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Ambulante Zwangsbehandlung – Wie nun auch der Bundesgerichtshof den ärztlichen Zwang nach Hause bringen will

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Der lange Weg zum Menschenrecht
Foto: Julia Lippert

Berlin (kobinet) Der folgende Text dient dazu, die Argumentation des Bundesgerichtshofs (BGH) in seinem neusten Beschluss zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen darzustellen. Die Argumentation wird von der Verfasserin dieses Textes in keiner Weise geteilt. Der Text soll Menschenrechtsaktivist*innen und Kritiker*innen der Behandlung unter Zwang dazu dienen, die Argumentationsweise des BGH nachzuvollziehen und gegen sie an zu argumentieren. Ohne einen starken Gegenwind aus der Zivilgesellschaft, wird der ambulante ärztliche Zwang in Deutschland sehr wahrscheinlich … In einer zynischen Kleinteiligkeit, die die Behandlung unter Zwang u.a. als „Maßnahme der staatlichen Fürsorge“ definiert, wird durch den BGH die Argumentation der Gesetzgebenden gegen den ambulanten Zwang auseinandergenommen, mit dem Ziel, ärztliche Zwangsmaßnahmen auch im Wohnumfeld der Betroffenen umsetzen zu können [0].



Der Horror der sich möglichweise anbahnenden Umsetzung ambulanter ärztlicher Zwangsmaßnahmen will nicht aufhören. 2004 [1] und 2005 [2] wurde die damals bereits vom Bundesrat vorgeschlagene Einführung der ambulanten ärztlichen Zwangsmaßnahmen durch die Gesetzgebenden ausdrücklich abgelehnt. 2017 erhob der Bundesrat nochmals Einwände gegen den Regierungsentwurf zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen nach BGB und schlug eine Ausweitung ärztlicher Zwangsmaßnahmen auf (Pflege-)Heime und Einrichtungen der Eingliederungshilfe vor [3]. 2022 forderte die Justizministerkonferenz den Gesetzgeber auf ärztliche Zwangsmaßnahmen auch außerhalb eines Fachkrankenhauses zuzulassen [4]. 2023 wurde die Behandlungsweisung in Baden-Württemberg diskutiert und die Ergebnisse der Evaluierung zu § 1832 BGB, zu der Frage der Zulässigkeit von ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb eines Krankenhauses [5], steht noch aus.

Nun nutzt der Bundesgerichtshof (BGH) den Dreh über die stationsäquivalente Behandlung (Abkürzung: Stäb). So diskutiert der XII. Senat [6] der BGH in seinem Beschluss vom 8. November 2023 (XII ZB 459/22) kurzerhand die StäB als Option zu nutzen, um den Behandlungszwang zu den betroffenen Menschen nach Hause zu bringen, vorerst in Pflegeheime und sonstige Einrichtungen. Der BGH fordert eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage, ob, kurzgefasst: die ärztliche Zwangsmaßnahme, wenn sie nur im Krankenhaus durchgeführt werden darf, zu einer Schutzlücke in der Versorgung führt…

Derzeitige Gesetzgebung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) und der Dreh des BGH

§ 1832 BGB (1906 a BGB alte Fassung) bildet die rechtliche Grundlage für den schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte [7] der*des Betroffenen in Form von ärztlichen Zwangsmaßnahmen. Eine Voraussetzung dieser Zulässigkeit bildet die Sicherstellung der gebotenen medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung. Die Gesetzgebung sah 2017 diese Voraussetzung nur innerhalb eines Krankenhauses gegeben, hat sich eindeutig gegen jegliche ambulanten ärztlichen Zwangsmaßnahmen ausgesprochen und dies §1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB manifestiert. Die Gesetzgebenden führten im Regierungsentwurf aus, dass ambulante ärztliche Zwangsmaßnahmen den Grundsätzen einer modernen Psychiatrie widersprächen, wonach Menschen mit sogenannten psychischen Krankheiten gerade in ihrem Wohn- und sonstigen persönlichen Umfeld vertrauensvolle Unterstützung und Hilfe, nicht jedoch staatlich genehmigten Zwang benötigten [8]. Der Schutz des privaten Wohnumfelds von Betroffenen sei sicherzustellen [9]. Bei einer Ausweitung auf Heime bzw. sonstige Einrichtungen, wie etwa spezialisierte ambulante Zentren, so die Gesetzgebenden, bestehe die Gefahr, dass es zu einer deutlichen Zunahme von Zwangsbehandlungen komme und Alternativen nicht immer sorgfältig geprüft würden [10]. Es bestünde somit die Gefahr, dass es zu einer deutlichen Zunahme von Zwangsbehandlungen komme. Bemühungen, die Betroffenen unter Verwendung der erforderlichen Zeit von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, würden durch ambulante Zwangsmaßnahmen konterkariert [11].

