Berlin (kobinet) Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) hat im August 2023 die Aktion Schichtende in Werkstätten für behinderte Menschen gestartet. Ziel der Aktion ist es, die verstärkte Nutzung des Budget für Arbeit als Alternative zu einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen voranzutreiben. An jedem vierten Arbeitstag eines Monats, wie heute am 6. Oktober 2023, weist die ISL darauf hin, dass an diesem Tag bei einer Beschäftigung von 6 Stunden pro Arbeitstag das durchschnittlich gezahlte Entgelt in einer Werkstatt für behinderte Menschen von 226 Euro pro Monat bereits erwirtschaftet wäre, wenn behinderte Menschen, die noch in den Werkstätten arbeiten, Mindestlohn bekämen. Um behinderte Menschen zu ermutigen, den Schritt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wagen, zeigt die ISL konkrete Beispiele auf, wo und wie dies bereits gelungen ist. Heute verweist die ISL auf einen Bericht der Frankfurter Neue Presse, der Alternativen aufzeigt.
Während behinderte Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, monatlich lediglich ein durchschnittliches Entgelt von 226 Euro bekommen, werden sie bei einer Beschäftigung im Rahmen des Budget für Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht nur sozialversicherungspflichtig beschäftigt, sondern erhalten natürlich auch mindestens den Mindestlohn, wie alle anderen Arbeitnehmer*innen auch.
Für die meisten jungen Menschen mit einer Beeinträchtigung komme nach der Schulzeit bisher nur eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen in Frage, doch nicht wenige könnten durchaus einer „normalen“ geregelten Arbeit nachgehen, heißt es im Bericht der Frankfurter Neue Presse vom 4. Oktober 2023. „Diese inklusive Arbeit zu schaffen, ist Ziel des Projekts ‚abBI – alternative berufliche Bildung‘ des Beratungs- und Bildungszentrums, einer gemeinnützigen Gesellschaft unter dem Dach des Internationalen Bundes. Das Projekt startete vor drei Jahren – mitten in der Corona-Pandemie – mit drei jungen Menschen, die alle nach dem 27-monatigen Projekt auf dem freien Arbeitsmarkt vermittelt werden konnten. ‚Die Nachfrage steigt ständig, letztes Jahr waren es schon fünf, in diesem Jahr sind es sieben junge Menschen mit Förderbedarf, denen wir Orientierung und Qualifizierung vermitteln«, sagt Projektleiterin Tabea Trapp, die maßgeblich an der Realisierung des Projekts beteiligt gewesen ist. Ebenso wie der unabhängige Dienst ‚Inklusive Arbeit Wetterau‘ (InkA) mit Sitz in Bad Nauheim, der seit 2017 junge Menschen mit Behinderung dabei unterstützt, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Wetterau Fuß zu fassen“, heißt es im Bericht von Harald Schuchardt in der Frankfurter Neue Presse.
„Wir können andere behinderte Menschen und Arbeitgeber ermutigen: es lohnt sich bei der Beschäftigung behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt inklusive Wege zu gehen“, erklärte Alexander Ahrens von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), die selbst drei behinderte Menschen im Rahmen des Budget für Arbeit beschäftigt und regelmäßig Job-Speed-Datings durchführt, wie zuletzt am 4. Oktober 2023 zusammen mit dem Zentrum selbstbestimmt Leben Stuttgart. Nach monatelanger intensiver Vorarbeit konnte das erste Job-Speed-Dating für Menschen mit Behinderung in der baden-württembergischen Landeshauptstadt stattfinden. Die Veranstaltung fand im großen Saal des Mehrgenerationenhauses in Stuttgart-Heslach statt, diese Räumlichkeit bot optimale Voraussetzungen, so Andreas Lapp-Zens vom Zentrum selbstbestimmt Leben Stuttgart. 22 arbeitssuchende Menschen mit Behinderung trafen an sechs Tischen auf unterschiedliche Arbeitgeber und konnten sich mit diesen im 8-Minuten-Takt austauschen und ihre Bewerbungsunterlagen vorlegen. Nach Abschluss der Gesprächsrunden zeigten sich die Teilnehmer*innen sowohl von Seiten der Jobsuchenden als auch der Arbeitgeber*innen mit dem Ablauf sehr zufrieden, es zeichnete sich ab, dass diese Form der Kontaktanbahnung zu weiteren Kontakten und Gesprächen bis hin zum Abschluss von Arbeitsverhältnissen führen könnte, heißt es in einem Bericht des ZsL Stuttgart.
