Villmar - Weyer (Kobinet) Stephan Laux Kater Mikesch hat zugegebenermaßen wenig Ähnlichkeit mit einem Murmeltier. Dennoch hat er es auf das Titelbild dieser Kolumne geschafft. Nicht nur, weil sein Porträt aus urheberrechtlichen Gründen einfacher zu verwenden ist, sondern auch weil sein Besitzer ihn vollkommen selbstbestimmt in seine Wohngemeinschaft aufgenommen hat. Ein minimaler Zusammenhang zum Inhalt dieser Kolumne, die sich eigentlich mit dem Thema sexuelle Selbstbestimmung in der Behindertenhilfe befasst, erschließt sich vielleicht am Ende des Textes, bei dem die Namen aller übrigen Protagonist*innen geändert sind.
Vor ein paar Tagen war ich zu einem Gesprächskreis zu dem Thema „Liebe, Sex und Partnerschaft“ eingeladen. Das Angebot richtete sich an Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen und wurde von zwei engagierten, jungen Mitarbeitenden der Behindertenhilfe initiiert, die das Thema „Sexualität in der Behindertenhilfe“ aus seiner Tabuzone holen wollen.
Zur Gesprächsrunde trafen sich, außer den zwei Initiator*innen und mir, Carina, eine weitere Begleiterin, die aber aus Ihrer Einrichtung niemanden dabeihatte. Sophia war mit ihrem leicht kognitiv beeinträchtigten Bruder Fabio da. Die beiden suchen für den Bruder eine Freundin, einen Freund oder einen Bekanntenkreis, mit dem er sich auf Augenhöhe unterhalten oder etwas unternehmen kann. Die sollten praktisch nicht zu sehr beeinträchtigt, aber auch nicht zu intellektuell sein. Pascal, ein junger, ebenfalls leicht beeinträchtigter Mann (er fährt einen Motorroller) lebt bei seinen Eltern, die ihm verbieten, engere Kontakte über das Internet mit potenziellen Partner*innen zu intensivieren. Von den Eltern ist keiner mitgekommen. Ein Paar, Klaus und Martina. Klaus, aus dem betreuten Wohnen. Martina aus einem Wohnheim. Ich nenne solche Klient*innen gerne „Vorzeige geistig beeinträchtigte Menschen“. Adrett gekleidet, mäßig eingeschränkt, manchmal amüsant, stolz auf ihren Job in der WfbM. Bei ihnen läuft’s. Sie treffen sich, tanzen zusammen, kochen und haben Sex, wobei sie ihr Zimmer abschließen können/dürfen. Wenn ihre Sondereinrichtung einen Imagefilm über „sexuelle Selbstbestimmung“ drehen würde, würden sich die beiden als Hauptdarsteller*innen anbieten. Und alle nicht beeinträchtigten Zuschauer sagen: „Oh wie süß, die beiden!“
Und dann war noch Beatrice. Sie ist mit einem ihrer ehemaligen Begleiter gekommen. Daraus hat sich eine Freundschaft entwickelt. Er wird sie auch zurück ins Wohnheim und ins Bett bringen. Weil die aktuellen Betreuer*innen keine Zeit haben. Sie sitzt im Rollstuhl und ist stark mobilitätseingeschränkt. Keine Ahnung, warum sie in einem Wohnheim für kognitiv beeinträchtigte Menschen untergebracht ist? Sie ist eloquent, aufgeweckt, selbstbewusst und ein bisschen frech. Wahrscheinlich sind es die letzten beiden Eigenschaften, die sie dorthin gebracht haben. Sie erzählt, ihre Eltern hätten gesagt, dieser Heimplatz sei ein Glücksfall für sie und deshalb solle sie sich nicht so oft beschweren. Sie erzählt auch, die Betreuer*innen hätten nicht immer Zeit, sie nach sexuellen Handlungen pflegerisch zu versorgen. Ich habe mich nicht getraut, zu fragen, was das beinhaltet. Im Laufe des Abends stellt sich heraus, dass es wohl darum gehen könnte, einen Vibrator zu reinigen und sie zu duschen. Das ginge dann nur an Wochenenden oder wenn die Wohngruppe personell gut besetzt ist.
Der Nachmittag und die Teilnehmenden reinszenieren viel von dem, was ich an der Behindertenhilfe kritisiere und erlebt habe: Bewohner*innen von Sondereinrichtungen, die darauf getrimmt wurden, ihre Lebensrealität als glücklich zu empfinden. Kognitiv geringer beeinträchtigte Menschen mit engagierten Verwandten, die deswegen alleine leben und einem normalen Job nachgehen können (Wenn die Verwandten als Lobby wegbrechen, landen die früher oder später in einer Sondereinrichtung). Kognitiv für mich kaum wahrnehmbar, mehrfach aber renitente beeinträchtigte Menschen, die aufgrund ihres konsequenten Beharrens auf Selbstbestimmung Eltern und Begleiter*innen irgendwann überfordern und denen man dann herausforderndes Verhalten attestiert (Systemsprenger). Die haben es in Sondereinrichtungen schwer (vielleicht am schwersten), weil sie ständig argumentieren. Am Ende noch mit Grundrechten! Entweder gelingt es sie zu „Bewohner*innen von Sondereinrichtungen, die darauf getrimmt wurden ihre Lebensrealität, als glücklich zu empfinden“ umzupolen (was man in der „Veterinärpädagogik“ z.B. bei Pferden auch als „Willen brechen“ bezeichnet) oder Sie werden von Einrichtung zu Einrichtung weitergereicht. Zwischendurch landen sie vielleicht auch mal wieder bei den Eltern (Heimvertrag gekündigt).
