Berlin (kobinet) Uns klein machen und klein halten, das tun schon die Verhältnisse. Wir Behinderten müssen uns das nicht auch noch gegenseitig antun. Einander klein machen. Leider, das ist meine Erfahrung, tun wir es allzu oft. Ein bisschen fühlt es sich an wie eine Krankheit, die unter uns grassiert. Krankheiten bescheren einem manchmal einen sog. Krankheitsgewinn und man möchte sie deshalb gar nicht mehr missen. Aber hier kann ich einen Krankheitsgewinn nicht erkennen, ich stelle lediglich Selbstschädigung fest. Beim Phänomen „Depri-Maso“, das ich jetzt mal unter die Lupe nehme.
Das Phänomen Depri-Maso
Depri-Maso, die Namensgebung stammt von mir. Sado-Maso, eine geläufige Bezeichnung hat Pate gestanden. Masochismus behalte ich bei, den Sadismus ersetze ich durch Depression. Depression bezeichnet mehr den Zustand oder die Befindlichkeit, während Masochismus für das Verhalten steht. Lustvolle Selbstquälerei, Selbstschädigung, die mit einer gewissen Genugtuung einhergeht. Depression, Deprimiertsein, muss nicht weiter erläutert werden. – Um in den Zustand und die Verhaltensdisposition „Depri-Maso“ zu kommen, braucht man nicht unbedingt andere. Offenbar hat es aber seinen Reiz und es winkt einem ein besonderer Lustgewinn, wenn sich die Gelegenheit bietet, andere als depressiv-masochistisches Befriedigungsmittel zu gebrauchen. Durch subtile Fremdschädigung, indem man ihnen Aufmerksamkeit und Anerkennung verweigert. Nicht irgendwelchen anderen, sondern anderen Behinderten, seinesgleichen also.
Depri-Maso, das bekannte Unwesen unter uns Behinderten, das individuelle Verletzungen verursacht und in der Community Flurschäden anrichtet. Für das Verständnis krankhafter Erscheinungen ist die Frage der Ätiologie, die nach ihrer Verursachung. Depri-Maso hat keine medizinische Ursache. Das Phänomen ist gesellschaftlich verursacht, eine ableistisch induzierte Sozialpathologie. Daher könnte Bewusstwerdung – sich bei einem selbst und bei anderen depressiv-masochistischer Verhaltensweisen und deren schädliche Folgen möglichst klar vor Augen zu führen – eine Hilfe sein, sich von dem Leiden zu kurieren. Bewusste Verhaltenskuratierung in den kritischen Momenten, auch wenn es noch so schwer fällt. Der Gewinn für die Einzelnen und der Erfolg für die Behinderten-Community lohnt es.
Ich nehme an, dass den LeserInnen Depri-Maso, das bekannte Unwesen, kein unbekanntes Wesen ist und sie aufgrund eigener Erfahrungen eine Vorstellung davon haben, wovon die Rede ist. Meine persönliche Erstbegegnung mit der Depri-Maso-Phänomenologie liegt 38 Jahr zurück. 1985 leitete ich Yoga-Gruppen an einem New-Age-Zentrum, so hieß das damals. Das war in Marburg, wo es auch eine renommierte Blinden- und Sehbehindertenschule gibt, die Deutsche Blinden- Studienanstalt, Blista genannt. Eine Sozialpädagogin von dort nahm an einem der Yoga-Kurse teil und ich fragte sie, ob ich nicht auch an der Schule Yoga-Unterricht geben könnte. Das sei wohl keine gute Idee, meinte sie, die Schüler würden mich, einen selber Sehbehinderten, überhaupt nicht ernst nehmen, bei denen hätte ich null Autorität, keine fachliche Anerkennung.