Link zum Bericht des ZsL Stuttgart über das Job-Speed-Dating
Neben den von der Aktion Mensch geförderten Job-Speed Datings betreibt die ISL gemeinsam mit einigen Projektpartnern seit kurzem ein Projekt mit dem Titel „Budgetkompetenz – Initiative zum Budget für Arbeit und Ausbildung“. Die Initiative Budgetkompetenz verfolgt das Ziel, die Nutzung der Budgets für Arbeit oder Ausbildung bundesweit zu verbessern. Im Mittelpunkt stehen Menschen mit Behinderungen, die sich für die Budgets interessieren, sich dazu unabhängig beraten lassen wollen und ein Unterstützungsangebot vor Ort suchen. Zudem wendet sich das Modellprojekt an Arbeitgeber*innen, die sozialversicherungspflichtige Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze im Rahmen der Budgets verwirklichen wollen.
„Mit diesem Projekt wollen wir gemeinsam mit unseren erfahrenen Projektpartnern auf diesem Gebiet einen einfacheren Zugang zum Budget für Arbeit oder Ausbildung ermöglichen. Wir wollen eine kompetente Beratung für die praktische Umsetzung anbieten und behinderte Menschen dazu befähigen, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu gelangen,“ fasst es Wiebke Schär, Projektleiterin bei der ISL zusammen. Sie betont weiter: „Zudem wendet sich das Modellprojekt an Arbeitgeber*innen, die sozialversicherungspflichtige Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze im Rahmen der Budgets verwirklichen wollen. Besondere Aufmerksamkeit wird auf Betriebe gelegt, die Werkstattbeschäftigte bereits auf Außenarbeitsplätzen beschäftigen.“ Bestehende Unterstützungsangebote für Fachdienste oder Beratungsstellen erhalten zudem Informationen, Schulungsangebote und Praxisbeispiele, um die Umsetzung der Budgets zu fördern. Für Budgetnutzer*innen wird eine Interessenvertretung im Sinne des Peer-Supports aufgebaut. Komplettiert werden die Projektangebote durch eine Informations- und Vernetzungsplattform.
Das Budget für Arbeit ist für Menschen gedacht, die aufgrund ihrer Behinderung bisher nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, weil sie entweder voll erwerbsgemindert bzw. werkstattberechtigt sind. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, ihr Recht aus Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wahrzunehmen, als behinderter Mensch Arbeit frei wählen zu dürfen und seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu verdienen.
Das Projekt wird aus Mitteln des Ausgleichsfonds gefördert und ist auf vier Jahre ausgelegt. Projektpartner sind Access (Erlangen), die Bundesarbeitsgemeinschaft Unterstützte Beschäftigung (BAG UB), BBD Neuss und integra Lübeck.
Link zu weiteren Infos zum Budget für Arbeit: www.budgetfuerarbeit.de
Hintergrund:
Bei einer Beschäftigung von 6 Stunden pro Tag bei einem Mindestlohn von 12 Euro werden in vier Arbeitstagen 288 Euro erwirtschaftet. In der Werkstatt für behinderte Menschen liegt das durchschnittlich ausgezahlte Monatsentgelt bei 226 Euro. Selbst unter Berücksichtigung der Sozialabgaben wäre damit nach vier Tagen Schichtende.
„Der Ausschuss ist besorgt über (a) Segregation auf dem Arbeitsmarkt des Vertragsstaates; (b) finanzielle Fehlanreize, die Menschen mit Behinderungen am Eintritt oder Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt hindern; (c) den Umstand, dass segregierte Werkstätten für behinderte Menschen weder auf den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten noch diesen Übergang fördern“, heißt es in den Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015 vonseiten des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Und weiter heißt es dort: Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, durch entsprechende Vorschriften wirksam einen inklusiven, mit dem Übereinkommen in Einklang stehenden Arbeitsmarkt zu schaffen, durch (a) die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten an zugänglichen Arbeitsplätzen gemäß der Allgemeinen Bemerkung Nr. 2 (2014) des Ausschusses, insbesondere für Frauen mit Behinderungen; (b) die schrittweise Abschaffung der Werkstätten für behinderte Menschen durch sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne sowie durch Anreize für die Beschäftigung bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern im allgemeinen Arbeitsmarkt; (c) die Sicherstellung, dass Menschen mit Behinderungen keine Minderung ihres sozialen Schutzes bzw. der Alterssicherung erfahren, die gegenwärtig an die Werkstätten für behinderte Menschen geknüpft sind (…)“
Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen hat diese Haltung und vor allem die Notwendigkeit echter Inklusion und von Deinstitutionalisierung bei der Staatenprüfung Deutschlands am 29. und 30. August 2023 in Genf bekräftigt.
Link zu den Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015
Die ISL weist zudem auch auf den Roman „Zündeln an den Strukturen“, der sich mit der Situation behinderter Menschen in und vor allem mit Alternativen zur Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt, hin und zudem der österreichische Online-Nachrichtendienst BIZEPS vor kurzem eine Rezension veröffentlicht hat.
Link zur BIZEPS-Rezension des Romans
Link zum kobinet-Bericht zur Aktion Schichtende vom 6. September 2023
Link zum kobinet-Bericht zur Aktion Schichtende vom 4. August 2023