
Foto: Gabriele Scheibner
Winsen a.d. Aller (kobinet) Eine grundlegende Reform des Systems der Werkstätten für behinderte Menschen tut dringend Not. Dies wurde auch bei der Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention deutlich. Nach Ansicht von Ulrich F. Scheibner von der Virtuellen Denkwerkstatt (VDW) muss der Gesetzgeber in einem ersten Schritt endlich dafür sorgen, dass alle „Werkstätten“-Träger ihre Jahresergebnisse verständlich, durchschaubar und für „Werkstatt“-Räte nachvollziehbar publizieren. "Sie müssen nachweisen, ob und wie sie einen Schwerpunkt auf die Lohnerwirtschaftung gelegt haben", fordert er im Interview mit kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul im Hinblick auf aktuelle Forderungen, den Grundbetrag in Werkstätten für behinderte Menschen steuerfinanziert sicherzustellen.
kobinet-nachrichten: Derzeit wird immer wieder die Forderung erhoben, den Grundbetrag in Werkstätten für behinderte Menschen steuerfinanziert anzuheben, um das Werkstattentgelt von derzeit durchschnittlich ca. 225 Euro im Monat für beschäftigte in Werkstätten zu verbessern. Was halten Sie von dieser Forderung?
Ulrich F. Scheibner: Ja, das Thema ist aktuell und dazu gibt es derzeit auch eine Petition der Caritas-„Werkstatt“-Räte in Nordrhein-Westfalen. Dort wird die Finanzierung des Grundbetrags beim „Werkstatt“-Lohn im Arbeitsbereich von 126 Euro aus öffentlichen Mitteln gefordert. Das klingt auf den ersten Blick, als sollte man diese Petition unterstützen. Aber ich lehne diese Forderung der Steuerfinanzierung des Grundbetrages ab, bei allem Verständnis für die dringend notwendige Erhöhung der „Werkstatt“-Löhne.
kobinet-nachrichten: Warum genau?
Ulrich F. Scheibner: Erstens: Es ist wenig solidarisch, wenn nur Caritas-„Werkstatt“-Räte eine solche Petition einreichen und dann auch noch ihre NRW-Aktion unter Caritas-Vorzeichen öffentlich machen lassen.
Zweitens: Es ist wenig überzeugend, dass die Caritas-„Werkstätten“ diesen Grundbetrag, der eigentlich schon seit 2019 hätte gelten sollen, aber auf das Jahr 2023 stufenweise verschoben wurde (vgl. § 241 Abs. 9 SGB IX), nicht erwirtschaften können. Die Jahresabschlüsse sagen etwas anderes.
Drittens: Im gesetzlichen Bundesanzeiger müssen GmbH-„Werkstätten“ ihren Jahresabschluss veröffentlichen. Von den 12 Caritas-„Werkstätten“ in Nordrhein-Westfalen, die im amtlichen Verzeichnis zu finden waren, haben aber nur vier ihren Jahresabschluss veröffentlicht. Die anderen 8 sind entweder keine GmbHs oder sie sind in anderen Konzernabschlüssen der Caritas untergebracht. Das kann man am amtlichen Verzeichnis nicht erkennen. Hier herrscht also eine eklatante Intransparenz.
kobinet-nachrichten: Was lässt sich aus den veröffentlichten Jahresabschlüssen ablesen?
Ulrich F. Scheibner: Erkennen kann man aus den veröffentlichten Jahresabschlüssen, dass alle vier Caritas-GmbH-„Werkstätten“ Gewinnrücklagen publiziert haben.
kobinet-nachrichten: Wie hoch sind diese?
Ulrich F. Scheibner: Diese liegen zwischen 1,9 Millionen Euro und 34 Millionen Euro.
kobinet-nachrichten: Nicht nur die Organisationen der Werkstatträte fordern höhere Werkstattlöhne. Immer häufiger stellen auch einzelne Werkstatträte solche Forderungen auf. Was halten Sie von der Forderung, den sogenannten Grundbetrag von zur Zeit 126 Euro aus Steuermitteln zu finanzieren?