Nun macht der BGH mit Beschluss vom 08.11.2023 allerdings klar, dass er die Zulässigkeit ambulanter Zwangsmaßnahmen in Heimen oder Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen für rechtlich gerechtfertigt hält [12]. Hergeleitet wird diese mögliche Ausweitung aus der sogenannten Schutzpflicht des Staates [13] und einem Konflikt zwischen der Freiheits- und Schutzdimension des Grundrechts auf Unversehrtheit, dazu später mehr. Nicht nur das, als Mittel der Wahl, um den medizinischen Zwang nach Hause zu bringen, wird die stationsäquivalente Behandlung (StäB) in Erwägung gezogen. Fassungslos daran macht einen, dass die StäB ursprünglich dazu konzipiert wurde, um Zwangsmaßnahmen zu verhindern… [14]

Warum im Rahmen einer StäB?

Die stationsäquivalente Behandlung (StäB) ist eine Behandlungsmöglichkeit, die über ein Krankenhaus gestaltet wird, um Menschen, die laut Einschätzung der Ärzt*innen eine intensive Behandlung brauchen – diese die Betroffenen wollen oder der*die Betreuer*in zugestimmt hat – bei der ein (multiprofessionelles) Behandlungsteam vom Krankenhaus entsandt, die Versorgung, die sonst im Krankenhausaufenthalt stattfinden würde, vollumfänglich beim betroffenen Menschen zu Hause umsetzt wird. Diese Behandlungsform ist bereits seit 2016 gesetzlich geregelt [15]. Es liegt in der Initiative der Kliniken diese Behandlungsoption anzubieten.

Der BGH macht nun folgende Argumentation: Wenn eine – einer vollstationär klinischen Behandlung entsprechende – Behandlung auch zu Hause in Form von StäB gesetzlich eingeräumt wird, kann daraus gefolgert werden, die ärztliche Zwangsmaßnahme, die ja Teil des klinischen Behandlungssettings ist, auch im Rahmen der StäB für zulässig zu erklären.

Auch wenn die Gesetzgebung bisher den Grund anführt, staatlich genehmigten Zwang im Wohn- und sonstigen persönlichen Umfeld von Menschen mit psychischen Krankheiten zu vermeiden, kann dies, so der BGH, nicht uneingeschränkt für StäB zutreffen [16].

Die Haltung des BGH zu ärztlichem Zwang

Die ärztliche Zwangsmaßnahme wird vom BGH allgemein als „Schutz durch ärztliche Versorgung“ definiert [17]. Die Regelung, ärztliche Zwangsmaßnahmen zuzulassen, sei Teil des „staatlichen Erwachsenenschutzes“. Der BGH macht klar, dass obwohl die Durchführung nur mittels schwerwiegender Eingriffe in die Grundrechte des Betroffenen möglich ist, dies nichts an dem „begünstigenden Charakter“ der Zwangsmaßnahme an sich ändert [18].

Bereits wiederholt bezeichnete der BGH ärztliche Zwangsbehandlungen als eine „Maßnahme der staatlichen Fürsorge“ und „medizinische Hilfe“ [19]. Die, und das ist hier wichtig festzuhalten, auch mit physischer Gewalt und gegen den Willen der*des Betroffenen, durchgesetzt werden müsste. Dies sei Teil der sich verdichtenden Schutzpflicht des Staates.

