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Menschliche Winterkälte: Ansichten vom Rande der Norm

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Heidelberg (kobinet) Nicoletta Rapetti aus Heidelberg hat die Diskussionen und die Verlautbarungen zum 3. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, zum Anlass für einen Kommentar für die kobinet-nachrichten genommen. "Menschliche Winterkälte - Ansichten vom Rande der Norm im Nachgang zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung" hat sie ihren kritischen Beitrag getitelt, der sich mit der Situation behinderter Menschen hinter schönen Reden und vermeintlich wirksamen Gesetzen beschäftigt.



Kommentar von Nicoletta Rapetti

Menschliche Winterkälte – Ansichten vom Rande der Norm im Nachgang zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung

Jedes Jahr wiederholt er sich, wie so viele andere Tage auch: der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung am 3.Dezember. Ihn gibt es seit 1993 und er soll die Situation von Menschen mit Behinderung ins gesellschaftliche Bewusstsein rufen. Nun könnte man zu solch einem Anlass schreiben, was man immer zu solchen Anlässen zu schreiben pflegt: Ja es gäbe noch viel zu tun, aber natürlich gäbe es auch Wandel. Dieser sei zwar langsam, aber es tue sich schon etwas. Es ginge ja um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und wir seien doch insgesamt auf einem guten Weg.

Klar kann man solche Zeilen verfassen. Und manchmal ist eine Zeit nicht geeignet für Kritik, insbesondere dann, wenn das Establishment bröckelt und die Alternativen dazu sehr düster aussehen. Manchmal wird das Dagegensein des kritischen Geistes ein Dafürsein, wenn die Zeiten sich wandeln. Vielleicht müsste man gerade in solchen Zeiten das wenig Positive betonen, um so zumindest weiter in eine erhoffte bessere Zukunft zu gehen.

Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es gerade in solch einer Zeit die pure Notwendigkeit, Kritik zu üben, sie überhaupt wieder zuzulassen und zu sehen, dass all das, was wir sehen, Folge von sozialen und politischen Versäumnissen ist. Menschen mit Behinderung sind nur eine Minderheit von einigen Minderheiten. Manche vermelden sogar einen Kampf um den Raum der Minderheiten, einen Kampf darum, wer am meisten benachteiligt ist. Und wie immer findet der Kampf vorwiegend in den untersten Rängen der Arena statt und dringt nicht nach oben, dort wo wirkliche Veränderung passieren könnte und wo die Ungleichheit sich gut eingerichtet hat. Aber auch wenn Menschen mit Behinderung nur eine der Minderheiten darstellen, zeichnet sich ihr Platz dort als sehr beständig aus. Und nein, auf einem irgendwie positiven Weg sind wir nicht.

Gut, vor 80 Jahren wurden Menschen mit Behinderung in unserem Land noch systematisch getötet. Heute werden sie das konkret nur dann, wenn vor ihrer Geburt eine sogenannte medizinische Indikation vorliegt. Infrage stellen das höchstens sehr christlich veranlagte Menschen, für alle anderen scheint es nicht widersprüchlich zu sein, dass Schwangerschaftsabbrüche kaum durchgeführt werden, wenn Frauen sich dafür entscheiden, aber dass es sich um einen ganz anderen Sachverhalt hält, wenn ein Kind behindert auf die Welt kommen könnte. Und ja, heutzutage gibt es sogar Assistenz für Menschen mit Behinderung, sie werden also nicht mehr getötet, sondern erhalten auch teilweise Unterstützung. Aber jeder behinderte Mensch in diesem Land ist massiv nach wie vor von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht, jeder behinderte Mensch muss mit erheblichen Schwierigkeiten im Bildungs- und Ausbildungssystem rechnen, und das trotz eines riesigen Apparates von Inklusionshelfenden und Schulbegleitungen. Die meisten der behinderten Menschen mit Eingliederungshilfe wird sich niemals eine eigene Wohnung geschweige denn ein Haus kaufen können aufgrund der Anrechnung des eigenen Einkommens und Vermögens, sie können nicht einfach reisen, Freizeitangebote nutzen oder zu Ärzt:innen gehen.