Ulrich F. Scheibner: Es ist gut, dass sich die „Werkstatt“-Räte auf lokaler und regionaler Ebene selbst engagieren und dieses zentrale Thema nicht allein einigen Funktionären überlassen. Bei durchschnittlich 160 Euro Taschengeldlohn im Monat, den die „Werkstätten“-Eigner aus ihren Betriebsergebnissen zahlen, ist dieses Engagement dringend nötig. Dieser Lohn liegt ja nur wenige Euros über dem gesetzlich vorgeschriebenen Grundbetrag von zur Zeit 126 Euro. Die staatliche Finanzierung dieses niedrigen Grundbetrages ist keine Lösung.
kobinet-nachrichten: Warum nicht?
Ulrich F. Scheibner: Erstens ringen zahlreiche „Werkstatt“-Beschäftigte und ihre Räte um einen existenzsichernden Lohn. Da ist die Forderung nach staatlich finanzierten 126 Euro ein unsolidarischer Rückschritt.
Der Caritasverband für das Bistum Essen stellt sich zum Beispiel hinter diese Forderung der „Werkstatt“-Räte in den Caritaseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen. Sie wollen eine staatliche Grundbetragsfinanzierung. Das geht in die falsche Richtung. Die Kolleginnen und Kollegen sollten sich zumindest mit dem zweiten Zwischenbericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales über die Lohnverbesserungen in „Werkstätten“ befassen. Der ist längst im Internet veröffentlicht.
Zweitens: Offensichtlich sind die „Werkstatt“-Räte in diesen Caritas-„Werkstätten“ über die wirtschaftliche und finanzielle Lage ihrer „Werkstätten“ schlecht informiert. Da scheint es zu viele Versäumnisse seitens der „Werkstatt“-Leitungen zu geben und zu viel Gutgläubigkeit bei den Räten.
Im Bundesanzeiger ist zum Beispiel nachzulesen, dass die „Caritas Betriebs- und Werkstätten GmbH“ in Eschweiler in ihrem zuletzt veröffentlichten Jahresabschluss gleich drei Gewinnrücklagen ausweist: über 700 Tausend Euro gesetzliche, über 27 Millionen Euro sogenannte satzungsgemäße und fast 3 Millionen Euro „andere Gewinnrücklagen“. Bei diesem Finanzpolster werden doch wohl 126 Euro Grundbetrag bezahlbar sein, oder?
Drittens: Im gesetzlichen Amtsblatt des Bundesanzeigers müssen GmbH-„Werkstätten“ ihren Jahresabschluss veröffentlichen. Von den 12 Caritas-„Werkstätten“ in Nordrhein-Westfalen, die im amtlichen Verzeichnis der Bundesagentur für Arbeit zu finden waren, haben aber nur vier ihren Jahresabschluss veröffentlicht. Die anderen acht sind entweder keine GmbHs, oder sie sind in anderen Konzernabschlüssen der Caritas untergebracht. Das kann man am amtlichen Verzeichnis nicht erkennen. Hier herrscht also eine eklatante Intransparenz.
Kein Wunder, wenn „Werkstatt“-Räte auf den Gedanken kommen, sie müssten ihren „Werkstatt“-Trägern finanziell beistehen, damit sie „Werkstatt“-Löhne auszahlen können. Doch allein diese vier GmbHs in Caritas-Trägerschaft weisen in ihren Jahresabschlüssen gemeinsam eine Gesamtsumme an Gewinnrücklagen in Höhe von über 50 Millionen Euro aus. Intransparenz und Informationsmängel sind im „Werkstätten“-System strukturbedingt.
kobinet-nachrichten: Was schließen Sie daraus im Hinblick auf die aktuelle Situation der Werkstattentgelte?
Ulrich F. Scheibner: Der Gesetzgeber muss endlich dafür sorgen, dass alle „Werkstätten“-Träger ihre Jahresergebnisse verständlich, durchschaubar und für „Werkstatt“-Räte nachvollziehbar publizieren. Sie müssen nachweisen, ob und wie sie einen Schwerpunkt auf die Lohnerwirtschaftung gelegt haben. Das schreibt das Recht übrigens vor. Wer sich für diese Rechtslage interessiert, sollte unbedingt mal in den § 12 der Werkstättenverordnung und in den § 5 der Werkstättenmitwirkungsverordnung schauen.
kobinet-nachrichten: Sie würden also eine solche Petition nicht unterschreiben?
