BERLIN (kobinet) Die Möglichkeiten, ohne Barrieren mit der Bahn zu reisen, verbessern sich. Der Zug zur Barrierefreiheit ist unterwegs, das ist nicht zu bestreiten. "kobinet" hat erst gestern darüber berichtet, dass im Jahr 2022 an 720 Verkehrsstationen bauliche Maßnahmen durchgeführt, wodurch die Barrierefreiheit an 1.110 Bahnsteigen verbessert wurde. Gleichzeitig sollte man nicht übersehen, dass dieser Zug durchaus nicht mit Vollgas unterwegs ist. Unsere Redaktion wurde kürzlich eingeladen, sich auch dafür ein Beispiel anzusehen.
Dabei handelt es sich um den Bahnhof Jeßnitz (Anhalt) in Sachsen-Anhalt. Wegen umfangreicher Bauarbeiten wurde hier die Strecke von Wolfen nach Dessau von Januar bis April 2023 gesperrt. Im Zuge dieser Bauarbeiten wurde das alte Empfangsgebäude abgerissen und die Bahnsteigkante erneuert. Die neuen Bahnsteige machen mit ihren Blindenleit- und Taststeifen einen guten barrierefreien Eindruck. Allerdings ist der gesamte Bahnhof weiterhin nicht barrierefrei erreichbar.
Hauptproblem: Die Bahnsteige der in die gegensätzliche Fahrtrichtung führenden Gleise habe keine direkte Verbindung. Um die andere Seite erreichen zu können, muss eine Fußgängerbrücke mit Treppen genutzt oder ein Umweg von etwa 1,5 Kilometer Strecke in Kauf genommen werden.
Diese Fußgängerbrücke steht schon lange dort und ebenso lange gibt es auf der Seite der Stadt Bitterfeld-Wolfen eine gut befahrbare Schräge, auf der Seite der Stadt Raguhn-Jeßnitz jedoch nur Treppen. Und seit mehr als zehn Jahren gibt es hier die Forderung, das so zu verändern, dass der Übergang mittels Schrägen auf beiden Seiten genutzt werden kann.
Die umfangreichen Bauarbeiten hatten zu Beginn des Jahres die Hoffnung genährt, dieser Wunsch würde nun Wirklichkeit werden. Ist er aber nicht. Und das war auch nicht vorgesehen, wie wir von der Nahverkehrsgesellschaft Sachsen-Anhalt (NASA) erfahren haben. Ziel der Bauarbeiten waren nach Auskunft der NASA die Ertüchtigung der Streckeninfrastruktur. Dazu gehörten die Beseitigung der Langsamfahrstelle im Bereich Jeßnitz und die Anhebung der Streckengeschwindigkeit auf 160 km/h für den Abschnitt Wolfen – Dessau. In dem Zusammenhang wurden, um weitere Sperrungen zu vermeiden, während der Baumaßnahme die Bahnsteigkanten erneuert und das alte Empfangsgebäude abgerissen. Eine Modernisierung der Schnittstelle, so die NASA, erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt.
Die Herrichtung der barrierefreien Zugänglichkeit der bestehenden Fußgängerbrücke ist, wie der Sprechen der NASA gegenüber der kobinet-Redaktion erklärt, auch aus ihrer Sicht dringlich. Allerdings ist hierfür erst zu klären, wem die Brücke schlichtweg gehört und dann als Baulastträger auftritt. Dies ist bislang zwischen den betroffenen Kommunen und der DB AG noch nicht abschließend geklärt. Eine Förderung der dann erforderlichen Baumaßnahmen durch das Land ist möglich und würde gegebenenfalls im Zuge der Umsetzung der Schnittstellenmaßnahme erfolgen.
Diese formale Frage ist noch in der juristischen Prüfung. Nach Abschluss der Prüfung können weitere Maßnahmen zur barrierefreien Erschließung der Jeßnitzer Seite erfolgen. Darüber hinaus laufen aktuell Abstimmungen zur Veräußerung der Flächen auf der Seite der Stadt Raguhn-Jeßnitz. Beide Kommunen (Stadt Raguhn-Jeßnitz und Bitterfeld-Wolfen) wollen im Rahmen des Schnittstellenprogramms Verbesserungen vornehmen, eine Zeitschiene ist im Moment in der Abstimmung.
Praktisch ändert das hinsichtlich dieser Haltestellte im Bezug auf die Barrierefreiheit vorerst somit noch nichts entscheidend – wer auf der Raguhn-Jeßnitzer Seite wohnt, kann auch als Rollstuhlnutzer, mit einem schweren Koffer, einem Kinderwagen, oder ähnlichem ohne Barrieren den Zug in Richtung Dessau nutzen. Möchte dieser Reisende jedoch eine Zug in die Gegenrichtung nach Halle oder Leipzig nutzen, dann ist der dafür erforderliche Bahnsteig nur nach 1,5 Kilometer Fußweg zu erreichen. Das Gleiche gilt für die Gegenrichtung umgekehrt. Wer abends mit dem Zug aus Leipzig kommt, aber in Bitterfeld-Wolfen wohnt, muss erst einmal 1,5 Kilometer laufen, um auf die Gleisseite seines Wohnortes zu kommen. Bahnreisen bleiben hier eben vorerst mit langen Fußwegen verbunden. Zugleich zeigen unsere Nachfragen: Die Barrierefreiheit soll auch hier kommen, aber eben nicht gleich und vermutlich doch erst viel später.