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Heidelberg (kobinet) Für den ersten interdisziplinären Frauenkongress Heidelbergs am 21. September 2024 wurde Nicoletta Rapetti gebeten, sich einige Gedanken zum Thema Schwesterlichkeit aus der Perspektive von behinderten Frauen zu machen. Dies hat sie zum Anlass genommen, direkt über eine vermeintliche Schwesterlichkeit nachzudenken, darüber, was es sei, einfach der bessere Gegensatz zu Brüderlichkeit? Den daraus entstandenen Beitrag hat Nicoletta Rapetti den kobinet-nachrichten zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.
Beitrag von Nicoletta Rapetti
Für den ersten interdisziplinären Frauenkongress Heidelbergs am 21.9.2024 wurde ich gebeten, mir einige Gedanken zum Thema Schwesterlichkeit aus der Perspektive von behinderten Frauen zu machen. Dies habe ich zum Anlass genommen, direkt über eine vermeintliche Schwesterlichkeit nachzudenken, darüber, was es sei, einfach der bessere Gegensatz zu Brüderlichkeit? Darüber, ob ich es kenne und was es bedeutet, wenn mir das Thema fremd erscheint, ich aber etwas dazu sagen soll.
Nun, Schwesterlichkeit gibt es nicht. Und deshalb kann ich davon auch nicht sprechen. Dies mag provokativ klingen, undankbar vielleicht. Aber ich begründe diesen Gedanken.
Als behinderte Frau prägt einen vor allem eines: das Grundgefühl, dass der gesellschaftliche Boden, auf dem man sich bewegt, jederzeit aufbrechen kann in diesem Land.
Es existiert ein grundlegender Unterschied zwischen behinderten und nichtbehinderten Frauen. Während letztere darum ringen mögen, in einer patriarchalen Welt vom Objekt zur Person zu werden, geht es behinderten Frauen darum, vom Nicht-Objekt zur Person zu werden, so kann man es schon im 1985 erschienenen Buch „Geschlecht: behindert, Merkmal: frau“ lesen. Behinderte Frauen wachsen zumeist nicht mit all den besonders weiblichen Implikationen auf, Schönheit, Kinder, Partnerschaft, all dies wird ihnen bis heute wenig zugesprochen. Im Gegensatz zu nichtbehinderten Frauen haben sie auch kaum eine Chance, ihr Selbstbild auf diesen Attributen aufzubauen und auf diese indirekte Art und Weise Macht auszuüben. Für behinderte Frauen ist eines schnell klar: Wenn sie selbstbestimmt leben wollen, dann durch Kampf, Stärke und Leistung. Sie gehen also entweder unter oder sie werden zwangsläufig unabhängig und selbstbewusst, auch wenn auch dieses ihnen von außen keiner zuschreiben möchte, sondern sie lieber als hilflose Wesen abgestempelt werden, die sich gefälligst auch so zu verhalten haben.
Im politischen Kampf um Gleichberechtigung treffen so auf der einen Seite behinderte Frauen, die nur wenig mit weiblichen Zuschreibungen zu tun und sich zwangsläufig von ihnen befreit haben, auf Frauen, die sich scheinbar davon befreien wollen oder auch nicht, für deren Entwicklung Schönheit und Angepasstheit maßgeblich waren und deren Kämpfe durch den Verlauf der Geschichte eben nicht offen ausgetragen wurden, sondern subtil. Behinderte, selbstbewusste, unangepasste Frauen müssen nichtbehinderte Frauen zwangsläufig irritieren und ihnen ihre eigenen Abhängigkeiten vorführen, die sie eigentlich nicht sehen wollen und aus denen sie gelernt haben, ihre Vorteile zu ziehen. Gleichzeitig schleicht sich Neid und Unverständnis ein, denn eine behinderte Frau möchte lieber auch mal als Objekt gesehen werden denn überhaupt nicht.
Damit geht es vielleicht um dasselbe Ziel, aber mitnichten um dieselbe Ausgangslage von behinderten und nichtbehinderten Frauen. Und damit wird zu viel übergangen, dass eine Rolle spielt, und es sind doch nur die privilegierten Frauen, die hier den Ton angeben.
Solange es passiert, dass Leitungen von Sozialämtern vorschlagen, bestimmte Verfahren ohne die betroffenen behinderten Frauen selbst durchzuführen, wie das ja wirklich unmenschlich sei, solange es vorkommt, dass zukünftige Chefinnen behinderte Frauen nach ihrer Darmtätigkeit befragen, solange Politik nicht barrierefrei für behinderte Frauen zugänglich ist, solange man hört, es sei schön, wenn eine Straße nach einer behinderten Feministin benannt wird, aber man habe lieber eine lesbische Feministin gewollt, solange beim Thema Schwangerschaftsabbruch nicht offen über das zweierlei Maß gesprochen werden kann, ohne als religiöse Fundamentalistin zu gelten, solange das AGG nicht wirklich für behinderte Frauen gilt, weil ihre Diskriminierung zumeist staatlich erfolgt und Gesetze sich nicht gegen den eigenen Staat richten, solange es Frauen sind, die verhindern, dass behinderte Frauen auch in der Wissenschaft selbst über Inklusion lehren und forschen, solange weibliche Werkstattleitungen ganz offen über Datenschutz und Schweigepflicht hinweggehen können, um ihre Klientinnen dort festzuhalten, solange Mitarbeiterinnen von Arbeitsagenturen bei öffentlichen Veranstaltungen sagen können, ihnen sei es egal, ob behinderte Frauen auf dem ersten, zweiten oder achten Arbeitsmarkt arbeiten, solange sie nur arbeiten, und dazu kein Aufschrei erfolgt, solange behinderte Frauen massiv von Armut und Isolation betroffen sind und die feministische Welt sich aktuell vorwiegend mit dem Ringen um Begrifflichkeiten zu beschäftigen scheint, solange all diese Ungleichheit unter Frauen selbst besteht, werde ich nicht von Schwesterlichkeit sprechen.
Aber das heißt nicht, dass es Schwesterlichkeit nicht geben kann. Die Frage für jeden Verbund sollte immer sein, wen oder was man ausschließt und wie man sich so divers aufstellt, dass diese Ausschlüsse immer wieder aufgegriffen werden. Doch selbst dann würde der schlichtere Ansatz der Menschlichkeit vielleicht weiter führen als die geschlechtsgebundene Zersplitterung in Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit.