs. 35).
Der UN-Sonderberichterstatter über Folter betont 2020 wiederholt, dass Zwangsmaßnahmen, auch wenn sie vermeintlich „wohlwollenden“ Zwecken dienen, niemals gerechtfertigt sind. Sein Bericht zeigt auf, dass Praktiken wie z. B. die psychiatrische Intervention auf Grundlage von „medizinischer Notwendigkeit“ oder im „Besten Interesse“ der*des Patient*in generell hochgradig diskriminierende und gewaltvolle Versuche sind, „die Persönlichkeit, das Verhalten oder die Entscheidungen des Opfers (victims) zu kontrollieren oder zu „korrigieren“ und fast immer schwere Schmerzen oder Leiden verursachen.“ (A/HRC/43/49, Abs. 37., Ü.d.A.)
7. Schutz der Individualrechte, der rechtlichen Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung
Der Bericht des UN-Hochkommissariats „Mental Health and Human Rights“ 2017 stellt heraus, dass psychische Gesundheit nicht nur ein gesundheitliches oder medizinisches Anliegen sein kann, sondern vielmehr eine Frage der Menschenrechte, der Würde und der sozialen Gerechtigkeit ist. Er gibt einen Überblick über die wichtigsten Herausforderungen, denen Menschen mit psychischen Problemen und psychosozialen Behinderungen gegenüberstehen. Der Bericht fordert die vollständige Umsetzung der Menschenrechte staatlicherseits (A/HRC/34/32, Abs. 3). Denn die Situation von Menschen mit psychischen Problemlagen und Menschen mit psychosozialen Behinderungen weltweit zeigt, dass die grundlegenden Persönlichkeits- und Individualrechte, unveräußerliche Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmungsrechte im Bereich psychischer Gesundheit dringend mehr geschützt werden müssen (A/HRC/34/32, Abs. 34).
Der Bericht betont, dass jegliche Zwangsinstitutionalisierung in der psychosozialen Versorgung das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit verletzt. Viele psychiatrische Praktiken verstoßen gegen Artikel 12, 14, 15, 16, 17 und 25 (d) der UN-BRK. Zwangsbehandlungen und schädliche Praktiken wie die Verwendung von Fesseln, Zwangsmedikation und Übermedikation verletzen das Recht auf freie und informierte Einwilligung und können der Folter gleichkommen (A/HRC/34/32 2017, Abs. 31, 33).
Anmerkungen der Autorin
Es existieren zahlreiche Alternativen zum Zwang in der Psychiatrie, doch fehlen oft ausreichende Forschungs- und Umsetzungsressourcen. Dabei gibt es vielversprechende und teils wissenschaftlich fundierte Ansätze, um Menschen in schweren Krisensituationen auf andere Weise zu unterstützen, als mit dem Entzug von Grund- und Menschenrechten:
– nicht-medizinische und z.B. von Gleichaltrigen durchgeführte Krisendienste (Bola et al. 2005; Bola et al. 2009; Ostrow und Hayes 2015)
– Trauma-informierte Ansätze (Sweeney et al. 2016)
– Stimmenhörer- Arbeit (Corstens et al. 2014)
– kultur-sensible Dienste (NiaNia et al. 2016; Maar et al. 2009)
– Offener Dialog (Seikkula et al. 2006)
Die Liste von Unterstützungsformen, die ohne Anwendung von Zwang auskommen, ist lang.
Auf der Suche nach dem Rosengarten-Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen (2012), Hg. Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.: https://weglaufhaus.de/wp-content/uploads/2013/08/Dokumentation_Rosengarten_v2013.pdf
Statt Psychiatrie 2 (2007), Hg. Lehmann/Stasny
WHO (2021): Guidance and technical packages on community mental health services Promoting person-centred and rights-based approaches: https://www.who.int/publications/i/item/guidance-and-technical-packages-on-community-mental-health-services
Intentional Peer Support: https://www.intentionalpeersupport.org/
La Casa Polar: https://lacasapolar.org/el-proyecto/que-es-la-casa-polar
ask! Außerstationäre Krisenbegleitung e.V.: https://ask-freiburg.net/
Broschüre Hilfe jenseits der Psychiatrie – Die Bochumer Krisenzimmer:
https://bpe-online.de/broschuere-hilfe-jenseits-der-psychiatrie-die-bochumer-krisenzimmer/
Ostrow/Croft, Peer Respites: A Research and Practice Agenda, Psychiatr Serv. 2015 June 1; 66(6): 638–640: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4475343/pdf/nihms-695052.pdf
Stastny et. al, Crisis Response as a Human Rights Flashpoint: Critical Elements of Community Support for Individuals Experiencing Significant Emotional Distress, HHR (2016): https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7348421/pdf/hhr-22-01-105.pdf
Wer behauptet, es gäbe in bestimmten Situationen keine Handlungsoptionen die ohne psychiatrischen Zwang auskämen, sollte einen genaueren Blick auf die genannten Beispiele werfen. Die Vielfalt an Möglichkeiten zeigt, dass es Zeit ist, alte Denkmuster von Strafe und Zwang hinter sich zu lassen und neue, menschenrechtskonforme Ansätze zu entdecken.
—–
[1]
Menschenrechtskommissarin des Europarat, CommDH/Speech(2019)7 – It is time to end coercion in mental health: https://rm.coe.int/parliamentary-assembly-of-the-council-of-europe-debate-on-ending-coerc/168095114a
Parlamentarische Versammlung des Europarat, Resolution 2291 (2019) – Ending coercion in mental health: the need for a human rights-based approach: https://pace.coe.int/en/files/28038/html
– Mental health and human rights, Report of the United Nations High Commissioner for Human Rights, A/HRC/34/32 (2017), Abs. 34 und Gesetze und Maßnahmen aufheben, die eine unfreiwillige Einweisung ermöglichen, Abs. 31: https://undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FHRC%2F34%2F32&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False
– Mental health and human rights, The Human Rights Council, A/HRC/RES/36/13 (2017): https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G17/295/00/PDF/G1729500.pdf?OpenElement
– Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, A/HRC/40/54 (2019), Abs 64ff: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G19/005/03/PDF/G1900503.pdf?OpenElement
– Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, Juan E. Méndez, A/HRC/22/53 (2013), Abs. 32 und 89 a) (Verbot jeglicher psychiatrischer Zwangsmaßnahmen: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G13/105/77/PDF/G1310577.pdf?OpenElement
– Allgemeinen Bermerkungen Nr. 1 (2014), CRPD/GC/C/!
– World Health Organization’s QualityRights materials for training, guidance and transformation https://www.who.int/publications/i/item/who-qualityrights-guidance-and-training-tools