Berlin/Paris (kobinet) Während der Olympischen und Paralympischen Spiele war Bettina Theben in Paris und war tief berührt von dem, was sie erleben durfte. "Incroyable (unglaublich) - es waren unglaubliche, begeisternde Spiele", schreibt Bettina Theben in ihrem Bericht, den sie den kobinet-nachrichten nun zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.
Bericht von Bettina Theben
Tous ensemble
Während der Olympischen und Paralympischen Spiele war ich in Paris und bin tief berührt von dem, was ich erleben durfte. Incroyable (unglaublich) – es waren unglaubliche, begeisternde Spiele.
Aus verschiedenen Gründen:
Die Wettkämpfe fanden mitten in der Stadt (und umliegenden Gemeinden) statt – Paris fête les jeux (Paris feiert die Spiele) – es ist nicht nur das nicht das ikonische Ambiente (zum Beispiel die Arena am Eiffelturm, Wettkämpfe am Place de la Concorde, vor dem Schloss Versailles), sondern auch die Tatsache, dass bestehende Sportstätten genutzt (oder mobile wie ein temporäres Stadion für die Rollstuhl-Rugby-Spiele) und nicht überdimensionierte neue gebaut werden. Paris fête les jeux heisst auch: Die Bevölkerung wird einbezogen: In jedem Artondissement gab es eine zentrale Fanzone, in der es neben der Großleinwand kostenlose Sport- und Freizeitangebote gab – jeden Tag, inklusiv (Ausprobieren von Parasportarten, zugängliche Orte, barrierefreie Angebote). Der Vergleich mit Berlin drängt sich zwangsläufig auf und deswegen möchte ich hervorheben: dies alles war kostenlos, staatlich organisiert und statt der Getränke von Sponsoren konnte man sich zum Beispiel Pariser Leitungswasser abfüllen (wie dies übrigens bereits seit Jahren gratis möglich ist).
Dazu zentrale öffentliche und kostenlose Veranstaltungen wie den Parc des Champions – eine Möglichkeit, jeden Tag in grandioser Kulisse zwischen Eiffelturm und Trocadero – (dort, wo die offizielle Eröffnung stattfand) die Medaillengewinner zu treffen, gemeinsam zu singen und Übertragungen zu schauen). Diese Möglichkeit haben täglich zahlreiche Menschen genutzt, die Stimmung war immer gut und ausgelassen.
Dieses Konzept passt sich in eine Lokalpolitik, deren Ziel nicht nur die Transformation zu einer Metropole, die sich den Erfordernissen des Klimawandels anpasst und die eine hohe Aufenthaltsqualität für die Bürger*innen hat (Aufwertung städtischer Zonen zB am Seine-Ufer, Begrünung der Stadt, Förderung barrierefreien lokalen Handels, Umnutzung von Straßen zu Terrassen) und das zugleich der Partizipation der Bürger*innen dient (zB Einbeziehung in Entscheidungen der Lokalpolitik, etwa das Verbot für Elektroroller, Budget für lokale Maßnahmen) ein.
Die Stimmung war – auch außerhalb dieser Orte – grandios und es ist ein berührende Erlebnis, zB mit 50.000 Menschen im Parc des Prices beim Fußball-Finale die Marseillaise zu singen.
Ebenso berührend – eben weil aus deutscher Sicht ungewohnt – ist der Umgang mit Behinderung: Barrierefreiheit heißt während der Spiele nicht nur stufenlose Zugänge und nutzbare Toiletten (der traurige Standard, auf den das Wort ja in Deutschland häufig reduziert ist), es bedeutet auch: Taktile Orientierung, Rückzugsräume für Menschen, die von den vielen Eindrücken belastet sind, es bedeutet zB Tablets, auf denen die Übertragung taktil dargestellt ist, also etwa der Weg des Balles tastbar wird.
Es gibt einen „prioritären Eingang“, den man nutzen kann , aber nicht muss. Wer einen Rollstuhl nutzt, kann die entsprechenden Plätze buchen, muss es aber nicht. Vor Ort dann keine unerfreuliche Diskussion über Rettungswege etc. Bei mehreren Veranstaltungen hatte ich 5 unserer Kinder mit. Auch hier keine Diskussion, dass nur eine Begleitperson zulässig ist o.ä.
Sicher haben die Franzosen ein anderes, weniger verkrampftes, Verhältnis zu Normen (oder dem, was in Deutschland oft dafür gehalten wird, mit dem Ergebnis, dass eine Feuerwehr-Verordnung dann über dem GG zu stehen scheint), dennoch ist es eine Frage dee Haltung und des Respektes vor behinderten Menschen. Ein Grund liegt in anderen Tradition der französischen Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik, die (ähnlich wie in den USA) auf der Tradition der Bürgerrechte und damit der grundsätzlichen Gleichbehandlung aller basiert und nicht, wie in Deutschland, auf der Basis der Sozialgesetzgebung (und damit eine Bedürftigkeit generiert).
Ich habe es jedenfalls sehr genossen, wie alle anderen behandelt zu werden und selber zu entscheiden, welchen Eingang ich nehme, mit wem ich mich wo aufhalte. Ein Satz, der dabei – auch außerhalb der Spiele – häufig fällt: „Wie Sie möchten“. Beim Schreiben fällt mir, wie wir selbstverständlich das sein sollte und wie wenig selbstverständlich es häufig ist…
Sicher auch aufgrund dieser Haltung habe ich wunderbare Wettkämpfe erlebt, mitten im Publikum – eben „tous ensemble“.