Es ist dann auch Beatrice, die für meinen Höhepunkt des Abends sorgt. Mitten in einem Small Talk darüber, ob man nicht eine Art Datingparty für kognitiv beeinträchtigte Menschen organisieren sollte, kommt sie auf das eigentliche Thema zurück: „Ich möchte gerne mal eine Domina besuchen!“ Das sorgt nicht nur bei mir für ein „Raunen im Saal“ und treibt das Gespräch in eine zusätzliche Dimension. Der ich irgendwann nicht mehr folgen kann. Ihr ehemaliger Betreuer macht Beatrice Hoffnungen, er könne versuchen, ihr Bedürfnis irgendwie zu organisieren.
Ich denke die restliche Zeit nur darüber nach: Warum sind jetzt keine Betreuer, Eltern oder verantwortliche Leitungen von Beatrice Einrichtungen hier? Denen man jetzt sagen könnte:
„Gerade hat Beatrice vor Zeugen ein Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung geäußert. Was macht Ihr jetzt? Die Ihr das BTHG und die UN BRK so toll findet. Die ihr in jedem 2. Satz „Inklusion“ oder „Teilhabe“ oder „Barrierefreiheit“ sagt???“
Lasst mich Eure Ausreden hören und sie Euch um die Ohren hauen!
Aber sie waren nun mal nicht dabei.
Also war für mich das Fazit des Abends: Ich vermute, Klaus und Martina werden gleich vom einrichtungseigenen Bus abgeholt. Vielleicht werden sie noch etwas zusammen kochen und ein bisschen kuscheln. Pascal wird mit seinem Roller heimfahren und noch ein wenig im Internet surfen. Fabio hat Handynummern mit Beatrice ausgetauscht. Sophia wird mit Carina eine Dating-Party organisieren. Der ehemalige Begleiter von Beatrice wird mit seiner Domina-Vermittlung scheitern und wahrscheinlich Ärger bekommen.
In einem Wohnheim, in dem es den Bewohner*innen wahrscheinlich noch nicht einmal erlaubt ist, ein Haustier anzuschaffen, weil das dann ja auch noch vom raren, überlasteten und ständig kranken Personal gefüttert und zum Tierarzt gebracht werden müsste, wird ein Dominabesuch nicht ins Konzept und auf keinen Fall auf die Werbeflyer der Einrichtung passen. Eher noch ein Haustier.
Dafür würde ich der Einrichtung das Foto meines Katers zur Verfügung stellen. Der Kater selbst müsste aber weiter bei mir wohnen!
Stephan Laux September 2024
Lieber Stephan,
dein Beitrag spricht einige essentielle Punkte an, die mich sehr zum Nachdenken gebracht haben. Besonders die Formulierung aus dem mir bekannten Veranstaltungshinweis, dass sich das Angebot an „Menschen mit und ohne Behinderung“ richtet, bleibt mir im Kopf. Solche Formulierungen sollten wirklich der Vergangenheit angehören. Sie schaffen eine Trennung, die wir längst überwunden haben sollten. Es suggeriert, dass Menschen mit Behinderung nicht selbstverständlich Teil des Ganzen sind und extra „willkommen“ geheißen werden müssen – was in sich schon diskriminierend wirkt. Wahre Inklusion sollte nicht betonen, wer „mit“ und wer „ohne“ ist.
Ähnlich verhält es sich mit Details, dass die Initiatoren „Mitarbeitende der Behindertenhilfe“ waren. Diese Tatsachen schaffen ein unbewusstes Machtgefälle und verstärken die Vorstellung, dass es immer eine Gruppe gibt, die hilft, und eine andere, die Hilfe empfängt. Solange wir solche Begriffe nutzen, halten wir diese Trennungen aufrecht. Es braucht dringend eine neue Sprache, die alle Menschen als gleichberechtigt und aktiv in der Gesellschaft sieht – ohne diese künstlichen Kategorisierungen.
Eine Begegnung auf Augenhöhe fühlt sich für mich anders an.
Da sieht man, dass gut gemeint nicht immer gut gemacht ist. Manchmal wird der Wunsch, Inklusion zu fördern, durch die falsche Sprache oder Struktur eher behindert. Vielleicht können wir in Zukunft nicht nur das Denken, sondern auch die Sprache verändern, um wirkliche Inklusion zu erreichen.
Beste Grüße,
Ralph
Lieber Ralph,
das von Dir angesprochene Machtgefälle wird es wohl so lange geben, wie es die Behindertenhilfe geben wird. Alleine schon deswegen, weil vor allem kognitiv beeinträchtigte Menschen meistens auf Fürsprecher*innen angewiesen sind. Vor der Inklusion kommt die Haltung! Die Haltung der Menschen, die an den Hebeln sitzen, an den Hebeln, die die Menschen mit Beeinträchtigungen nicht ohne weiteres erreichen oder bedienen können. An der Haltung brauche ich bei Betroffenen nicht zu rütteln. Die sind alle dafür!
Meine Beobachtungen zeigen, dass sich Einrichtungen der Inklusion annähern, in denen die Hierarchien flach sind. In Einrichtungen, in denen weder Bewohner*innen noch ihre kritischen Fürsprecher*innen Sanktionen oder Mobbing zu fürchten brauchen.
Zu helfen und Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist kein Symptom der Behindertenhilfe. Es ist eine Grundregel des sozialen Zusammenlebens.
Vor der Inklusion kommt die Haltung! Es wäre ein Anfang, wenn sich Einrichtungen der Kritik an der Behindertenhilfe u.a. von mir stellen würden.
Beste Grüße
Stephan