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Standing Ovations in Genf für Theresia Degener – nicht für Deutschland

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Berlin (kobinet) Nahezu jeder behindertenpolitische Akteur bzw. jede Akteurin hat sich zum Staatenberichtsverfahren in Genf und den gerade veröffentlichten Abschließenden Bemerkungen geäußert. Da darf auch der kobinet-Chronist Dr Martin Theben aus Berlin mit seinem Kommentar nicht fehlen. Hier sein Aufschlag:



Kommentar von Dr. Martin Theben

Es war jener eine Moment, als der UN-Fachausschuss stehende Ovationen dar brachte: da hätte man den Eindruck gewinnen können, die Bundesrepublik Deutschland habe es endlich geschafft und die UN-Behindertenrechtskonvention vollständig umgesetzt. Doch weit gefehlt. Die Delegierten, soweit sie konnten, erhoben sich am 30 August 2023 ungefähr zur Halbzeit der Anhörung zu Ehren ihrer ehemaligen Vorsitzenden Professor Dr Theresia Degener. Theresia Degener, die, ausgerechnet, 1981 als Protest gegen das internationale UNO Jahr der Behinderten in der Dortmunder Westfalenhalle mit dem Fuß aufstampfte und so den Takt für eine grundlegende neue Sicht insbesondere auf die Rechte von behinderten Frauen vorgab. Theresia Degener, die nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften unter anderem in Berkeley in den USA eine glanzvolle Karriere als Juristin startete, als Mitglied der deutschen Delegation maßgeblich die Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention prägte, seit 2011 als stellvertretende Vorsitzende Mitglied des UN-Fachausschusses war und diesem schließlich von 2017 bis 2018 vorsass. Nun kehrte sie als Professorin für Recht und Disability Studies an der Evangelischen Hochschule Rheinland- Westfalen- Lippe in Bochum und Leiterin des dortigen Zentrums für Disabilities Studies zum krönenden Abschluss des Semesters mit ihren Studierenden an ihre alte Wirkungsstätte zurück. Und wenn jemand diese Ovationen an diesem Tag verdient hätte, dann sie. Man muss es so deutlich aussprechen: Ohne Theresia Degener gäbe es voraussichtlich in der Bundesrepublik keine UN-Behindertenrechtskonvention. Das sah immerhin auch die Bundesrepublik Deutschland so und verlieh ihr durch die Hand des damaligen Bundespräsidenten Köhler 2005 das Bundesverdienstkreuz.

Nachdem Theresia Degener durch die Vorsitzende Gertrude Oforiwa Fefoame aus Ghana mit warmen und sehr persönlichen Worten gewürdigt wurde, kehrte der Ausschuss dann zur Tagesordnung zurück. Zwei Tage lang wurden die Mitglieder der offiziellen Delegation der Bundesrepublik Deutschland, angeführt durch den Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Dr. Rolf Schmachtenberg, auf Herz und Nieren in Bezug auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geprüft. Und der anschließende Befund, nunmehr auch niedergelegt in den seit September veröffentlichten Abschließenden Bemerkungen, ist schlecht.

Immer wieder erinnerte der Ausschuss an seine Empfehlungen aus dem Jahr 2015, um so zum Ausdruck zu bringen, dass die Bundesrepublik ihre Hausaufgaben nicht gemacht habe. Diesen Eindruck versuchten die offiziellen Vertreter*innen natürlich zu zerstreuen. Gegen den immer wieder geäußerten Vorhalt der Ausschussmitglieder*innen, Deutschland leiste sich noch immer zu viele Sondereinrichtungen, konterten diese mit dem Argument der Wahlfreiheit. Viele Menschen mit Behinderungen entschieden sich ganz bewusst für besondere Wohnformen, Förderschulen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, da sie die dort vermeintlich gebotene Sicherheit zu schätzen wüssten. Da platzte dann vielen Ausschussmitgliederinnen beispielsweise der Mexikanerin Amalia Gamio oder Miyeon Kim aus Südkorea doch sicht- und hörbar der Kragen.

Viele stellten dann gar keine Fragen mehr, sondern äußerten in ihren kurzen Beiträgen schlicht ihren Unmut über so viel Zynismus. Die stellvertretende Vorsitzende aus Israel Odelia Fitoussi brachte es auf den Punkt: Wahlfreiheit bedeutet die Wahl zwischen gut und besser und nicht zwischen schlecht und ganz schlecht! Und zur traurigen Wahrheit zählt auch: Das Elternwahlrecht bei der schulischen Inklusion oder das Wunsch- und Wahlrecht im Teilhaberecht stehen häufig noch immer unter einem Finanzierungsvorbehalt bzw. dem Dogma der Wirtschaftlichkeit.

Gegen Ende der zweitägigen Anhörung wurde es dann aber wieder ein klein wenig versöhnlicher. Der Ausschuss dankte den offiziellen Vertreter*innen, aber auch den ebenfalls angereisten Vertreter*innen der Nichtregierungsorganisationen, für ihre engagierten Vorträge und wiesen dann auf ihre Abschließenden Bemerkungen hin, die sie als Blaupause zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verstanden wissen wollen.

Das Bundesverfassungsgericht misst der Arbeit des UN-Fachausschusses zwar eine besondere, aber keine rechtsverbindliche Bedeutung, bei. Wo es um die Auslegung des Grundgesetzes geht, mag dies noch stimmen. Doch wenn das Gericht, wie in seiner Entscheidung zum Wahlrechtsausschluss vom 29. Januar 2019 2 BvC 62/14, die Auffassung vertritt, der Ausschuss habe kein Mandat zur Fortentwicklung des Rechts der UN-BRK, da sich sonst andere Staaten danach richten würden, ist dies gleichermaßen fraglich wie gefährlich. Jedenfalls könnte auch diese Interpretationshilfe aus Karlsruhe der Grund sein, dass es in manchen Gerichtssälen und Verwaltungsstuben nicht so recht vorangeht mit der Inklusion. Vielleicht sollte der Ausschuss mal Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts zu einem Meinungsaustausch nach Genf einladen. Vielleicht spendet er dann nach einer solchen Zusammenkunft alsbald auch Standing Ovations für die Bundesrepublik Deutschland.

Bundesverfassungsgericht – Entscheidungen – Wahlrechtsausschlüsse für Betreute in allen Angelegenheiten und wegen Schuldunfähigkeit untergebrachte Straftäter verfassungswidrig