Ja es ist wirklich toll, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr ermordet werden und sogar Unterstützung erhalten, die so wunderbar marktförmig organisiert ist, dass sich um das Thema Behinderung ein riesiger Dienstleistungsbetrieb etabliert hat, der eine ganze Menge Gelder umschichtet, die beim Menschen selbst garantiert nicht ankommen. Aber nahezu alles auf diesem Marktplatz der Hilfesysteme will vor allem eines: verwalten. Das wohlfahrtsstaatliche Monstrum wächst und gedeiht und immer neue Organisationen werden gegründet, da bestehende Institutionen ihren Job nicht machen, an deren Ende der behinderte Mensch steht, der zunehmend verarmt. Aber während dieser Mensch stetig und subtil weniger Ressourcen zugesprochen bekommt, wird er vielfach erfasst, muss alle paar Monate seitenweise neue Anträge für was auch immer stellen und ständig die eigenen Daten erneut abgeben. Zeit für Freizeit bleibt da kaum, aber das ist auch besser so, denn Freizeit- und Kulturangebote sind weiterhin nahezu nie barrierefrei.

Die Arbeitswelt ist es ja auch nicht, und trotz Fachkräftemangel bleibt die Zahl der arbeitslosen behinderten Menschen hoch. Aber wir sind ja alle zum Glück so tolerant und divers und haben gelernt und viele Betriebe schreiben nun ganz logisch auf ihre Stellenangebote, dass sie die Charta für Vielfalt unterzeichnet hätten und deshalb nicht diskriminierten, nein, sie würden einfach jeden Menschen nach dessen Fähigkeit beurteilen. Super, aber Chancenungleichheit, die ab der ersten Sekunde im Bildungssystem besteht, gleicht man dadurch nicht aus, sondern man ignoriert und zementiert sie, und das mit vermeintlichen Gutmenschentum.

Doch gleich bleibt ja auch die Existenz von Werkstätten für Menschen mit Behinderung, über die man Material einkaufen kann, damit man selbst als Betrieb keine behinderten Menschen einstellen muss. Prima, denn die armen Behinderten können ja wirklich nicht auf den bösen ersten Arbeitsmarkt gelassen werden, da würden sie nur untergehen. Also beschäftigen wir sie lieber fernab eines jeden Mindestlohns und kreieren damit auch noch ein riesiges marktwirtschaftliches System um den behinderten Menschen herum. Wenn dieser Mensch sich aus dem Netz befreien sollte, bricht das schöne System in sich zusammen, also werden wir das zu verhindern wissen.

Natürlich gibt es auch ganz schön viele Gesetze und Rechte für Menschen mit Behinderung, super Sache. Aber wenn ich nicht die Ressourcen habe, meine Rechte knallhart einzuklagen, erhalte ich in der heutigen Zeit kaum etwas. Und wie viele behinderte Menschen die Ressourcen und Kraft dazu haben, die Informationen und den Mut, das darf sich nun jede Person eigenständig überlegen.

Nicht umsonst ist im Abschlussbericht der Vereinten Nationen vom September diesen Jahres zur erneuten Überprüfung des Standes der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu lesen, dass behinderten Menschen vor allem auch die Mittel zur Verfügung gestellt werden muss, ihre Rechte zu erkämpfen. Aber was sagt es über ein Land aus, wenn es nicht genügt, Gesetze zu haben, wenn es noch nicht einmal ausreicht, ein Wissen um diese Gesetze zu haben, sondern wenn ich sie auch noch selbst erneut für mich erkämpfen muss, obwohl es sie gibt, obwohl sie von vielen also schon erkämpft wurden?

Es sagt aus, dass meine Position als behinderter Mensch immer noch der Rechtfertigung bedarf, dass die ungleichen Strukturen von mir wieder und wieder herausgearbeitet und benannt werden müssen gegenüber eines Gegenübers, das meine Perspektive weder begreift noch seine hinterfragt, dass die Position als behinderte Person also nicht anerkannt ist, dass sie antastbar ist genauso wie meine Würde es ist.

Was es für Folgen hat, wenn eine Gesellschaft so mit Menschen umgeht, ist nicht verwunderlich. Viele behinderte Menschen tragen seelische Wunden mit sich, die gesellschaftlich erlebte Abwertung wird internalisiert, vielleicht bekämpft, als Aggression freigesetzt, vielleicht strukturell versucht zu bekämpfen. Wer dabei nicht untergeht, entwickelt aus reiner Notwendigkeit einen massiven eigenen Überlebenstrieb und eine starke Eigenwilligkeit in bloßer Ermangelung einer Existenz, die in der Norm verschwinden darf, mit ihr eins werden darf. Früher oder später wird jeder außerordentliche Lebenswille an den kalten Mauern einer verwalteten Welt zerbrechen. Vielleicht. Doch er wird gerade in seinem vermeintlichen Scheitern sein, was ein konformes Leben, das sich so schön in den Zwängen der gewöhnlichen Welt einrichtet, niemals sein kann: wunderschön, weil er das wahre, pure Leben ist.