Ulrich F. Scheibner: Auf keinen Fall. Denn den „Werkstatt“-Räten, die sich für einen echten Lohn einsetzen, mit dem man angemessen existenzsichernd leben kann, darf man nicht mit Kleingeldforderungen in den Rücken fallen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf ein Foto aus einer Caritas-Werkstatt in Niedersachsen hinweisen, das ich kurz beschreibe: Man sieht sechs Menschen mit Beeinträchtigungen an Nähmaschinen und erkennt ihr fleißiges Arbeiten. Es ist ein Reihen-Arbeitsplatz in einer Doppelreihe. Sie sitzen hintereinander, über ihre Arbeit gebeugt wie in den Nähereien in Bangladesch und nähen Corona-Masken wie am Fließband. Im Hintergrund unterhalten sich Personen eines Fernsehteams. Zu finden ist das Foto im Internet: https://t1p.de/CV-WfbM-2020. Was dort nicht zu finden ist: der Jahresabschluss der Caritas-„Werkstatt“ mit ihren Gewinnrücklagen. Die Gretchenfrage: Haben die Näherinnen und Näher keinen vernünftigen Lohn verdient?
kobinet-nachrichten: Wie sind die Reaktionen, wenn Sie dieses Foto bei Ihren Vorträgen zeigen?
Ulrich F. Scheibner: Die häufigste Frage ist: „Was verdient man durch diese Arbeit?“ Es ist eine Schande, dass der Staat es immer noch zulässt, dass Menschen in deutschen „Werkstätten“ bezahlt werden wie die ausgebeuteten Näherinnen und Näher in Bangladesch. In Niedersachsen übrigens betrug der monatliche Durchschnittslohn 2021 nur 184 Euro.
Man fragt sich: Was machen die „Werkstätten“ mit ihren Gewinnen und Gewinnrücklagen? Und diejenigen „Werkstätten“-Eigner, die Verluste einfahren und dennoch Gewinnrücklagen ausweisen, müssen sich fragen lassen: Warum machen Sie Verluste? Auf wessen Kosten machen Sie Verluste? Wie wichtig ist Ihnen der „Werkstatt“-Lohn? Vor allem: Wie informieren Sie die „Werkstatt“-Räte?
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.
Sehr geehrter Herr Scheibner, ich unterschreibe sofort ihre These, bzw. ihren Ansatz, dass die „strukturbedinge Intransparenz und Informationsmängel im Werkstätten-System“ definitiv eines der Kernprobleme ist.
Die Forderungen zur Steuerfinanzierung des Grundbetrages haben aber grundsätzlich ihre Daseinsberechtigung: Ja, die Werkstatträte fordern selbstverständlich eine grundlegende Reform des Entgelt-Systems, keine kleinen Stellschrauben und einen „unsolidarischen Rückschritt“ im Almosen-Bereich.
Aber: Die Forderung, den Grundbetrag aus Steuergeldern zu übernehmen ist bedeutend älter und gerade in der Rückschau (Corona, Ukraine-Krieg, Energie-Krise, usw.) eine vielfach wiederholte Not- und Sofort-Maßnahme BIS eine weitreichendere Reform greifen würde. Die LAG der Werkstatträte in NRW hat beispielsweise in ihrem Positionspapier Arm trotz Arbeit im September 2021 (!) bereits exakt diese Forderung in den Raum geworfen. Die Diakonie erneuert (Verzweifelt? Wütend?) eben diese Forderung erneut; das ist kein Rückschritt oder ein Unter-Wert-Verkaufen, sondern der erneute Hilferuf, bis Zitat der Petition: „…bis die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Entgeltstudie abgeschlossen ist und ein neues Entgeltsystem beschlossen wird.“
Der schwarze Peter („wer zahlt die Zeche?!“) wird von Bund und Ländern seit Jahren hin- und hergeschoben, die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Studie werden jedoch eindeutig sein – die Frage ist und bleibt seit Monaten, wenn nicht seit anderthalb Jahren: Kann und wird die Bundesregierung nicht nur auf die Not (formuliert in Positionspapieren, Petitionen und unzähligen Forderungen und Bittstellergesprächen) reagieren, sondern ein nachhaltiges Entgeltsystem schaffen, dass die Beschäftigten aus der Armut und der Grundsicherung herauszieht? Die Grundbetragssteigerungen im Zuge des BTHGs („ein Zehner hier, ein Zehner da“) dürfen sich in dieser Form (!) und Höhe (!) nicht wiederholen!
Transparanz und Systemöffnung kann selbstverständlich dem großen Schritt in die richtige Richtung einen deutlichen Schub geben!