
Foto: Paul-Philipp Braun
HALBERSTADT (kobinet) Am Ende der vergangenen Woche hatte das ABiD-Institut "Behinderung und Partizipation" ein zweites Kolloquium zu der begonnenen Arbeit zur Erforschung der Geschichte des Lebens von Menschen mit Behinderungen durchgeführt. Bei dieser Veranstaltung stand die Rolle von Menschen mit Behinderungen bei der Wahl der Volkskammer am 18. März 1990 im Mittelpunkt. Diese Veranstaltung war somit ein weiterer Schritt bei der Forschungsarbeit zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Die kobinet-Redaktion hatte die Möglichkeit, über diese Arbeit mit dem IB&P-Vorsitzenden Dr. Karsten Lippmann zu sprechen.
kobinet: Nach einem Kolloquium im Gedenken an Ilja Seifert nun eine weitere Veranstaltung zur Rolle von Menschen mit Behinderungen bei der Volkskammerwahl 1990 – das alles ist vermutlich der Anfang von einem viel umfangreicheren Vorhaben. Kann man etwas dazu sagen, wie dieser Beginn einzuschätzen ist?
Karsten Lippmann: Sie haben völlig Recht. – Wenn man aus der ganz hohen Überblicksperspektive auf die Dinge schaut, dann geht es darum, eine Geschichte der Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu schreiben. Erst einmal „ganz bescheiden“ [lacht] für die letzten rund 30 Jahre.
Uns ist allen bewusst, dass es ein langer Weg zu diesem Ziel sein wird. Aber auch lange Wege beginnen mit dem ersten Schritt. Und durch die von Ihnen genannten Kolloquien konnte das IB&P nun sogar schon zwei Schritte machen. Insofern waren die Veranstaltungen ein verheißungsvoller Auftakt.
kobinet: Es gibt bereits einige Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Wiedervereinigung – welche Rolle spielt dabei insgesamt die Geschichte jener Menschen, die mit Behinderungen leben müssen ?
Karsten Lippmann: Eine äußerst geringe. Aus der Perspektive derer, die selbst betroffen sind, ist das ein schmerzhafter Befund.
Ilja Seifert sah das ebenso und der ABiD hat sich daher bemüht, seine Anfangsgeschichte in drei Bändchen zu dokumentieren, die auch heute noch lesenswert sind.
Das Haupterfordernis in jenen Tagen des Umbruchs war es aber, Geschichte zu gestalten, nicht, sie zu schreiben.
kobinet: Ist es also notwendig, die Geschichte des Lebens mit Behinderung sowie der Entwicklung der Selbsthilfe und Selbstvertretung unbedingt weiter aufzuarbeiten ?
Karsten Lippmann: Unbedingt. – Denn das Gestalten und das Schreiben von Geschichte bedingen sich gegenseitig: Die Geschichtsschreibung muss das Geschehene reflektieren. Eine solche Reflexion wäre aber sinnlos, bestünde ihr letztes Ziel nicht darin, Folgerungen für das zukünftige Handeln abzuleiten.
Die Frage, was der Behindertenbewegung und ihren Akteuren in der Vergangenheit gelungen und was nicht, ist kein Selbstzweck und auch kein besserwisserisches Zu-Gericht-sitzen. Es geht immer darum, zu erkennen, wo vielleicht so erfolgreiche Vorgehensweisen entwickelt worden sind, dass wir sie jetzt wieder beleben können, und wo etwas weiterentwickelt und verbessert werden muss.
kobinet: Worauf wird sich das Institut „Behinderung und Partizipation“ bei der weiteren Erforschung der Geschichte des Lebens mit Behinderung vor allem stützen ?
Karsten Lippmann: Schon aufgrund der Geschichte des Instituts ist hier der Nachlass Ilja Seiferts für uns von entscheidender Bedeutung. – Aber auch abgesehen davon war Dr. Seifert zweifellos eine der prägenden Gestalten in der deutschen und europäischen Behindertenpolitik der letzten Jahrzehnte. Seinen Nachlass mit den Mitteln der Geschichtsschreibung zu bearbeiten, wird also unsere wichtigste Aufgabe sein.
kobinet: Die ersten beiden Kolloquien sind sicherlich nur ein Anfang der vorgesehenen Arbeit. Können Sie bitte etwas zu den nächsten wichtigsten Vorhaben sagen ?
Karsten Lippmann: Zum Beispiel planen wir noch für dieses Jahr eine Veranstaltung über Ilja Seifert als Lyriker.
Eine noch intensivere Tätigkeit des IB&P wäre vorstellbar und sicher auch wünschenswert. Wie Ihnen aber sicherlich bekannt ist, arbeiten wir alle ausschließlich ehrenamtlich für das Institut. Das begrenzt die Möglichkeiten dann doch.
kobinet: Der ABiD wird von einigen als Verband der politischen Linken gesehen – ist das Vorhaben zur Erforschung der Geschichte eines Lebens mit Behinderung in Deutschland ein „linkes“ Projekt oder sind auch andere politische Orientierungen zur Mitarbeit eingeladen ?
Karsten Lippmann: [lacht] Das mit dem ‚Verband der politischen Linken‘ lassen sie besser nicht meinen Freund Marcus Graubner hören. Er ist der ABiD-Vorsitzende, und nicht nur Mitglied des IB&P-Vorstandes, sondern auch der CDU.
Spaß beiseite: In Ihrer Frage haben Sie ja selbst gesagt, dass es um die Erforschung des Lebens von Menschen mit Behinderungen geht. Und dieses Leben ist an sich weder „links“, noch „rechts“. – Die einzelnen Menschen haben ihre politischen Einstellungen. Diese sind ganz unterschiedlich. Solange sie die Würde des Menschen achten, sind sie uns nicht nur alle willkommen, sie sind für ein solches Projekt geradezu notwendig: Nur wenn alle Perspektiven einfließen, kann schließlich ein Abbild des realen Lebens entstehen.
kobinet: Vielen Dank für die interessanten Antworten auf diese Fragen. Auch im Namen meiner Redaktionskollegen möchte ich mich herzlich dafür bedanken. Wir werden diese Arbeit gern verfolgen und weiter berichten. Zugleich wünschen wir dem ABiD-Institut viel Erfolg bei diesem Projekt.