Und als sei dies nicht genug und nun endgültig verdrehend, wird die gesetzlich notwendige Verbringung in ein Krankenhaus (§1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB), also nicht die Zwangsbehandlung selbst, als „zu erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen“ [20] führend bezeichnet. Um dies nochmal zu wiederholen, und nun den Wortlaut des BGH nutzend, wird die Verlegung als „Retraumatisierung“ bezeichnet und nicht die wiederholte Zwangsmaßnahme an sich [21]!

Der Normenkonflikt

Der BGH weist in dem Beschluss auf einen, seiner Ansicht nach bestehenden „internen Normkonflikt“ des § 1832 BGB (§ 1906 a BGB aF) hin. Einerseits Zwangsmaßnahmen auf das „für den Betroffenen notwendige Maß“ zu beschränken [22] und möglichst nah an seinem Willen zu bleiben [23], andererseits aber die ärztliche Zwangsmaßnahme an einen stationären Krankenhausaufenthalt zu koppeln [24].

Der BGH ist davon überzeugt, dass es mit der Schutzpflicht des Staates unvereinbar ist, die Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen Aufenthalt im Krankenhaus zu binden. Nach Ansicht des BGH gibt es „Fallgestaltungen“ bei denen Betroffene aus „medizinischer Sicht“ gleichermaßen in der Einrichtung, in der sie untergebracht sind und in der ihre gebotene medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, zwangsbehandelt werden könnten, da die Verbringung in ein Krankenhaus Betroffene in ihrer Gesundheit beeinträchtigen würde [25].

Der BGH betont, dass die ambulant durchgeführte Zwangsmaßnahme ein milderes Mittel für den betroffenen Menschen darstellen könne [26]. Noch im Jahr 2000 hatte der BGH die ambulante zwangsweise Verabreichung von Depotspritzen – ambulante Zwangsmaßnahme – noch nicht als milderes Mittel im Verhältnis zur Unterbringung gesehen [27]. Warum im Jahr 2023 die ambulante Zwangsbehandlung nun milder sein soll als die Verbringung in ein Krankenhaus, rechtfertigt der BGH umständlich über die Andersartigkeit der Maßnahme. Im Fall der ambulanten Zwangsmaßnahme, sei als milder einzuschätzen, dass die betroffene Person nicht in ein Krankenhaus (oder eine Arztpraxis oder Krankenhausambulanz) verbracht werden müsse und gleich zu Hause zwangsgespritzt werden könnte (siehe hierzu weiter unten mehr).

Doppelbedeutung der Unversehrheit

Aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit [28] ergibt sich einerseits ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe andererseits eine staatliche Schutzpflicht. Diese Schutzpflichten des Staates werden nun wiederholt durch das BGH ausgeweitet, um unter den Begriff des Schutzes ärztliche Zwangsmaßnahmen rechtlich zu rechtfertigen. So beschreibt der BGH das in Freiheits- und Schutzdimension kollidierende Grundrecht desselben Grundrechtsträgers damit auszulösen, dass es durch die staatliche Fürsorgepflicht geboten sei, ärztlichen Zwang auch im Wohnumfeld zuzulassen. Nach BGH heißt es dann, dass der „hilflose Mensch [bei dem aus ärztlicher Sicht eine Behandlung notwendig ist] nicht einfach sich selbst überlassen“ werden darf. Folglich verdichtet sich bei dem betroffenen Menschen die allgemeine Schutzpflicht „unter engen Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht“ [29].

Die „hilflosen“ Betroffenen werden also nicht vor dem ärztlichen Zwang geschützt, sondern der Zwang findet unter geschützten Bedingungen statt. Was versteht der BGH als schützende Bedingungen bzw. enge Voraussetzungen?

Unter Schutzvorkehrungen versteht der BGH „inhaltlich anspruchsvolle materielle und verfahrensrechtliche Voraussetzungen“, die durch die Gesetzgebung zu gestalten sind [30]. Der BGH sieht die Schutzpflicht nur dann verletzt, „wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben“ [31].