Ich war zunächst perplex. Ich hatte mich bis dahin immer nur in Nichtbehinderten-Kreisen aufgehalten, von einem wechselseitigen Sich-Abwerten und Heruntermachen unter Behinderten war mir nichts bekannt. Heute bin ich stets gewärtig, unter Betroffenen auf eben dieses Verhaltensmuster zu stoßen. Kürzlich erst hatte ich in einem sich gerade konstituierenden Gruppenzusammenhang wieder das Gefühl, oh je, geht das hier auch wieder so los. Und nahm dies zum Anlass, folgenden kleinen Text zu formulieren.
Little Lives Matter
Klein und unwichtig. Von nicht wenigen weiß ich, dass sie sich so fühlen. Klein und unwichtig. Ein Scheissgefühl. Da tröstet einen dann auch nicht die Spruchweisheit, Kleinvieh macht auch Mist. Es sollte heißen, Kleinvieh ist Mist. Mist, Mist, Mist. Gegen klein ist unwichtig, hilft nur die trotzige Behauptung des Gegenteils, kleine Leben sind wichtig.
Die Little-Lives-Matter-Bewegung lässt allerdings auf sich warten. Weil diejenigen, die sie gründen oder sich ihr anschließen müssten, sich zu klein und unwichtig fühlen. Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat es da leichter gehabt. Sie konnte schon einmal auf „black is beautiful“ zurückgreifen. Während die sich klein und unwichtig fühlen, sich auch noch hässlich finden. Klein und unwichtig und hässlich sein, lässt gleich auch noch für die Zukunft schwarz sehen.
Kurz und ungut, die Sache ist mehr als ärgerlich. Mehr als ärgerlich, das Wort überärgerlich gibt es im Deutschen nicht. Deshalb hat sich auch die deutsche Außenministerin mit „mehr als ärgerlich“ behelfen müssen. Mehr als ärgerlich sei das, hat sie getwittert, dass es mit ihrem Flug wegen der Landeklappen nicht geklappt hat. Mehr als ärgerlich obendrein, sage ich, weil zweimal hintereinander achtzig Tonnen Kerosin ins Meer gekippt werden mussten, damit die Maschine notlanden konnte. Zweimal achtzig Tonnen für nichts und wieder nichts. Den CO2-Fußabdruck möchte ich nicht haben! Man kann sich die Ministerin nicht mehr anders als behindert vorstellen, Baerbock mit Klumpfuß. Willkommen im Club, die ableistische Pointe kann ich mir gerade noch verkneifen. So etwas zu schreiben, wäre mehr als ärgerlich.
Klein und unwichtig. Die echt Behinderten, Ausnahmen bestätigen die Regel, sind klein und unwichtig auch, was ihren ökologischen Fußabdruck angeht. Auch in dieser Hinsicht verläuft ihr kleines Leben beinahe spurlos. Erst recht verglichen mit den Großen und Wichtigen auf dem Erdenrund. Was hier ausnahmsweise einmal erfreulich ist, einen kleinen und unwichtigen CO2- Fußabdruck haben, lässt bei den sich klein und unwichtig Fühlenden trotzdem keine rechte Freude aufkommen. Es ist verhext.
Auf alle Fälle ausweglos. Die Parole Little Lives Matter macht es nicht better, fühlt sich einer oder eine so richtig klein und unwichtig. Untereinander wachen sie eifersüchtig darüber, dass keiner und keine sich auf einmal auch nur ein klein wenig weniger klein und unwichtig fühlt als man selber. Und so hüten sie sich alle davor, einem oder einer anderen von ihnen etwas zu geben, was diese daraufhin auch bloß ein klein wenig weniger klein und unwichtig erscheinen lassen könnte. Wenn schon klein und unwichtig, so sollen auch alle Kleinen und Unwichtigen gleich klein und unwichtig sein und bleiben. Daher rührt der Eindruck, bewegt man sich in einem Kreis von sich klein und unwichtig Vorkommenden: der Eindruck, als sagten sie einander ständig, von mir kriegst du nichts, bilde dir bloß nichts ein! Nicht die kleinste positive Rückmeldung, höchstens eine negative, sozusagen als Tritt vors Schienbein. Wodurch sich solche Kreise, wo niemand jemand anderem etwas gibt und gönnt, auch gern wieder auflösen.