Ebenso begeistert hat mich, dass die Paralympischen Spiele, die in denselben Sportstätten stattfinden, wie die Olympischen Spiele, vor genauso großartiger Kulisse und vielen zehntausenden Zuschauern. Bei den Wettkämpfen, die ich besucht habe, gab es keine leeren Plätze (obwohl die Karten nicht besonders preiswert waren), es gab ein begeistertes Publikum, das sich in Zusammensetzung und Stimmung, nicht von der bei den olympischen Wettkämpfen Unterschied. Incroyable …
Ich konnte mir bis zu den Spielen nicht vorstellen, wie der öffentliche Nahverkehr im Großraum Paris nicht nur mit der großen Anzahl an Fahrgästen, sondern auch an mobilitätsbehinderten Fahrgästen zurecht kommt. Aber es hat geklappt. Alle Verkehrsmittel, die in den letzten Jahren gebaut wurden, sind barrierefrei. Dazu eine hochmoderne Métro-Linie 14, die im 2-Minuten-Takt quer durch die Stadt fährt, neue Regionalzüge (ebenso wie die Metro mit mindestens einem Aufzug) und ein effizientes Straßenbahn- und Bussystem. Die immer mit stufenlosem Zugang versehenen und damit ohne fremde Hilfe nutzbaren Straßenbahnen fahren überwiegend auf eigenen Gleisen und sind damit weniger stauanfällig.
Dadurch, dass die Innenstadt von Paris überwiegend Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen vorbehalten ist, also entweder gar kein Autoverkehr stattfindet oder es breite Spuren für Busse und zusätzlich für Fahrradfahrer gibt, stehen Busse kaum im Stau. Alle Busse sind mit automatischen Rampen ausgestattet. Als jemand, die in Berlin mit dem Rollstuhl kaum einen Bus benutzt, weil ich wieder auf die öffentliche Ansprache durch die Busfahrer*innen, die umständliche Prozedur, noch die steilen Rampen, Lust habe, sondern gerne einfach und selbstverständlich einsteigen möchte, ist das in Paris möglich: Jeder Bus, der übrigens bei der Einfahrt eine automatische Ansage der Liniennummer und des Fahrtziels hat, so dass auch sehbehinderte Menschen sich orientieren können, verfügt über eine automatische Rampe. Der Fahrer fährt sie innerhalb kürzester Zeit aus – ohne Diskussion- , dasselbe beim Ausstieg. Busse haben in der Regel 3 Rollstuhlplätze. Diesen unaufgeregt und zuverlässigen Nahverkehr schätze ich sehr (Aufzüge werden übrigens in der Regel am selben Tag repariert).
Das verändert auch die eigene Haltung (und natürlich auch die Wahrnehmung durch andere), ebenso wie die Fortbewegung innerhalb der Stadt. Es gibt in Paris natürlich überwiegend ältere Straßen und Gehwege, tatsächlich enthalten sie aber wenig Löcher oder andere Unebenheiten und auch das Kopfsteinpflaster ist so verfugt, dass es mit dem Rollstuhl gut befahrbar ist. Bordsteine sind durchweg abgesenkt, so dass man tatsächlich, was in Berlin undenkbar ist, sich durch die Stadt bewegen kann, ohne ständig auf den Boden schauen zu müssen. Allein diese Fortbewegung mit erhobenem Kopf, ohne ständig auf Hindernisse zu stoßen, verändert viel – bei der eigenen Wahrnehmung aber auch derjenigen, der anderen. Dazu kommen die zahlreichen gut ausgebauten Fahrradstraßen, die mit dem Rollstuhl selbstverständlich nutzbar sind und einem eine schnelle Bewegung durch die Stadt ermöglichen.
Als Berlinerin war ich sehr skeptisch, ob das Konzept der inklusiven „Spiele in der Stadt“ und dem Gleichklang von Olympischen und Paralympischen Spielen aufgeht und bin sehr dankbar dafür, erlebt haben zu können, dass es aufgeht und welchen nachhaltigen Effekt dies für die Bevölkerung, die Sicht auf behinderte Menschen hat. Am Sonnabend fand vor über 70.000 begeisterten Menschen eine letzte Danksagung und Parade der (Para)Athleten statt. Auch dies ein sehr berührendes Erlebnis mit vielen Emotionen. Hier wurde die Trennung in olympische und paralympische Sportler*innen aufgehoben, vielleicht ein erster Schritt zu gemeinsamen Spielen… auf die Frage, welche Finals sie besonders begeistert haben, habe ich häufig die Antwort „Rugby“ und „Cécifoot“ (Blindenfussball) gehört. In beiden Fällen hat die Mannschaft Frankreichs die olympische bzw paralympische Goldmedaille gewonnen. Den Menschen, mit denen ich sprach, ging es um die Würdigung sportlicher Leistungen – hier zurecht ganz gleichberechtigt.
Beim Triathlon und Parathriathon fand das Schwimmen in der Seine statt. Vom sportlichen Gehalt kann man sich über diese Idee streiten, ihre Umsetzung, an der bis zuletzt große Zweifel geäußert wurden, zeigt aber, dass es sich lohnt, an einer Vision festzuhalten und diese zu verfolgen – tous ensemble.