Der BGH folgert daraus, dass § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Warum?

Wenn die betroffene Person zur Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme in ein Krankenhaus verlegt werden muss, kann dies eine „gesundheitliche Belastung“ darstellen. Damit meint der BGH jene Menschen, bei denen eine Depotmedikation mit Neuroleptika in regelmäßigen Zeitabständen wiederholt werden soll. Die Verlegung in ein Krankenhaus sei laut BGH, in diesen Fällen, dann nicht schonender, als die Person gleich im Rahmen der Einrichtung zwangszuspritzen. Gerade dann, wenn Ärzt*innen der Meinung sind, „die ärztliche Zwangsmaßnahme müsse nicht in einem Krankenhaus durchgeführt werden“ [32]. Nicht einmal von der Kurzfristigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen als Maßgabe ist mehr die Rede. Es geht hier darum Menschen, die unter Betreuung stehen – also nicht mehr selbstbestimmt über medizinische Eingriffe entscheiden dürfen – und die geschlossen untergebracht sind in Heimen und Einrichtungen der Eingleiderungshilfe, über Jahre/Jahrzehnte zwangszuspritzen…

Zynische Zerlegung der Argumentation des Gesetzgebers

Nach Ansicht des XII. Senats tragen die vom Gesetzgeber 2017 genannten Gründe, die strikte Verweigerung ärztlicher Zwangsmaßnahmen außerhalb eines Krankenhauses nicht [33].

Nur beispielhaft seien hier einige Punkte erwähnt:

– Der Gesetzgeber hätte nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Zulässigkeit von ärztlichen Zwangsbehandlungen außerhalb von Krankenhäusern dem Ultima-Ratio-Gebot entgegenstehe. Die sorgfältige Prüfung der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme sei dadurch gegeben, dass auch die ambulante ärztliche Zwangsmaßnahme dem Richtervorbehalt (Genehmigung des Betreuungsgerichts) und den entsprechenden Verfahren unterläge.

– Es sei „vielfach wesentlich eher dem Wohl und (mutmaßlichen) Willen von Betroffenen entsprechend, im eigenen Wohnumfeld behandelt zu werden, als aus diesem möglicherweise gewaltsam – wie hier mittels Fixierungen – herausgerissen, in eine nicht vertraute (stationäre) Krankenhausumgebung verbracht und dort eine erhebliche Zeit festgehalten zu werden.“

– Die strikte Kopplung einer Zwangsbehandlung an einen Krankenhausaufenthalt steht der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Betreuten entgegen, da die „zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen [34] möglichst weitgehend in Form der Beachtung ihres (mutmaßlichen) Willens, durch die Zwangsbehandlung nicht stärker als erforderlich belastet zu werden“, nicht hinreichend Berücksichtigung fänden und Freiheits- und Schutzdimension kollidierender Grundrechte nicht möglichst schonend aufgelöst seien.

– Die im jeweiligen Einzelfall medizinisch oder psychologisch erforderliche Begleitung bzw. Pflege des Betroffenen vor und nach der Behandlung sei durch StäB gesichert und in ihrer gesetzlichen Konzeption § 39 (Krankenhausbehandlung) SGB V ausdefiniert.

– Im Jahr 2000 hatte der BGH die ambulante Zwangsmaßnahme, die im gegebenen Fall zu einer regelmäßigen zwangsweisen Verbringung in eine Arztpraxis oder Krankenhausambulanz geführt hätte, zum einen als „andersartige Maßnahmen“ und zum anderen als nicht weniger eingriffsintensiv als die Unterbringung definiert. Nun sieht aber der BGH in der ambulanten Zwangsmaßnahme zu Hause das Mildernde in der Tatsache, dass die betroffene Person nicht in ein Krankenhaus verlegt (oder in eine Arztpraxis oder Krankenhausambulanz verbracht) werden müsse und gleich zu Hause zwangsgespritzt werden könnte [35].