Peer-Support wäre schön
Einander unterstützen lautet die in den Binnenraum der Community gerichtete Parole des Behindertenaktivismus. Peer Support – psychologisch und praktisch, ideell und materiell – wird gern und häufig beschworen, dennoch ist Rivalität und Selbstsabotage häufig genug traurige Realität. Da darf es dann schon einmal als Erfolg verbucht werden, wenn ein langjähriger Aktivist rückblickend auf den immer noch bestehenden organisatorischen Zusammenhang befriedigt feststellt, immerhin habe man sich „nicht zerfleischt“. – In Anbetracht dieses doch ernüchternden Befundes mag für uns Behinderte ein gewisser Trost darin liegen, zu erfahren, dass es innerhalb der Communities anderer marginalisierter und benachteiligter Minderheiten und zwischen deren AktivistInnen bisweilen nicht besser bestellt ist.
Die Theaterregisseurin Simone Dede Aydi sprach auf einem Diskussionspodium der 22. Schillertage in Mannheim in diesem Jahr von einem „empathy gab“, einer Einfühlungslücke also, die darin bestünde, „dass wir tatsächlich weißen Menschen gegenüber mehr Empathie empfinden als people of colour oder gar schwarzen Menschen gegenüber“. Und dann ihre für mich und den vorliegenden Kontext interessante Ergänzung: „Es sind nicht nur weiße Menschen, bei denen das so ist, selbst schwarzen Menschen fällt es schwerer mit anderen schwarzen Menschen mitzufühlen, was mit dem kolonialen Erbe zu tun hat, mit faschistischen Erzählungen darüber, wer schwarze Menschen sind.“ – Analog dazu haben wir behinderte Menschen die ableistischen Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft über uns verinnerlicht und leiden bis heute an den negativen Stereotypen und der Zerstörung unseres Selbstbewusstseins. Die Selbstabwertung ist uns gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen, so dass wir sie sogar unbewusst an Mitbetroffenen vollziehen.
Und wie die feministische und antirassistische Aktivistin Dede Aydi davon spricht, den Slogan „Black lives matter“ auch sozusagen intern, unter den Diskriminierten selber, zu beherzigen und in ihrem Verhalten zueinander zum Ausdruck zu bringen, „dass schwarze Leben genau so viel wert sind wie weiße Leben“ – ebenso muss in der Behinderten-Community das entsprechende „blind and other disabeld lives matter“ endlich auch im Umgang miteinander verwirklicht werden. Alles andere ist Autodestruktion. Punkt.
Oder nee, noch nicht Punkt. Fühlt sich nicht gut an, mit Selbstzerstörung als zweitletztem Wort zu enden. Es empfiehlt sich, wie der Inklusator Sascha Lang es bei seinen Igel-Podcasts hält, mit einer positiven Nachricht zu schließen. – Raul Krauthausen, der sich von den Mainstreammedien mitunter wie der „Behinderten-Grüßonkel“ behandelt fühlt, sagte unlängst in einem Podcast: Die Medien fragten stets nur ihn an wegen einer Stellungnahme oder einem Gespräch zu Behindertenthemen. Sie wollten niemand anderen. Ein paarmal habe er sie dadurch ausgetrickst, dass er seine Teilnahme von der Bedingung abhängig machte, dass außer ihm auch noch ein anderer Aktivist oder eine Aktivistin teilnehme. Und dann habe er in dem verabredeten Gespräch oder während der Aufnahme selber geschwiegen und dem oder der anderen das Wort überlassen. Also der nicht prominenten Aktivistin oder dem nicht so bekannten Community-Vertreter, die der Sender oder das Medium nicht haben wollte. Ein cleveres Manöver und ein schönes Beispiel für intelligentes Einander-Unterstützen.