Selbst die UN-BRK spricht nach Auffassung des BGH nicht gegen ambulante Zwangsmaßnahmen

Auf die UN-BRK bezieht sich der BGH, allerdings nutzt er die bekannte Auslegung des Art. 12 Abs. 4 und leitet aus ihm kein generelles Verbot medizinischer Zwangsmaßnahmen her: „Denn danach sind medizinische Zwangsbehandlungen für den eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage nicht generell verboten.“ Und wieder, als sei dies nicht genug, wird auch noch proklamiert, dass die ärztlichen Zwangsmaßnahmen „darauf abzielen, die Sicherung und Stärkung der Autonomie von Menschen mit Behinderungen in den Blick zu nehmen“. Der BGH sieht diesen Weg bei einer Maßnahme gegeben die „gegenüber einer Krankenhausbehandlung weniger [B]elast[ung] darstellt.“ Und schlussendlich wird wieder auf den Willen der betroffenen Person referiert, die die Zwangsbehandlung im ambulanten Rahmen als weniger belastend empfinden könnte, dieser Wille beachtet werden müsste und die Maßnahmen (lediglich) verhältnismäßig sein müssten [36].

Schlussbemerkungen

Die Verfasserin dieses Textes ist nahezu wortlos. Die verklausulierte Sprache der Gerichte ist so eine krasse Barriere, dass es zivilgesellschaftlich, menschenrechtlich engagierten Menschen kaum möglich ist, die verstrickte Argumentation umfänglich zu fassen. Es fehlen in dem Kampf für die Menschenrechte und gegen den Zwang und die Gewalt in institutionalisierten Einrichtungen die Ressourcen.

So lange Teile der Bevölkerung, die Gerichte, die Ärzt*innen, die professionell Tätigen, Betreuer*innen, Angehörige, manche Betroffene weiter glauben, Zwangsmaßnahmen seien notwendig, oder auch nur geeignet, Menschen zu ihrer Freiheit, ihrem Glück, ihrem Recht zu verhelfen, werden sie erlaubt bleiben und immer kompliziertere rechtliche Optionen auf den Zwang gestaltet bzw. der Zwang als Schutz verklausuliert werden. Da kann das Recht weiter aufgeweicht oder strenger gemacht werden, im Grundsatz bleibt es bei dieser Idee.

Haben die Verantwortlichen die möglichen Schäden im Blick? Wissen die Verantwortlichen was (regelmäßige) medikamentöse Zwangsmaßnahmen im Leben von Menschen 10, 20 Jahre später verursachen? Sie können es gar nicht wissen, weil es keine verlässlichen, verwertbaren Daten gibt. Haben Sie die Menschen die das betrifft mal gefragt und nicht nur nach den Bewertungen des Fachpersonals und der Gerichte?

Das Recht ist doch dazu da die Schwachen zu schützen, im Gegensatz zu den postulierten Gesetzen der Natur, nach denen die Bestangepassten und Stärksten überleben. Seit 2016 ist der perfide Dreh gelungen, den Zwang als Schutz zu deklarieren [37] und dadurch als Kollektiv dem Einzelnen seine Entscheidung zu nehmen. Mit diesem utilitaristischen (ausschließlich auf den vermeintlich allgemeinen Nutzen ausgerichteten) Ansatz und der rein argumentativen Schutzbegründung, die so eine rechtliche und leider auch moralische Gewalt hat, ist es möglich, jeglichen Entzug von Grundrechten, als rechtlich und ethisch gerechtfertigt zu verklausulieren. „Wir wollen doch nur schützen. (Koste es was es wolle.)“ Hier wird nämlich einfach das (nun im Wortsinn abgeschaffte) Wohl zum Schutz…

Dieser perfide Dreh, auf dessen Zustandekommen kein Mensch, der selbst psychiatrischen Zwang er- und überlebt hat, Einfluss hatte, führt zum gleichen Ergebnis, nämlich nun im Sinne des Schutzes Zwang zu legitimieren.

Es bleibt nur der Appell:

Seien sie sich bewusst, selbst wenn sie glauben, Menschen mit der Entscheidung für den Zwang zu schützen; Sie werden auch Menschen ins Unglück treiben!

Die Entscheidung für den Zwang beruht nicht auf der Priorisierung des Individuums, das irgendwie nicht greifbar durch dieses Versorgungssystem ist; sondern resultiert aus einem Versorgungssystem, dass die falschen Antworten für dieses Individuum hat und durch Zwang sich Ruhe verschaffen will, wodurch die Hinterfragung seiner selbst immer stärker verhindert wird!

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[0] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 51ff [1] Plenarprotokoll 15/94, S. 8411 [2] 15/158 – Plenarprotokoll, S. 14830 A [3] Der Bundesrat schlug für §1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB statt der Formulierung „im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus“ folgende Formulierung vor: „im Rahmen einer Einrichtung, in der die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist“. (Drucksache 18/11617, S.3) [4] 93. Justizministerkonferenz, Bayern 2022, TOP 1.8, Punkt 2a [5] Art. 7 des Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztl. Zwangsmaßnahmen v. 22.7.2017: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl117s2426.pdf%27%5D__1707761866114 [6] Die Mitglieder des XII. Senats des BGH werden durch einen Richterwahlausschuss gewählt. Das Prozedere der Berufung von Berufsrichter*innen in der BRD wird generell kritisiert. Neben der Intransparenz der Verfahren, spielen auch die pateipolitische Ausrichtung der Kandidat*innen eine zu große Rolle. Der Richterwahlausschuss des BGH setzt sich zusammen aus den 16 Justizminister*innen der Länder und 16 von Bundestag gewählten Mitgliedern. Das heißt der Ausschuss ist nicht unabhängig von der Exekutive. Diese Form der Richterauswahl steht einigen Kritiker*innen nach sogar entgegen der Kriterien der EU zur Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten. [7] Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG [8] BT-Drucks. 18/11240, S. 15 [9] BT-Drucks. 18/11617, S. 6 [10] BT-Drucks. 18/11617, S. 5 [11] BT-Drucks. 18/11240 S. 15; BT-Drucks. 18/11617 S. 5 f [12] XII ZB 459/22, 2023, II. und Rn. 6 [13] Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG [14] siehe z.B. DKG 2022, Ärzteblatt 2023 [15] durch Artikel 5 des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psycho-somatische Leistungen (PsychVVG) vom 19. Dezember 2016 (BGBl. I S. 2986) [16] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 33 [17] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 44 [18] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 42f [19] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 13, bereits 2015 so bezeichnet XII ZB 89/15, Rn. 51 [20] XII ZB 459/22, 2023, II. und Rn. 6 und Rn. 42 [21] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 24 [22] § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB [23] § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB [24] § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB [25] XII ZB 459/22, 2023, II. und Rn. 6 und Rn. 42 [26] BvR 1575/18, Rn. 43 und Vorgabe des milderen Mittels geregelt in § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BGB [27] XII ZB 69/00, S. 9, III. 3.: Im Jahr 2000 war die ärztliche Zwangsmaßnahme noch gemeinsam mit der Unterbringung im §1906 BGB geregelt. Die betroffene Person hatte mit der Unterbringung auch die ärztliche Zwangsmaßnahme zu dulden. Diese Regelung wurde 2013, nachdem das BVerfG sie 2011 für verfassungswidrig erklärt hatte, aufgegeben. Die ärztliche Zwangsmaßnahme wurde dann unter §1906a geregelt und bedarf fortan eines eigenen Richtervorbehalts. Mit der Betreuungsrechtsreform 2023 hat sich rechtlich nichts geändert, außer dass der Begriff zum Wohl gestrichen und sich die Paragraphennummer geändert hat. Seit 2023 ist die ärztliche Zwangsmaßnahme unter §1832 BGB geregelt. [28] Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG [29] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 44 [30] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 46 [31] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 45 [32] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 47-49 [33] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 51 [34] In XII ZB 459/22, 2023, Rn. 1 und 2 wird die Lebenssituation der Betroffenen beschrieben: seit 2000 in Betreuung, seit 2008 geschlossen untergebracht in einem Wohnverbund [35] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 52ff [36] XII ZB 459/22, 2023, Rn. 65 [37] 1 BvL 8/15